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Zu siebt in anderthalb Zimmern

RUNDGANG Inspiriert von Klaus Kordons Trilogie über eine Berliner Arbeiterfamilie gibt eine neue Kindertour von Stattreisen durch Charlottenburg Einblicke in den Lebensalltag von Kindern im 19. Jahrhundert

Die Toilette war ein Plumpsklo im Hof oder befand sichauf halber Treppe

von SYLVIA PRAHL

„Meine Oma brachte Kartoffelschalen zu den Kuh- und Schweineställen und bekam Brennholz dafür. Schon fertig kleingehackt“, erinnert sich die Stadtflaneurin Marianne Mielke. Je weiter man sich damals in die Hinterhof-Schluchten im heute Zille-Kiez genannten Quartier in Charlottenburg hinter der Schloßstraße begab, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, auf einen Stall zu stoßen. Luft und Licht kamen kaum noch dorthin. Anekdoten wie diese wird Marianne Mielke auf der neuen Kindertour von Stattreisen Berlin, „David, Anna & Co. Abenteuer eines Arbeiterkindes“, erzählen. Sie ist in Charlottenburg geboren und aufgewachsen, lebt auch heute noch dort. Ihre Verbundenheit mit der Gegend füllt die Geschichten, die sie erzählt, mit Leben, macht sie anschaulich und greifbar.

Für die Konzeption der Tour über den Lebensalltag von Arbeiterkindern im 19. Jahrhundert hat sie sich von Klaus Kordons „Jacobi-Trilogie“ (“1848– Die Geschichte von Jette und Frieder“/1997, „Fünf Finger hat die Hand“/2006, „Im Spinnennetz“/2010) inspirieren lassen. In der Trilogie zeichnet Kordon anschaulich deutsche Geschichte von der Märzrevolution bis zur vorletzten Jahrhundertwende anhand einer Berliner Arbeiterfamilie nach. Auf Charlottenburger Hinterhöfe als Anschauungsobjekte fiel die Wahl, weil sie „beispielsweise in Prenzlauer Berg und Kreuzberg gar nicht mehr in die Hinterhöfe kommen“, sagt Mielke.

Eine Ahnung von den beengten und unwirtlichen Wohnverhältnissen im zweiten, dritten oder vierten Hinterhof erhalten die Kinder auf der Tour in der Seeligerstraße. Marianne Mielke erklärt, wo früher noch Häuser im Hof standen, wie Mauern die Höfe zusätzlich parzellierten. „Familien wohnten zu siebt in anderthalb Zimmern, die Toilette war ein Plumpsklo im Hof oder befand sich auf der halben Treppe“, sagt sie. In die Erdgeschosswohnungen drang kaum Licht, und in den unisolierten Dachgeschossen, den sogenannten Schwalbennestern, war es im Winter eiskalt und im Sommer „kochte dir das Wasser im Arsch“, wie Anna es in Kordons „Im Spinnennetz“ mit Berliner Schnauze formuliert.

Verschiedene gesellschaftliche Schichten hatten dieselbe Adresse. In den Vorderhäusern wohnten Kleinbürger, im Hinterhaus Handwerker, im nächsten die Arbeiter, dahinter kam vielleicht noch eine kleine Fabrik oder eben ein Stall. Die vielen Kinder hatten in den Wohnungen keinen Platz zum Toben, spielten in den Höfen, auf den Straßen. Wenn sie nicht wegen Lärms verjagt wurden. An der Ecke Christstraße wird Mielke zusammen mit den heutigen Kindern ein paar Spiele, die die Kinder damals spielten, ausprobieren. Wenn die Kinder seinerzeit überhaupt Zeit hatten, sich beim Murmelschnippen oder „Himmel und Hölle“-Hüpfen zu amüsieren und sie nicht schon im Kleinkinderalter bis zu acht Stunden am Tag arbeiten mussten, um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen.

An der „Gemeindeschule 17“ in der Dunckelmannstraße erfahren die Kinder, dass die Arbeiterkinder damals die Schule spätestens mit 14 nach dem Volksschulabschluss verließen, das Schulgeld für die weiterführenden Schulen konnten Arbeiterfamilien nicht aufbringen. Dann traten sie in die Fabriken ein, arbeiteten in der Engelhardt-Brauerei direkt gegenüber oder in der Wurstfabrik in der Knobelsdorffstraße. Mielke veranschaulicht den disziplinierten Schulalltag in Klassen mit bis zu 45 Kindern anhand von Zeugnissen ihres Großvaters, der hier zur Schule ging und zeigt Klassenfotos. Beim Abschluss der Tour besichtigen die Kinder auf dem sogenannten, heute als Nachbarschaftstreffpunkt genutzten Ziegenhof noch Überreste alter Stallungen.

Mit diesem neuen Rundgang erweitert Stattreisen sein Angebot um einen weiteren kindgerechten Ausflug in die Geschichte der Stadt. Berlins jüngere Geschichte können Kinder bei der Tour „Vor der Mauer – hinter der Mauer“ erleben. Bei der „Spurensuche an der Bernauer Straße“ erfahren sie, wie sich der Mauerbau auf das Leben von plötzlich getrennten Familien auswirkte.

Aber auch eine „Zeitreise ins Mittelalter“ ist im Angebot. Der Rundgang vermittelt Kindern, wie die Menschen vor 700 Jahren in Berlin gelebt haben und ist in Zusammenarbeit mit den Stadtarchäologen entstanden, die Ausgrabungen am Petriplatz werden besichtigt.

Bereits bei der Tour „Emils neue Detektive“ stand ein Kinderbuch Pate: Auf den Spuren von Erich Kästners Emil untersuchen die Kinder dabei, wie sich die Gegend zwischen Bahnhof Zoo und Nollendorfplatz seit dem Zweiten Weltkrieg verändert hat – und entdecken, wo der gemeine Ganove Grundeis von Emil zur Strecke gebracht wurde. Detektivqualitäten müssen die Kinder auch bei der Kinder-Krimi-Rallye „Die Spürnasen und der verschwundene Schatz der Museumsinsel“ beweisen, wenn sie anhand einer Schatzkarte verschwundene Münzen aufstöbern sollen und dabei auch noch diverse geheimnisvolle Rätsel lösen sollen. Laut Marianne Mielke birgt der Schatz, so er denn gehoben wird, eine echte Überraschung.

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