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Risiko Das Medikament Duogynon war in den Sechzigern eine Innovation. Doch verursachte es Missbildungen bei Kindern? Und wusste der Hersteller davon? Die Akten zu dem Fall sind nun bei der taz gelandet. Und bilden ein Lehrstück über Schuld und MoralEine einzige Tablette

Von Heike Haarhoff

An einem Frühsommertag 2015 treffen sich eine Rentnerin aus Großbritannien und ein Grundschullehrer aus Bayern in Berlin, um in einem Stapel vergilbter Papiere nach Indizien zu suchen. Es ist der Fall ihres Lebens.

Marie Lyon, 69, brachte 1970 eine Tochter zur Welt. Sarahs linker Unterarm fehlt, Finger wachsen aus dem Ellenbogen.

André Sommer, 39, wurde 1976 mit einem verkümmerten Penis geboren. Seine Harnblase ist außen am Bauch angewachsen.

Ein winziger Raum in dem roten Backsteingebäude des Berliner Landesarchivs, zehn Quadratmeter, fast eine Zelle. Klares Licht fällt durch die Sprossenfenster, an der Wand ein Büroregal, davor ein Tisch, vier Stühle, sonst nichts. Auf den Regalbrettern stehen offene Pappkartons voller Akten. Mit Schreibmaschine getippt, in verstaubten Ordnern.

Es sind mehr als 7.000 Seiten mit vertraulicher Korrespondenz und Firmenpapieren des einst mächtigen Berliner Pharmakonzerns Schering aus den sechziger und siebziger Jahren. Dokumente zu einem Arzneimittel, das es längst nicht mehr gibt, aber das Marie Lyon und André Sommer für das Leid von Tausenden Menschen verantwortlich machen. Sein Name: Duogynon.

Marie Lyon lässt ihren Blick über die Kartons mit den Akten wandern. „Unser Schatz“, flüstert sie, „mit Sprengstoffpotenzial.“ Das jedenfalls hofft sie. Seit zehn Jahren sind die beiden diesen Aktenordnern auf der Spur. Über ihre gemeinsame Suche lernten sie sich vor fünf Jahren kennen.

Zu Risiken und Wirkungen

Das Medikament: 1950 stellt der Pharmakonzern Schering Injektionen und Dragees mit dem Namen „Duogynon“ vor. Das Hormonpräparat wird unter anderem als Schwangerschaftstest empfohlen. Setzt die Regel nach der Einnahme nicht ein, sei die Frau schwanger. In England wird es als „Primodos“ verkauft.

Der Verdacht: 1967 schreibt eine britische Kinderärztin in einem Fachaufsatz erstmals über einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Medikament und Fehlbildungen bei Ungeborenen. Es geht unter anderem um verkürzte Gliedmaßen und deformierte Genitalien. Schätzungen sprechen heute von Tausenden möglichen Betroffenen.

Die Aufarbeitung: Klagen auf Akteneinsicht werden 2012 als verjährt abgewiesen. In Großbritannien gibt es seit Herbst 2015 einen Untersuchungsausschuss zum Thema.

Der Öffentlichkeit sind die Dokumente noch nicht zugänglich, Lyon und Sommer aber dürfen das Material sichten. Wegen persönlicher Betroffenheit, so der Grund für die Sondererlaubnis. Als Detektive in eigener Sache.

Marie Lyon, die Haare blond gefärbt, das Gesicht dezent geschminkt, schaut zu André Sommer, raspelkurze Haare, Kapuzenpullover. „Wo fangen wir an?“

Marie Lyon hatte 1970 eine Tablette genommen, um festzustellen, ob sie schwanger war. Genau wie André Sommers Mutter. In Großbritannien stand der Name Primodos auf der Schachtel, in Deutschland Duogynon, das Medikament war dasselbe.

Duogynon, das war, vereinfacht gesagt, ein Kombipräparat auf Basis der weiblichen Geschlechtshormone Gestagen und Östrogen. 1950 brachte Schering es in Deutschland und anderen europäischen Ländern auf den Markt, in Form von Dragees und Injektionen – und unter unterschiedlichen Namen. Bis 1978 gaben es Ärzte Patientinnen, wenn deren Zyklus unregelmäßig war und die Menstruation ausblieb, aber auch als Schwangerschaftstest. Urintests setzten sich erst in den achtziger Jahren durch. Löste die starke Hormondosis die Regelblutung nicht aus, galt die Frau als schwanger.

Ein Medikament, geeignet, die Menstruation einzuleiten – ausgerechnet eine solche Pille sollte als Diagnose dienen bei Frauen, die sich ein Baby wünschten und die befruchtete Eizelle eben gerade nicht verlieren wollten.

Der Verdacht: Europaweit soll das Medikament Tausende Kinder im Mutterleib so schwer geschädigt haben, dass sie mit offenem Rücken, mit Herzfehlern, Hirnschädigungen, mit verkürzten oder fehlenden Gliedmaßen, deformierten Därmen, Harnblasen oder Genitalien zur Welt kamen. Einige Säuglinge starben kurz nach der Entbindung. Es kam möglicherweise auch zu Fehlgeburten.

„Duogynon“, sagt André Sommer, „das ist vielleicht ein zweites Contergan.“

Vielleicht. Vielleicht war das Schlafmittel Contergan, der größte Pharmaskandal des 20. Jahrhunderts, gar nicht die einzige Tablette mit schwersten Nebenwirkungen auf Ungeborene. André Sommer und Marie Lyon wollen anhand der Akten Hinweise darauf sammeln. Auch Hunderte andere mutmaßlich Betroffene, zu denen sie über ihre Selbsthilfegruppen in Deutschland und Großbritannien Kontakt halten, warten auf Antworten.

„Meiner Mutter bin ich es schuldig, herauszufinden, was wirklich war“

André Sommer

Wann hatte Schering erstmals Hinweise darauf, dass das Medikament embryonale Missbildungen verursachen könnte? Und falls es sie gab: Warum nahm der Konzern das Medikament nicht früher vom Markt? Warum verbot er nicht den Einsatz als Schwangerschaftstest? Aus Skrupellosigkeit? Aus Fahrlässigkeit? Aus Angst vor Umsatzeinbußen und Imageverlust?

Es gibt bis heute keine Antworten des Herstellers auf diese Fragen; und es gibt keine Rechtsgrundlage, sie zu erzwingen. Denn, das scheint unbestritten: Das Unternehmen hat nicht gegen geltendes Recht verstoßen.

Dass das so klar ist, liegt vor allem daran, dass es die meisten Gesetze, die Patienten von heute vor den Risiken von Medikamenten schützen, damals noch nicht gab. Das jetzige Arzneimittelgesetz trat 1978 in Kraft. Zuvor wurden keine Studien verlangt, die nachweisen, dass ein Mittel sicher, verträglich und wirksam ist, bevor es zugelassen werden kann. Wenn überhaupt, testeten die Hersteller Medikamente an Nagetieren. Selbst Packungsbeilagen waren keine Pflicht. 1950, als Duogynon in Deutschland auf den Markt kam, waren neue, kaum getestete Wirkstoffe sogar ohne Verschreibungspflicht in der Apotheke zu kaufen.

Anerkennen, dass nicht die Mütter schuld sind

Aber darf es bei der Aufarbeitung allein um die Frage gehen, ob gegen Gesetze verstoßen wurde? Wo beginnt, wo endet die moralische Verantwortung eines Konzerns, dessen Geschäft die Gesundheit von Menschen ist? Medikamente können Schäden verursachen. Manchmal, noch heute, werden diese erst entdeckt, wenn das Arzneimittel schon auf dem Markt ist.

Es wäre ein wichtiger Schritt, wenn das Unternehmen an der Klärung der Fakten mitarbeiten, seine eigenen Archive freigeben, alle Karten auf den Tisch legen würde. Bisher jedoch verweigert die Bayer AG, die Schering 2006 übernahm, ein Gespräch.

André Sommer sagt: „Es ist dieses Nichtwissen, das so schwer auszuhalten ist. Nicht zu wissen, ob die Firma wirklich nichts wusste oder ob sie nur vorgibt, nichts gewusst zu haben.“

Denn davon hängt ab, ob man sie heute noch zur Rechenschaft ziehen kann. Wohl nicht juristisch. Vermutlich auch nicht materiell. Aber womöglich moralisch. Indem die Firma anerkennt, dass die Missbildungen kein Zufall sind. Indem sie offiziell feststellt, dass die Schuld nicht bei den Müttern liegt. Auch wenn sie diejenigen waren, die sich die Tablette auf die Zunge legten und mit einem Schluck Wasser herunterschluckten.

Der Bayer-Konzern reagiert nur schriftlich auf Fragen zu dem Thema: Bayer schließe das Medikament „nach wie vor als Ursache für embryonale Missbildungen aus“. Umfangreiche Untersuchungen und Gutachten „namhafter Experten“ hätten dies bereits in den 1970er und 1980er Jahren gezeigt.

Wirklich?

„Schau mal“, sagt Marie Lyon. Eine Stelle macht sie stutzig. Das Protokoll eines Tierversuchs.

Es ist der 6. Dezember 1965, 15 Jahre nach Markteinführung, als die Schering AG eine Untersuchung zu Duogynon vorlegt, getestet an Mäusen und Kaninchen: Erzeugen die Wirkstoffe des Medikaments Missbildungen bei den Nachkommen? Es ist die Zeit nach der Aufdeckung des Contergan-Skandals, die Pharmaindustrie ist alarmiert, viele Hersteller intensivieren ihre Forschung.

Das Ergebnis der Tests: keine erkennbaren Missbildungen. Aber dann steht da: „Wie erwartet, steigt in den hohen Dosierungen nur die Resorptionsrate.“„Unter Resorptionen werden abgestorbene Feten […] verstanden“, heißt es im Anhang.

Schaden statt heilen

Der Contergan-Skandal: Das Schlafmittel Contergan kam 1957 auf den Markt. Es wurde auch Schwangeren verschrieben. In Deutschland kamen dadurch etwa 5.000 Kinder mit schweren Missbildungen zur Welt. Hersteller Grünenthal schloss einen Vergleich zur Zahlung von 100 Millionen D-Mark (rund 51 Millionen Euro). Die Conterganstiftung wurde erst 1972 auf Beschluss des Bundestags gegründet.

Der Bluter-Skandal: In den achtziger Jahren wurde Blutern „Faktor VIII“ verabreicht, es wurde aus Blutplasma hergestellt. Das Medikament war schon 1983 mit Viren verunreinigt, es wurde aber jahrelang weiter verabreicht. Tausende infizierten sich so mit HIV, Hepatitis B und C. 1995 wurde eine Stiftung gegründet, aber nur für die HIV-Infizierten. 100 Millionen D-Mark stellte der Bund, 90,8 Millionen zahlten sechs Pharmafirmen.

Wenn Duogynon für ungeborene Mäuse und Kaninchen tödlich ist – wie wahrscheinlich ist es, dass das Mittel für menschliche Embryonen unschädlich ist?

Marie Lyon war 23, als sie merkte, dass sie schwanger war. „Blutjung und so glücklich“, sagt sie heute, sie lacht, sie weiß noch genau, wie sie sich fühlte, damals, Anfang 1970. Stolz auf sich und ihren Körper, in dem nun ein Baby wachsen würde, ein Wunschkind. Und wie sie dann zu ihrem Frauenarzt ging, der sagte, um ganz sicher zu gehen, sollten sie besser einen Test machen, nur eine Tablette, und wenn dann nicht die Regel einsetze, dann sei sie ganz sicher schwanger. „Ich habe nicht einmal gefragt, was in der Tablette drin ist“, sagt Marie Lyon. Sie nimmt sie.

Es ist eine sorgenfreie Schwangerschaft und eine komplikationslose Geburt. Der Schock trifft sie erst, als die Hebamme ihr ihre Tochter zeigt: das winzige Geschöpf, das schönste Kind unter der Sonne, Sarah – aber was, bitte, ist das? Ein Arm, der am Ellbogen aufhört. Finger, die aus dem Ellbogen wachsen.

Operationen. Prothesen. Tränen.

Und immer das Gefühl, schuld zu sein. Schuld zu sein, dass Sarah gehänselt wird im Kindergarten. Schuld zu sein, dass sie zwar Rad fahren, schwimmen und reiten lernt, denn natürlich lernt auch ein körperbehindertes Kind Rad fahren, schwimmen und reiten, wenn es eine Mutter hat mit der Willensstärke der Marie Lyon, aber eben erst später als andere Kinder. Schuld zu sein an dem Makel. Bis sie, Jahre später, Sarah ist vielleicht acht oder neun, einen Gentest macht und erfährt: Die Behinderung hat mit ihr nichts zu tun, sie liegt, so viel ist sicher, außerhalb ihres Körpers. Nur wo?

Das, sagt Marie Lyon, war die Zeit, als ihre Schuldgefühle allmählich der Wut wichen. Und ihre Suche begann. Bei Müttern, die Kinder mit ähnlichen Behinderungen geboren hatten. Bei Ärzten, die ihren schwangeren Patientinnen allen dieses eine Medikament gegeben hatten: Primodos, die englische Variante von Duogynon.

André Sommer kennt den Namen Duogynon nicht, bis er vor etwa zehn Jahren beim Aufräumen im Haus seiner Eltern zufällig auf einen Karton stößt – gefüllt mit alten Zeitungsberichten aus den 1970er und 1980er Jahren über Duogynon, mit Korrespondenz seiner Mutter mit anderen Müttern missgebildeter Kinder und mit Ärzten.

Ob sie ihn wollte vor dem emotionalen Strudel, in den einer gerät, der sich auf die Suche nach dem Warum begibt, und bei Behörden, Politik und Industrie auf Schulterzucken, Desinteresse und Ablehnung stößt. Seine Mutter liegt damals bereits im Wachkoma, er kann ihr noch Fragen stellen, bekommt aber keine Antworten mehr.

15 Operationen hat André Sommer heute hinter sich, allein wegen des künstlichen Harnausgangs am Bauch, von dem keiner weiß, wie lange er hält. Er hat sich seinen Penis rekonstruieren lassen.

„Meiner Mutter bin ich es schuldig, herauszufinden, was wirklich war“, sagt er.

Die Suche nach der Wahrheit über Duogynon ist vor allem ein Kampf der Mütter. Marie Lyon sagt, Sarah, ihre Tochter, wolle mit all dem nichts zu tun haben. Sie ist jetzt 45 Jahre alt, sie will ihr Leben führen, arbeiten gehen, mit Freunden Zeit verbringen. Mit ihrem Arm hat sie sich arrangiert, sie will nicht ständig daran erinnert werden, dass sie anders ist. Aber die Mutter lässt die Frage nach dem Warum nicht los. André Sommer stellt sie stellvertretend für seine Mutter.

Zweimal klagte André Sommer gegen die Bayer AG auf Akteneinsicht. Zweimal hat er wegen Verjährung verloren.

Nun, im Berliner Landesarchiv, hält er zum ersten Mal Dokumente in der Hand, die nie für die Öffentlichkeit geschrieben wurden: Briefwechsel der Schering-Rechtsabteilung mit besorgten Ärzten. Mit Wissenschaftlern, spezialisiert auf die Erforschung von Ursachen embryonaler Fehlbildungen. Sowie: interne Strategieüberlegungen des Konzerns zu Umsätzen und Marktanteilen.

Berliner Staatsanwälte stellten die Akten Ende der siebziger Jahre in einem Ermittlungsverfahren sicher. Mehrere Mütter mit missgebildeten Babys hatten Strafanzeige wegen Körperverletzung erstattet. Auch André Sommers Mutter Lydia Sommer, die Duogynon 1975 von ihrem Hausarzt bekommen hatte, unterstützte diese Gruppe. Im Dezember 1980 wurden die Ermittlungen eingestellt. Die vertraulichen Akten wurden im Landesarchiv weggeschlossen, bis die personenbezogenen Schutzfristen abgelaufen sind. Das kann noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern.

Über Umwege gelangten Kopien der vertraulichen Unterlagen, die im Landesarchiv lagern, auch zur taz. Ob und wie vollständig sie sind, ist ohne die Kooperation der Bayer AG kaum zu beurteilen. Niemand weiß, welches zusätzliche Material in den firmeneigenen Archiven lagert.

In jedem Fall aber zeichnen die Papiere das Psychogramm einer der einst mächtigsten Firmen der Bundesrepublik, der spätestens seit Mitte der sechziger Jahre Zweifel an ihrem Produkt bekannt waren. Und die diesen Zweifeln auch, auf ihre Weise, nachging. Die sich aber dennoch weigerte, Konsequenzen zu ziehen, etwa in Form eines Rückrufs des Medikaments oder weiterer, fundierter Studien – vielleicht auch, weil sie gewiss sein konnte, gesetzeskonform zu handeln.

Der erste öffentliche Hinweis, dass es mit Duogynon ein Problem geben könnte, kommt im Oktober 1967 von der britischen Kinderärztin Isabel Gal. Mütter bringen ihre missgebildeten Babys zu ihr ins Krankenhaus in Surrey. Bis Gal mehr wissen will und die Frauen zu ihrem Medikamentenkonsum während der Schwangerschaft befragt. In einem Artikel für die Fachzeitschrift Nature schreibt Gal, es könne einen Zusammenhang geben zwischen weiblichen Sexualsteroiden und Missbildungen des Neuralrohrs bei Feten – das Schering-Präparat Primodos nennt sie als Risiko.

In den Jahren bis 1973, das zeigen die Unterlagen, führt Schering weitere Experimente zur embryotoxischen Wirkung von Duogynon durch, allerdings nur an Mäusen, Kaninchen und Ratten. Der Grundtenor: Duogynon ist nicht harmlos. Im April 1973 etwa kommt eine Untersuchung an Ratten zu dem Schluss: „Ein Zusammenhang zwischen den gefundenen Anomalien und der Substanzapplikation kann nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden.“

Dazu, ebenfalls 1973, Fotografien geschädigter Kaninchen, ein Horrorkabinett in Schwarz-Weiß: „Mißbildung des Kopfes“, heißt es unter einer Aufnahme, man sieht Schädellücken, durch die sich Hirnteile nach außen wölben.

Duogynon wird weiterhin in Deutschland als Schwangerschaftstest eingesetzt.

„Die haben da bereits Jahre vor meiner Geburt über meine Zukunft und Gesundheitsrisiken geredet, aber nicht gehandelt“, sagt André Sommer.

Warum, fragen sich André Sommer und Marie Lyon heute, warum schritt niemand ein?

Um das zu verstehen, muss man sich die sechziger und frühen siebziger Jahre der Bundesrepublik vergegenwärtigen. Der sorglose Umgang mit Arzneimitteln, die unkritische Fortschrittsgläubigkeit der Nachkriegsgeneration, die spätestens mit dem Siegeszug der Antibabypille die Deutungshoheit darüber gewonnen hatte, dass Hormone doch gar keine richtigen Medikamente seien, all das trug dazu bei, dass der öffentliche Aufschrei gegen Duogynon über Jahre ausblieb. In Deutschland beispielsweise verordneten Frauenärzte Duogynon als Schwangerschaftstest selbst dann noch, als die Arzneimittelkommission im Deutschen Ärzteblatt warnte.

Und auch als die Pillen 1978 in England – nach Finnland und den Niederlanden – wegen Missbildungsgefahr endgültig vom Markt genommen wurden, änderte sich in Deutschland wenig. Es gab bis dahin keine Handhabe, ein Medikament gesetzlich zu verbieten. Schering nimmt nur die Empfehlung von Duogynon als Schwangerschaftstest zurück und benennt das Präparat um. Erst 1981 wurde das Nachfolgeprodukt von dem Konzern selbst aus dem Handel genommen – mit der Begründung, die Behandlung von Menstruationsstörungen mit dem Medikament sei überholt.

Das Strafrecht ahndet individuell nachweisbare Verstöße gegen Gesetze. Aber kann es darüber hinaus Wege geben, moralische Verantwortung zu verhandeln?

Im Contergan-Prozess wurde die Stiftung, aus der Geschädigte bis heute Geld beziehen, nicht infolge einer strafrechtlichen Verurteilung gegründet, sondern aufgrund eines zivilrechtlichen Vergleichs.

Eine Stiftung, das ist auch die Hoffnung vieler Duogynon-Eltern. Sie möchten ihre Kinder abgesichert wissen, sollten sie Hilfe brauchen oder wegen gesundheitlicher Folgeschäden vorzeitig aus dem Berufsleben ausscheiden müssen.

In Großbritannien beschäftigt der Fall inzwischen auch das Parlament: Seit Oktober 2015 überprüft ein Untersuchungsausschuss medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse über Primodos.

Dass es ihn gibt, ist Marie Lyons Verdienst. Sie wartete teilweise über Stunden vor den Büros britischer Parlamentarier, um persönlich mit ihnen über ihr Anliegen zu sprechen.

Waren nicht Aufsichtsbehörden und Politiker zuständig dafür, die Arzneimittelindustrie zu überwachen und die Bevölkerung zu schützen? War es nicht auch ihre Verantwortung?

Auch das soll der Ausschuss nun prüfen. Mit Ergebnissen wird erst in einigen Jahren gerechnet. In Deutschland lehnen Politiker die historische Aufarbeitung bislang ab. „Was, wenn der britische Staat eines Tages Entschädigung zahlt?“, überlegt André Sommer. Würde das in Deutschland etwas bewirken? Darf man Geschädigte hier anders behandeln?

Auch in den sechziger Jahren war es Großbritannien, das zuerst Konsequenzen zog. Die Publikation der Kinderärztin Isabel Gal versetzt den Pharmahersteller 1967 in Alarm. Schering Chemicals Limited, das britische Tochterunternehmen, richtet einen Krisenstab ein. Ein externer Statistiker wird beauftragt, die Erhebung der Wissenschaftlerin zu überprüfen. Gals Bericht aber, urteilt er, sei „an sich korrekt“. Er rät zu weiteren Untersuchungen. Doch die Forschungsabteilung lehnt ab: „Es bestünde die Gefahr, daß eine derart ausgedehnte Studie erst recht die Aufmerksamkeit auf den Verdacht lenken und so zu unerwünschtem Aufsehen führen würde.“

Firmenintern wächst die Beunruhigung: Schering, so mahntder klinische Forschungsleiter aus Großbritannien an, müsse sich „vor Augen halten, daß wir es hier mit einem Produkt zu tun hätten, das in der Lage sei, das chemische Milieu des Föten zu ändern. Wir müßten in dieser Angelegenheit extrem vorsichtig sein.“

Unterdessen lässt die Kinderärztin Isabel Gal nicht locker. Sie erklärt, ihre brisanten Erkenntnisse in ihrer Doktorarbeit veröffentlichen zu wollen.

Nun wagen zwei britische Schering-Mitarbeiter einen ungewöhnlichen Schritt. Am 6. Juni 1968 wenden sie sich mit einem „streng vertraulichen“ Brief an Karlheinz Friebel, den damaligen Leiter der Medizinisch-Wissenschaftlichen Abteilung der Schering AG in Berlin. Sie wollen die Untätigkeit des Mutterkonzerns nicht länger hinnehmen: „Es ist unsere moralische Pflicht als Hersteller, alles Mögliche zu tun, um die Ungefährlichkeit der Präparate, die wir auf dem Markt haben, sicherzustellen“, fordern sie. „Es obliegt uns darzustellen, daß das Präparat sicher im Gebrauch ist, und es obliegt nicht Außenstehenden uns zu beweisen, daß es das nicht ist.“ Das Schreiben gipfelt in einem Appell an das Gewissen der Firma: „In ethischer Hinsicht sind wir nicht mit dem zufrieden, was getan worden ist.“

Eine Studie könnte „erst recht die Aufmerksamkeit auf den Verdacht lenken“, warnen Mitarbeiter

Karlheinz Friebel, der Vorgesetzte aus Berlin, reagiert. Eine Woche später gibt er grünes Licht für eine Prospektivstudie an 5.000 Frauen, ebenso für weitere Tierexperimente.

Aber die britischen Gesundheitsbehörden äußern Bedenken. Eine so große Studie erscheint ihnen zu aufwendig; auch hätten erste behördeneigene Auswertungen zu Primodos ergeben, dass nicht häufigere Missbildungen, sondern eher „eine beträchtlich höhere“ Fehlgeburtenrate zu verzeichnen gewesen sei.

Die Berliner Konzernzentrale entscheidet nach dieser Einschätzung, nun doch nichts zu unternehmen. Sollten derlei Studien bekannt werden, befürchten leitende Schering-Mitarbeiter, drohe dem Konzern eine „negative Publizität mit allen nachteiligen kommerziellen Folgen“.

Die zwei britischen Schering-Mitarbeiter verzweifeln. Sie drängen erneut auf Tierexperimente. Die Ratte sei „kein geeignetes Modell“, schreiben sie im Februar 1969, die Studien müssten zumindest an Pavianen wiederholt werden, da diese den Menschen ähnlicher seien. Unter diesen Umständen aber habe Primodos „keine Berechtigung“ als Schwangerschaftstest mehr. Es sei besser, wenn Schering das Präparat von sich aus vom Markt nehme: „Würden wir zum Rückruf gezwungen, würde das zu erheblicher Publizität im In- und Ausland führen.“

Sechs Jahre später, 1975, schreibt einer der beiden noch einmal nach Berlin. In den „letzten fünf Jahren“, klagt er unter Berufung auf Zahlen aus der britischen Gesundheitsbehörde, habe „die Arzneimittelüberwachung an Schwangeren ergeben, daß bei denen, die einen hormonalen Test gehabt hätten, ein relatives Risiko von 5:1 bestehe, ein mißgebildetes Kind zu bekommen“.

Waren die beiden Briten so etwas wie das Gewissen der Firma? Hatten sie Mitstreiter, möglicherweise auch in der Berliner Zentrale, der das britische Tochterunternehmen unterstand? Je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger wird es, dazu die Zeitzeugen von einst selbst zu hören. Einer der beiden ist bereits verstorben, die Kinderärztin Isabel Gal leidet unter schwerer Demenz. Der taz ist es in wochenlanger Recherche nicht gelungen, den hochrangigen Berliner Schering-Mitarbeiter ausfindig zu machen, der einen Großteil der Berichte ins Deutsche übersetzt hat. Die Bayer AG sieht sich außerstande zu helfen.

Karlheinz Friebel, der frühere Leiter der Medizinisch-Wissenschaftlichen Abteilung, lebt heute als Pensionär in Berlin, ein freundlicher Herr mit brüchiger Stimme, der sich nicht erinnern kann. „Es gab da juristische Auseinandersetzungen“, sagt er an einem Mittag im Dezember 2015 am Telefon. „Aber mehr weiß ich nicht.“ An seine Korrespondenz mit den britischen Mitarbeitern kann er sich nicht erinnern – vielleicht ein Missverständnis?

André Sommer sagt: „Denen ist es immer nur um ihren Profit gegangen und darum, die eigene Haut zu retten.“

Als 1977 die Mutter eines mutmaßlich medikamentengeschädigten Kindes in Großbritannien Schering verklagt, wägt der Konzern in Berlin ab, was für den Umsatz weniger schädlich wäre: Es auf einen Prozess ankommen zu lassen? Oder sich doch lieber im Vorfeld mit der Mutter zu vergleichen? Die Rechtsabteilung notiert: „Der Primodos-Umsatz in England ist offenbar rückläufig. Es bestanden ohnehin schon Überlegungen, das Präparat in England auslaufen zu lassen.“

Bleibt die Imagefrage. „Jedoch würden wir womöglich ein wenig an Glaubwürdigkeit verlieren, wenn unsere eigene Tochtergesellschaft in England schon immer die Auffassung vertreten hat, daß wir mehr hätten tun müssen.“

Schering hat nicht genug getan, sagt der Professor

Ende der siebziger Jahre wächst die Kritik an Schering auch in Deutschland. Mütter machen die Missbildungen ihrer Kinder öffentlich; der Stern titelt 1978: „Tausend Kinder klagen an“. In Berlin geht die Strafanzeige gegen Schering ein. Der Konzern erwägt nun doch, die seit mehr als zehn Jahren diskutierte Studie an Menschenaffen durchzuführen. Im März 1978 reist ein Mitarbeiter aus der Medizinisch-Wissenschaftlichen Abteilung in die USA, zur Universität von Kalifornien. Nach seiner Rückkehr berichtet er seinen Vorgesetzten: „Dr. H. meinte, Studien an Primaten seien nützlich, weil Affen dem Menschen am nächsten stünden. Das sei auch für Experimente, die aus Exculpationsgründen durchgeführt würden, wichtig.“

Exculpationsgründe. Gründe der Freisprechung von Schuld. André Sommer hebt seinen Blick vom Papier und sieht Marie Lyon an. „Die wollten sich nachträglich reinwaschen.“

Doch auch zu dieser Studie kommt es nicht. Schering schrecken der lange Untersuchungszeitraum und die hohen Kosten.

Am 16. Februar 1978 reisen drei hochrangige Schering-Mitarbeiter zu Herbert Tuchmann-Duplessis nach Paris. Der Professor ist ein renommierter Embryotoxikologe, bereits im Contergan-Prozess war er Sachverständiger. Nun will Schering ihn beauftragen – mit einem die Firma entlastenden Gutachten. Doch der Professor zögert, sich einkaufen lassen: „Prof. TD ist der Ansicht, daß Schering nicht genug getan hat.“

Es ist später Nachmittag geworden im Landesarchiv. Marie Lyon und André Sommer haben an diesem Tag keine Pause gemacht, sie sehen erschöpft aus. Aber auch zufrieden. Die Akten könnten ein erster, nächster Schritt sein zu stärkerem öffentlichem Druck.

2009, als das Geld der Contergan-Stiftung längst aufgebraucht war, überwies der Contergan-Hersteller Grünenthal noch einmal 50 Millionen Euro. Viele führen das maßgeblich auf die Ausstrahlung eines Filmes über den Skandal und die anschließende öffentliche Debatte zurück.

Auch ein moralischer Schaden kann ein Unternehmen bewegen zu handeln, wenn es Gerichte nicht mehr können. Es ist eine andere Form von Verhandlung. Ein Prozess, in dem das Urteil noch fallen kann.

Marie Lyon blättert noch einmal weiter zu einem der letzten Einträge. Es ist der Rat, den der Wissenschaftler aus Paris den Schering-Leuten damals, 1978, zu Duogynon mitgab: Sie könnten nur in der Frage der Kausalität argumentieren, also den ursächlichen Zusammenhang bestreiten zwischen der Einnahme und den Missbildungen. In der Schuldfrage dagegen könnten sie nicht gewinnen. Das Problem sei ein moralisches, es komme nun darauf an, die Ehre der Firma zu retten.

Genau so steht es dort auf dem vergilbten Blatt in Marie Lyons Hand: „Save the honor of the company“.

Heike Haarhoff, 46, ist Gesundheitsredakteurin der taz. Sie schrieb im November 2010 ihren ersten Text über Duogynon

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