ALBTRUMP Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder über totalitäre Herrschaft, Demokratie und des Volkes Wille: Geschichte und Tyrannei
von Timothy Snyder
Geschichte wiederholt sich nicht, aber wir können aus ihr lernen. Als die Gründerväter über die amerikanische Verfassung diskutierten, zogen sie Lehren aus der ihnen bekannten Geschichte. Aus Sorge, die demokratische Republik, die sie im Sinn hatten, könnte zusammenbrechen, sahen sie sich genau an, wie antike Demokratien und Republiken zu Oligarchien und Imperien verkommen waren.
Wie sie sehr wohl wussten, hatte Aristoteles davor gewarnt, dass Ungleichheit zu Instabilität führe, während Platon der Überzeugung war, dass Demagogen die Meinungsfreiheit missbrauchten, um sich zu Tyrannen aufzuschwingen. Indem sie das Recht zum Grundpfeiler der demokratischen Republik machten und ein System der checks and balances installierten, wollten die Gründerväter das Übel vermeiden, das sie, wie die antiken Philosophen, als Tyrannei bezeichneten. Sie dachten dabei an die Machtübernahme durch eine Einzelperson oder eine Gruppe oder daran, dass die Regierenden das Gesetz zum eigenen Vorteil umgingen. In den politischen Debatten in den Vereinigten Staaten ging es danach häufig um das Problem der Tyrannei innerhalb der amerikanischen Gesellschaft: der Tyrannei gegen Sklaven oder Frauen zum Beispiel.
Timothy Snyder: „Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand“. Verlag C.H. Beck, München. Das Buch erscheint am 8. März 2017.
Es ist somit gute Tradition, dass wir Amerikaner einen Blick in die Geschichte werfen, wenn unsere politische Ordnung bedroht scheint. Wenn wir heute in Sorge sind, das amerikanische Experiment könnte durch eine Tyrannei gefährdet sein, können wir dem Beispiel der Gründerväter folgen und die Geschichte anderer Demokratien und Republiken betrachten.
Die gute Nachricht dabei ist, dass wir uns nicht auf das antike Griechenland oder das alte Rom beziehen müssen, sondern über Beispiele verfügen, die jüngeren Datums und von größerer Relevanz sind. Die schlechte Nachricht ist, dass die Geschichte der modernen Demokratie eine des Verfalls und des Untergangs ist.
Seit die amerikanischen Kolonien ihre Unabhängigkeit gegenüber der britischen Monarchie erklärten, die den Gründervätern „tyrannisch“ erschien, hat die europäische Geschichte drei große demokratische Momente erlebt: nach dem Ersten Weltkrieg 1918, nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 und nach dem Ende des Kommunismus 1989.
Viele der Demokratien, die an diesen Wegmarken begründet wurden, sind gescheitert, und zwar unter Umständen, die in mancherlei Hinsicht den unseren ähneln. Geschichte macht uns vertrauter, und sie kann eine Warnung sein. Am Ende des 19. Jahrhunderts, genauso wie am Ende des 20. Jahrhunderts, weckte die Ausweitung des Welthandels Fortschrittshoffnungen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts, genauso wie am Anfang des 21. Jahrhunderts, wurden diese Hoffnungen durch neue Vorstellungen von Massenpolitik in Frage gestellt, in denen eine Person oder eine Partei für sich in Anspruch nahm, den Willen des Volkes unmittelbar zu repräsentieren.
Die europäischen Demokratien brachen in den 1920er und 1930er Jahren zusammen und mündeten in rechten Autoritarismus und Faschismus. Die 1922 gegründete kommunistische Sowjetunion dehnte ihr Modell in den 1940er Jahren auf Europa aus. Die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigt uns, dass Gesellschaften zerfallen, Demokratien untergehen, moralische Werte zusammenbrechen und ganz gewöhnliche Menschen plötzlich mit einer Schusswaffe in der Hand an Todesgruben stehen können. Es wäre für uns Heutige ganz gut, wenn wir verstehen würden, warum das so war.
Der Faschismus wie der Kommunismus waren Reaktionen auf die Globalisierung: auf die tatsächlichen und vermeintlichen Ungleichheiten, die sie schuf, und auf die offenkundige Hilflosigkeit der Demokratien, etwas dagegen zu tun. Die Faschisten lehnten die Vernunft im Namen des Willens ab und sie leugneten die objektive Wahrheit zugunsten eines glorreichen Mythos, der von politischen Führern beschworen wurde, welche behaupteten, dem Volk eine Stimme zu geben. Sie gaben der Globalisierung ein Gesicht, indem sie behaupteten, deren komplexe Herausforderungen seien Folge einer Verschwörung gegen die Nation.
Die Faschisten regierten ein oder zwei Jahrzehnte lang und hinterließen ein intaktes geistiges Vermächtnis, das heute mit jedem Tag an Relevanz gewinnt. Die Kommunisten herrschten länger, fast siebzig Jahre in der Sowjetunion und mehr als vierzig Jahre in einem Großteil Osteuropas. Ihr Herrschaftsmodell war das einer disziplinierten Parteielite mit einem Monopol auf die Vernunft, welche die Gesellschaft gemäß angeblich feststehender historischer Gesetzmäßigkeiten in eine sichere Zukunft führen würde.
Wir könnten versucht sein zu glauben, unser demokratisches Erbe schütze uns Amerikaner automatisch vor solchen Gefahren. Doch dieser Reflex ist fehl am Platze. Vielmehr müssen wir dem Beispiel der Gründerväter folgen und die Geschichte in den Blick nehmen, um die tieferen Ursachen der Tyrannei zu begreifen und angemessene Antworten darauf zu finden.
Wir Amerikaner sind heute nicht klüger als die Europäer, die im 20. Jahrhundert erleben mussten, wie die Demokratie dem Faschismus, dem Nationalsozialismus oder dem Kommunismus wich. Unser einziger Vorteil ist der, dass wir aus ihrer Erfahrung lernen können.
Dafür ist es jetzt an der Zeit.
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