: Keine Hilfe für Duogynon-Opfer
MISSBILDUNGEN Geschädigte klagen auf Schadenersatz. Jetzt haben sie sich an den Patientenbeauftragten gewandt. Doch der kann oder will ihnen offenbar nicht helfen
von Heike Haarhoff
„Sehr enttäuschend“
Sommer ist selbst mutmaßlich medikamentengeschädigt und vertritt die Interessen vieler Leidensgenossen in Deutschland. Sommer kommentierte das Schreiben gegenüber der taz als „sehr enttäuschend“.
Das ehemalige Hormonpräparat Duogynon des Berliner Pharmaunternehmens Schering wurde in den 50er, 60er und 70er Jahren in Deutschland und zahlreichen anderen Ländern in und außerhalb Europas als Dragee oder Injektion bei ausbleibender Menstruation, aber auch als Schwangerschaftstest gegeben. Es steht seit Anfang der 60er Jahre im Verdacht, Missbildungen an inneren Organen sowie an Gliedmaßen bei Ungeborenen verursacht zu haben.
Ein kausaler Zusammenhang zwischen der Einnahme und den Fehlbildungen konnte indes nie nachgewiesen werden, auch weil entsprechende klinische Tests an Frauen sich ethisch verboten und an Affen nie durchgeführt wurden. Die Bayer AG, die Schering 2006 übernahm, schließt Duogynon nach Angaben ihrer Pressestelle „nach wie vor als Ursache für embryonale Missbildungen aus“.
Interne Unterlagen des Schering-Konzerns, die über Jahrzehnte im Landesarchiv Berlin eingelagert waren und seit Kurzem der Öffentlichkeit zugänglich sind, legen nahe, dass der schwere Verdacht, der auf Duogynon lastet, Schering bereits in den 1960er Jahren bekannt war. Die firmeninternen Überprüfungen indes erfolgten, wenn überhaupt, halbherzig. In Deutschland blieb der Wirkstoff bis 1981 auf dem Markt.
Der Grundschullehrer André Sommer, der 1976 mit Missbildungen an Blase und Penis geboren wurde, zog mehrfach vor Gericht, um Akteneinsicht auch in die Bayer-Archive zu erlangen. Erfolglos. Anfang des Jahres wandte er sich daraufhin an den Patientenbeauftragten der Bundesregierung. Doch Karl-Josef Laumann sieht keine Möglichkeit, auf den Bayer-Konzern einzuwirken, die firmeninternen Archive zu öffnen und mit den mutmaßlich Geschädigten in einen Dialog einzutreten: „Ich kann im Zusammenhang mit durch Medikamente möglicherweise hervorgerufenen Schädigungen nur an größtmögliche Transparenz und Offenheit aller Beteiligten appellieren“, schrieb Laumann an Sommer.
Ähnlich äußerte sich das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), die deutsche Zulassungsbehörde für Medikamente, auf Anfrage der taz. Im Nachhinein sei behördenintern nicht mehr nachvollziehbar, welche Kenntnisse die damalige Aufsichtsbehörde, das Bundesgesundheitsamt (BGA), dessen Nachfolgerin das BfArM ist, gehabt habe. „Die entsprechenden Akten des damaligen Bundesgesundheitsamtes befinden sich im Bundesarchiv in Koblenz“, teilte das BfArM der taz mit.
„Eher keine Missbildung“
„Gleichwohl“ habe das BfArM 2011 das Pharmakovigilanzzentrum für Embryonaltoxikologie der Charité-Universitätsmedizin Berlin „mit der Durchführung einer Analyse und Bewertung der dem BfArM vorliegenden Verdachtsmeldungen [zu Duogynon, d. Red.] beauftragt“.
Die Studie, basierend ausschließlich auf historischen Beobachtungsdaten von insgesamt 296 Patientinnen und Patienten mit angeborenen Fehlbildungen aus dem Zeitraum zwischen 1957 und 1983, sollte insbesondere die Frage beantworten, ob ein Zusammenhang zwischen dem Vorkommen angeborener Entwicklungsanomalien und der mütterlichen Duogynon-Einnahme in der frühen Schwangerschaft plausibel erscheine. Das Ergebnis der Analyse wurde 2012 veröffentlicht – und überraschte allein aufgrund der zugrunde liegenden Datenbasis wenig: „Ein teratogener [Missbildung bewirkender, d. Red.] oder embryotoxischer Effekt von Duogynon, zu welchem Zwecke auch immer angewendet, ist unwahrscheinlich.“
Auf die Frage, weshalb das Bundesgesundheitsamt entsprechende Studien nicht schon in den 1960er oder 1970er Jahren veranlasste oder das Medikament damals bis zur Klärung des Verdachts zumindest nicht vom Markt nahm, schrieb das BfArM der taz: „Grundsätzlich muss bei der Betrachtung der damaligen Abläufe im Bundesgesundheitsamt berücksichtigt werden, dass die gesetzlichen Regelungen vor 1978 mit Blick auf die Arzneimittelsicherheit noch nicht mit den heutigen umfassenden Regelungen vergleichbar waren.“
So sei das Institut für Arzneimittel im damaligen Bundesgesundheitsamt – zuständig für die Prüfung auf Wirksamkeit und Unbedenklichkeit eines Arzneimittels im Rahmen des Zulassungsverfahrens – überhaupt erst 1978 eingerichtet worden. Zuvor hätten die Aufsichtsbehörden gegenüber Pharmaunternehmen praktisch kaum Handhabe gehabt.
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