: "Das Leben der Kurdin Sema Alp bestand im Versuch zu überleben"
■ Offener Brief von Riza Baran, migrationspolitischer Sprecher der Grünen, an den Vorsitzenden der CDU-Fraktion, Klaus Landowsky
Sehr geehrter Herr Landowsky,
in Ihrer Rede zu den Vorfällen am israelischen Generalkonsulat haben Sie im Abgeordnetenhaus das jüngste der vier Opfer – die 18jährige Sema Alp – in einem Atemzug mit Ihrer Tochter genannt. Sie haben Ihre Betroffenheit darüber zum Ausdruck gebracht, daß ein junges Mädchen, jünger als Ihre Tochter, so tragisch ums Leben kommen mußte. Das hat mich gerührt, aber auch irritiert.
Deshalb habe ich mich entschlossen, Ihnen einen Brief zu schreiben. Vielleicht ist damit eines zu erreichen: ein wenig mehr Verständnis für das Leiden und die Sorgen der Kurden. Denn ein kurdisches Mädchen wächst unter ganz anderen Bedingungen auf, als Sie es sich möglicherweise vorstellen können. Was mag Sema Alp am Mittag des 17.Februar 1999 zum israelischen Generalkonsulat geführt haben? War das Leben von Sema Alp vergleichbar mit dem Ihrer Tochter? Wie ist sie aufgewachsen?
Sema Alp stammte aus Baglica. Dort lebte ihre Familie seit Generationen – bis der Ort vor ungefähr sieben Jahren vom türkischen Militär dem Erdboden gleichgemacht wurde. Über 3.000 Dörfer wurden bisher in Kurdistan vom türkischen Militär unbewohnbar gemacht. Sema Alp hat die Zerstörung ihres Dorfes miterlebt.
Herr Landowsky, wissen Sie, was das heißt?
Zuerst werden die Männer auf den Dorfplatz getrieben und dann vor den Augen der Frauen und Kinder in jeder denkbaren Form erniedrigt, geohrfeigt, angespuckt. Immer wieder kommen die Soldaten und zeigen den Einheimischen, was sie für sie sind: Dreck, würdelose Menschen. Das geht solange, bis die Menschen ihre Dörfer verlassen, intakte Gemeinschaften werden auseinandergerissen. Anschließend werden die verlassenen Dörfer zerstört. So etwas vergißt ein Kind nie.
Semas Mutter zog mit ihren jüngeren Kindern in die Stadt Kurtalan. Ein Ort im militärischen Belagerungszustand. Der Vater lebte zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehr als 20 Jahren in Berlin, wo er in einer Spinnerei arbeitete. Das Geld, das er nach Kurtalan schickte, wurde dringend benötigt, um das Auskommen der Familie zu sichern. Sema selbst kannte ihren Vater nur von den kurzen Urlaubsbesuchen, die er bei seiner Familie verbrachte. Vor ungefähr vier Jahren holte der Vater seine Familie nach Berlin.
Sema kannte, bevor sie nach Berlin kam, nur das Leben in einem kurdischen Dorf, mit seinen traditionellen Formen. Und sie kannte die Rücksichtslosigkeit, den Zerstörungswillen und die Willkür des militärischen Vorgehens der türkischen Armee. Sie kannte eine Familienstruktur, in der Frauen die Verantwortung für die Kinder tragen, jedoch kaum autonome Entschiedungen treffen dürfen.
In der Stadt Kurtalan war das ländliche Leben, der Umgang mit der Natur, das Leben mit den Tieren, stark eingeschränkt. Statt dessen zeigte die Stadt die Polarisierung zwischen Türken und Kurden im Alltag deutlicher. Die Bewohner sind überwiegend kurdisch, Beamte und Militär dagegen türkisch.
Sema erlebte, wie massiv Kurden ausgegrenzt wurden und werden. Bildung war für Sema in der Türkei kein Recht. Sie ging nur unregelmäßig zur Schule, in der kurdische Kinder in einer ihnen fremden Sprache – dem Türkischen – unterrichtet werden.
Als sie im Alter von 14 Jahren nach Berlin kam, fiel sie auch hier aus dem klassischen Bildungsweg heraus. Lesen und Schreiben lernte sie erst an der Volkshochschule.
Zweimal wurde Sema vollständig entwurzelt, von einem Leben in ein anderes geworfen. Das kurdische Dorf im Kriegsgebiet, die Stadt im Belagerungszustand und die Millionenstadt Berlin: Mehrmals mußte sie sich in eine völlig andere Gesellschaftsordnung hineinfinden, mußte den Umgang mit ganz unterschiedlichen kulturellen Werten erlernen. Eine friedliche Kindheit, die hatte Sema Alp nicht. Im Gegenteil.
Dennoch hat sie versucht, ihr Leben zu finden. Sie war ein eher zurückhaltendes Mädchen, das lieber bei ihrer Mutter blieb, als aus dem Haus zu gehen. Sie wurde nicht bewußt in den Tod gehetzt, sondern war eher zufällig – so ihre 15jährige Schwester Emine – mit der Schwester zum Kurdischen Zentrum gegangen. Von dort aus fuhren Autos zum israelischen Generalkonsulat. Sema Alp stieg in eines ein. Es war das letzte Mal, daß Sema von ihrer Schwester lebend gesehen wurde.
Wo Sema hingehört, das ist auch nach ihrem Tod unklar. Sie ist türkische Staatsangehörige, aber die türkische Fluggesellschaft THY weigerte sich, den Sarg nach Kurdistan zu transportieren. Die Lufthansa hat das übernommen. Jetzt liegt sie in der Erde ihres ehemals zerstörten Dorfes Baglica begraben.
Sema Alp war ein junges Mädchen wie Ihre Tochter, Herr Landowsky. Ein Teenager, der eine Zukunft für sich suchte.
Anders als bei Ihrer Tochter jedoch bestand Semas Leben, nach allem, was daraus bekannt ist, im Versuch zu überleben. Wie schwer dies für ein junges kurdisches Mädchen ist, zeigt ihr Tod. Wir sollten ihn als Verpflichtung verstehen.
Europa und Deutschland dürfen nicht länger zuschauen, sondern müssen politischen Druck auf die türkische Regierung ausüben, das kurdische Volk nicht länger zu unterdrücken und die Menschenrechte endlich zu wahren.
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