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Starke Mädchen leben gefährlich

Heute vor zwei Jahren wurde Hatun Sürücü von ihrem Bruder erschossen, weil sie ein selbstbestimmtes Leben führen wollte. Das wird auch weiterhin vielen türkischstämmigen Mädchen verweigert. Arrangierte Ehen gehören zu ihrem Alltag, wie ein Beispiel an einer Hauptschule in Kreuzberg zeigt

VON PLUTONIA PLARRE

Weinend vertraut ein 17-jähriges Mädchen türkischer Herkunft den Lehrern ihrer Schule an: Meine Eltern wollen mich zwangsverheiraten. Die Pädagogen sprechen mit den Eltern, auch das Jugendamt und die Polizei werden hinzugezogen. Trotzdem kann dem Mädchen nicht geholfen werden – es schweigt bei allen weiteren Befragungen.

Der Fall hat sich vor einigen Monaten in Kreuzberg ereignet. Er zeigt, wie hilflos die Berliner Behörden zwei Jahre nach dem Mord an der Deutschkurdin Hatun Sürücü immer noch sind, wenn muslimische Frauen von ihren Familien unterdrückt werden. Heute ist Hatun Sürücüs Todestag. Die 23-Jährige ist von einem ihrer Brüder auf offener Straße erschossen worden, weil sie das Kopftuch abgelegt hatte und ein selbstbestimmtes Leben führen wollte.

Gabriele K. (Name geändert) ist Pädagogin an der Eberhard-Klein-Hauptschule in Kreuzberg. Ihr und einer Kollegin hatte die 17-Jährige anvertraut, dass sie einen noch in der Türkei lebenden Mann heiraten müsse. Dass es nicht gelungen ist, der Schülerin zu helfen, bedauert K. sehr: „Wir haben alles versucht.“

Die Schülerin schweigt

Die Chronologie der Ereignisse beschreibt K. so: Kurz nachdem sich die Schülerin ihr anvertraut hatte, nahmen die Eltern sie von der Schule, damit sie einen Lehrgang absolviert. Der Hintergrund ist, dass man Geld verdienen muss, um einen im Ausland wohnenden Ehepartner nach Deutschland holen zu können. Mit einem Vorwand gelang es den Lehrern, die 17-Jährige nochmals in die Schule zu lotsen. Diesmal war bei dem Gespräch auch die Polizei zugegen. Aber die 17-Jährige sagte nichts mehr. Der Vater wartete am Tor. Auch später beim Jugendamt schwieg sie, anders als ihre Eltern. „Die Stiefmutter verhielt sich ausgesprochen widersprüchlich“, erinnert sich Gabriele K. „Einerseits sagte sie, die Tochter sei mit der Heirat einverstanden. Anderseits hieß es, in ihrer Kultur sei es üblich, dass die Eltern den Ehemann bestimmen.“ Ob die Zwangshochzeit inzwischen vollzogen wurde, hat die Pädagogin nicht in Erfahrung bringen können.

Die Eberhard-Klein-Schule befindet sich nahe dem U-Bahnhof Schlesisches Tor. Alle 300 Schülerinnen und Schüler sind nichtdeutscher Herkunft. 80 Prozent haben einen türkischen Hintergrund. Die Mehrzahl der Mädchen trägt Kopftuch. Ähnliche Fälle von Zwangsverheiratung kommen den Pädagogen sehr selten zu Ohren. Wohl aber, dass die Ehen von zu Hause „arrangiert“ werden. „Das erlebe ich oft“, sagt K. Einige 15- und 16-Jährige seien bereits mit einem ihrer Cousins verlobt. Auch manchen Jungen ergehe es so. „Oft kommt der Partner oder die Partnerin aus der Türkei.“

Wie reagieren die Schülerinnen darauf? „Manche Mädchen finden das ganz normal. Andere fügen sich widerstrebend. Drittte begehren auf“, sagt K. Sie weiß von einem Fall, in dem die Verlobung wieder gelöst wurde, weil das Mädchen sich erfolgreich widersetzte. Aber das sei nicht die Regel – leider. „Es hängt ganz viel davon ab, wie groß der familiäre Druck ist. Ob es Brüder, Onkel und Cousins gibt, die gefährlich werden können.“

„Gefährlich“, dieses Wort verwendet K. immer wieder. Mädchen, die die traditionelle Frauenrolle ablehnen, müssen aus ihrer Familie ausbrechen. Dass sei ein sehr einsamer, schwieriger Schritt, der gefährlich sein könne, obwohl es in Berlin mehrere Organisationen gibt, bei denen die Mädchen Zuflucht finden könnten. Eine Projektwoche der Schule, bei der auch Wohnprojekte für Mädchen in Not besichtigt wurden, hat gezeigt, dass das Interesse riesig sei. „Danach wollten auffallend viele Schülerinnen wissen, wie sie aus ihren Verhältnissen ausbrechen können“, erzählt K.

Ausbrechen kostet Kraft

Das Kollegium der Eberhard-Klein-Schule versucht, diese Mädchen so gut es geht zu stützen. „Sie brauchen eine feste Bezugsperson, der sie vertrauen können.“ Die Mädchen hätten nie gelernt, selbstständig zu denken und zu handeln, sagt K. „Sie brauchen ganz viel Kraft.“

Die Schule nimmt für sich in Anspruch, schon vor dem Mord an Hatun Sürücü für das Problem sensibilisiert gewesen zu sein. Aber seither versucht man, noch mehr zu tun. Schon in den 7. und 8. Klassen wird das traditionelle Rollenverständnis im Klassenrat, getrennt nach Jungen und Mädchen, besprochen. Mit Unterstützung von außerschulischen Partnern, darunter der Verein „Grenzräume“ und die Polizei, werden Veranstaltungen und Workshops abgehalten. Dabei geht es vor allem um „Identitätsbildung“. Die Arbeit sei für alle Beteiligten eine Gradwanderung, sagt K. „Wir wollen die Mädchen stärken, selbstbewusst zu werden, ohne sie in eine gefährliche Konfrontation zu treiben.“

Das ist auch der Grund, warum die Elternarbeit und Hausbesuche verstärkt wurden. Pädagogen suchen jene Eltern persönlich auf, die ihren Töchtern zum Bespiel verbieten, bestimmte Praktikumsstellen anzutreten, weil die Mädchen dort vielleicht belästigt werden könnten. Auch dass Mädchen auffallend oft nicht am Sportunterricht teilnehmen, werde bei den Eltern gezielt angesprochen.

Im Rahmen eines Eltern-Cafés sind an der Schule Schwerpunktveranstaltungen zu Themen wie Pubertät und Zwangsheirat geplant. Einer der letzten Elternabende geriet allerdings zum Flop. Dabei war extra das unverfänglichen Thema „Übergang von der Schule zum Beruf“ gewählt worden. „80 Eltern waren eingeladen“, erzählt K. „40 wurden eigens noch mal angerufen. Vier Eltern sind gekommen.“

Zu den Schülerinnen der Eberhard-Klein-Schule gehören auch die beiden jüngsten Schwestern der Ermordeten Hatun Sürücü. Besser gesagt: gehörten. Die 16-jährige Songül wurde im Sommer 2006 mit dem Hinweis abgemeldet, sie ziehe in die Türkei. „Freiwillig“, wie es hieß. Schwer zu glauben: Im Mordprozess gegen die drei Sürücü-Brüder war herausgekommen, dass sich Songül bei einer Pädagogin erkundigt hatte, wie sie von zu Hause ausbrechen könne.

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