Wo beginnt Gewalt auf dem Schulhof?: Ein Schneeball zählt nicht mehr

Ein weit gefasster Gewaltbegriff bescherte dem Senat jahrelang zunehmend Meldungen. Nun gelten enge Kriterien und Gewerkschaft beklagt Verschleierung.

Wird nicht mehr gleich der Schulbehörde gemeldet: Schüler macht Schneeball. Foto: Bodo Marks/dpa

HAMBURG taz |„Die Gewalt steigt und der Senat verschleiert es“, kritisiert die Hamburger GEW. Der Anlass ist eine veränderte Statistik der Schulbehörde. So gab Schulsenator Ties Rabe (SPD) in diesem Herbst 202 schwere Gewaltfälle für das vergangene Schuljahr bekannt. Was überraschte: Im Jahr davor waren es 1.888 Fälle, darunter 317 „schwere“.

Doch diese alte Statistik taugte nichts, denn es wurde übers Ziel hinausgeschossen. Das hatte 2015 eine Expertengruppe befunden und der Schulbehörde geraten, sich auf „stärker objektivierbare“ Kriterien zu stützen. Seit 2009 waren Schulen aufgefordert, ein breites Spektrum von Taten unter dem Label „Gewaltvorfall“ zu melden. Dazu gehörte auch Beleidigung, einfache Körperverletzung oder Drogenhandel.

Die Meldungen der Schulen seien „subjektive Einschätzungen“ der Lehrer, befand der Senat. „So kann es kommen, dass Schubsen oder das Werfen eines Schneeballs bereits als einfache Körperverletzung angegeben wird“, heißt es in der Antwort auf eine kritische Anfrage der CDU. Von 89 gemeldeten schweren Körperverletzungen des Schuljahrs 2014/15 bestätigte die Polizei nur acht Vorfälle.

Der neue Meldebogen sieht nur noch Felder für schwere Straftaten der Gewaltkriminalität vor, die angezeigt werden müssen (siehe Kasten). Weniger schwere Vorfälle sollen Schulen intern dokumentieren. Und so gingen die insgesamt gemeldeten Fälle wie eingangs erwähnt von 1.888 auf 202 zurück. Darunter waren 167 schwere Körperverletzungen, doch auch hier konnte die Polizei nur in 95 Fällen den Tatverdacht bestätigen.

In dem neuen Meldbogen gibt es nur Felder für die Straftaten: Raub und Erpessung, gefährliche Körperverletzung, gegenwärtiges Sexualdelikt oder Straftat gegen sexuelle Selbstbestimmung, Straftat gegen das Leben.

Im alten Bogen gab es die schwere Kategorie I für diese und weitere anzeigepflichtige Taten wie Handel mit Drogen.

Die leichtere Kategorie II umfasste zum Beispiel Diebstahl, schwere Beleidigung, Graffiti.

Die GEW und der Gesamtpersonalrat der Schulen meinen nun, diese Zahlen gäben „die Realität nicht wieder“. Sie haben die von Lehrern gemeldeten Zahlen nur für dieses Delikt der vergangenen vier Jahre verglichen, und kommen zu dem Schluss, dass es einen stetigen Anstieg gibt: von 49, auf 77, dann 89 und schließlich 167.

„Eine unterfinanzierte Schule ist eine gewalttätige Schule“, sagt die GEW-Chefin Anja Bensinger-Stolze. Durch die neue Berichtspraxis wolle der Senat davon ablenken.

„Es ist sinnvoll, die Gesamtzahl weiter anzugucken“, sagt auch Personrat Roland Kasprzak. Die Schulen hätten viele Lasten zu tragen, „kann sein, dass sich dabei Gewalt herausbilden kann“. Er kritisiert, dass der Personalrat zu der neuen Richtlinie nicht gefragt wurde.

Besonders stark sei der Anstieg von Gewalt gegen Beschäftigte. Hier stünden vier schwere Körperverletzungen aus dem Schuljahr 2013/14, erschreckenden 30 Taten aus dem vergangenen Schuljahr gegenüber. Dadurch, dass der Senat überhaupt nur noch die schweren Körperverletzungen verzeichne, werde „das wahre Ausmaß verschleiert“, sagt Kasprzak.

Das stimmt nicht ganz. Zu Übergriffen auf Lehrer und andere Beschäftigte führt das Personalamt weiter eine genaue Statistik, die Beleidigung, Bedrohung mit Gesten und alle Formen der Gewalt ausweist. Und die besagt: Auch in früheren Jahren gab es schon Probleme.

Es sei richtig gewesen, das alte Verfahren abzulösen, findet die Grüne Stefanie von Berg. Denn damals hätten Pädagogen viele Fälle als zu schwer eingestuft. Gleichwohl müsse man auch das neue Verfahren evaluieren.

„Selbstverständlich muss man Schulen so ausstatten, dass Unterricht gewaltfrei ablaufen kann“, sagt die Schulpolitikerin Sabine Boeddinghaus (Die Linke). Nötig seien Doppelbesetzungen und multiprofressionelle Teams. Was aber weniger helfe, sei „eine alarmistische Statistik“.

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