Debatte Rechtspopulismus in Europa: Die linke Gretchenfrage

Identität oder Gleichheit? Zu einer linken Politik gehört immer beides. Eine Replik auf Winfried Thaas taz-Debattenbeitrag.

Frauen of Colour demonstrieren gegen Rassismus und für Frauenrechte

Soziale- und Geschlechter-Gerechtigkeit sind kein Widerspruch Foto: ap

Identitätspolitik ist zur Chiffre für vieles geworden. Sie kann als selbst­ermächtigendes Vorhaben begriffen werden, aber auch als postmoderne Leerformel, in der, frei von gesellschaftlicher Anschlussfähigkeit, der Lifestyle queerer, schwarzer, feministischer und anderer Personen mit akademischem Hintergrund verhandelt wird.

Identitätspolitik glitzert gefährlich im Großstadtsonnenschein. Von ihr scheinen allerhand Gefahren auszugehen: für die Sozialdemokratie, für Marginalisierte, für AfD-Wähler. Wie, so lautet die bange Frage, halten wir's mit der Identitätspolitik? Und was würde Rosa Parks dazu sagen?

Ihren Kampf gegen die rassistischen Gesetze in den USA der 1950er Jahre würde sicherlich niemand als „postmodern“ werten, wogegen dieses Verdikt für Auseinandersetzungen um Sprache, Räume und Repräsentation sehr schnell benutzt wird.

Von Queerness bis Ungleichheit

In seinem Beitrag „In die Identitätsfalle getappt“ machte Winfried Thaa kürzlich an dieser Stelle darauf aufmerksam, dass Antidiskriminierungspolitik durchaus kompatibel ist mit der Unterordnung der Gesellschaft unter die Zwänge der kapitalistischen Ökonomie. Thaa kritisiert zu Recht die Entfernung vieler akademischer Linker vom Arbeitermilieu. Ähnlich argumentieren Dirk Jörke und Nils Heisterhagen in der FAZ, wenn sie die Problematik von Identitätspolitik in ihrer Anschlussfähigkeit an eine neoliberale Agenda sehen.

Eine solche Argumentation schießt jedoch übers Ziel hinaus, wenn sie behauptet, die Linke habe durch ihren Fokus auf „postmoderne Identitätspolitik“ die Frage der sozialen Gerechtigkeit vernachlässigt und so Marginalisierte den Rechten in die Arme getrieben. Dem liegt eine fragwürdige Gleichsetzung zugrunde: Man verwechselt Lann Hornscheidt (kritisiert zweigeschlechtliche Anreden als respektlos gegenüber queeren Personen) mit Wolfgang Clement (definierte soziale Gerechtigkeit als „produktive Ungleichheit“) – oder wirft sie zumindest in einen Topf.

Warum sollen ausgerechnet die (immer noch in der Minderheit befindlichen) Linken, die sich um Feminismus und Antirassismus bemüht haben, verantwortlich für Hartz IV und die Neoliberalisierung der Sozialdemokratie sein? Denn Letztere ist mit Sicherheit weit mehr als eine postmoderne akademische Linke dafür verantwortlich, wenn sich (meist biodeutsche) Marginalisierte im politischen System nicht repräsentiert fühlen und die AfD wählen. Der Vorwurf erlaubt es jedoch, gerade diejenigen Linken, die nicht nur für den weißen, männlichen Arbeiter eintreten, für den Aufstieg der Rechten verantwortlich zu machen – mithin Antidiskriminierungspolitik als grundsätzlich weniger relevantes, ja gefährliches Projekt zu diskreditieren und implizit die Privilegierung der weißen Männer zu verteidigen.

Warum sollen ­Feminismus und Anti­rassismus verantwortlich für Hartz IV sein?

An dieser Stelle gilt es außerdem zu fragen, inwieweit sich die parteipolitische und gewerkschaftliche Linke überhaupt als offen gegenüber identitätspolitischen Fragen gezeigt hat. Der Sound des Schulz-Zuges scheppert eher traditionell.

Zauberwort Intersektionalität

Dabei sollte klar sein, dass Ausgrenzung und Ausbeutung und deswegen auch Identitätspolitik und soziale Gerechtigkeit nicht als konkurrierende Prioritäten gedacht werden dürfen. Das Zauberwort dafür heißt Intersektionalität: die Überschneidung verschiedener Unterdrückungsformen wie Rassismus, Sexismus und Klassismus ist zu untersuchen.

Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass die identitätspolitische Ausgrenzung von anderen immer auch dazu gedient hat, ihnen Arbeitsrechte oder gleiche Löhne vorzuenthalten und sie leichter auszubeuten. Das fängt mit den „faulen Eingeborenen“ im Kolonialismus an und hört mit dem Inländerprimat auf dem Arbeitsmarkt noch lange nicht auf – ganz zu schweigen von Frauen, deren Sorge­arbeit mit ihrer natürlichen Geschlechterrolle verbunden und deswegen gar nicht oder nur schlecht bezahlt wurde beziehungsweise wird. Das manifestiert sich auch im ALG Q, soweit dies idealtypisch den 55-jährigen Facharbeiter in den Blick nimmt, nicht aber die Patchwork-Mutter oder die Migrantin.

Und auch wenn Finanzminister Schäuble der Regierung in Athen Sparprogramme mit verheerenden sozialen Konsequenzen aufdrückt, geriert er sich dabei als strenger Familienvater gegenüber der vermeintlich unverantwortlichen Syriza-Regierung und den liederlichen Griechen, die angeblich über ihre Verhältnisse gelebt haben. Die Konstruktion von bestimmten Identitäten legitimiert und ermöglicht so Praktiken materieller Ausbeutung, deswegen ist gerade ihre Verknüpfung zentral.

Die alten Hauptwidersprüche

Daher sollte sich linke Politik weder in einer liberalen Gleichstellungspolitik erschöpfen noch angestaubte Hauptwidersprüche zwischen Kapital und Arbeit hervorkramen. Sie sollte lieber, da stimmen wir Thaa zu, gesellschaftspolitische Alternativen aufzeigen, die über ein verlängertes ALG I weit hinausreichen und Solidarität statt Konkurrenz zur Grundlage menschlichen Zusammenlebens machen. Sie soll auch die Unterdrückung durch Klassenverhältnisse thematisieren, darf sie jedoch nicht als Priorität setzen und andere Formen nicht ernst nehmen.

Aktuell zeigen uns die transnationalen Proteste gegen die Dakota Access Pipeline in Standing Rock durch ihre spektrenübergreifende Mobilisierung und ihr globales Divestment, dass Identitätspolitiken in der Lage sind, sich zu pluralisieren und über ein einzelnes Diskriminierungsverhältnis hin­aus allianzbildend zu wirken.

Die Flexibilität, die in intersektionalem Handeln liegt, sich selbst zu ermächtigen, aber auch sich zu vernetzen und gemeinsam für soziale Gerechtigkeit zu streiten, ist auch eine Stärke, die sich gerade gegenüber einer Vereinnahmung durch einen bürgerlichen Liberalismus oder durch „Managing Diversity“-Programme mobilisieren lässt.

Antidiskriminierungspolitik ist daher kein Irrweg und schon gar kein Wegbereiter der Rechten. Die Linke muss sich auch nicht zwischen Identitätspolitik oder sozialer Gerechtigkeit entscheiden. Es geht nicht um Freiheit oder Gleichheit. Es geht immer um beides.

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