„Eine antisemitische Kampagne“


Interview PHILIPP GESSLER

taz: Herr Stein, was haben Ihre Eltern als Holocaust-Überlebende gesagt, als Sie vor einem Jahr Botschafter in Deutschland wurden?

Shimon Stein: Was meine Mutter dazu meint, hatte sie schon vor 20 Jahren gesagt, als ich das erste Mal in Deutschland eingesetzt wurde. Meine Mutter hat das zur Kenntnis genommen. Wenn es nach ihr ginge, wäre ich nicht nach Deutschland gegangen. Aber ich habe die Entscheidung getroffen, mich mit der deutschen Gesellschaft und Geschichte auseinander zu setzen, indem ich hierher ging. Ich hatte also schon 1980 den Rubikon überschritten. So war die Frage dieses Mal nicht aktuell.

War es auch für Sie eine Überwindung, nach Deutschland zu gehen – und dann auch noch in die alte Hauptstadt Berlin, wo damals der Holocaust geplant wurde?

Ich sah die Aufgabe als eine große Herausforderung für mich. Ich habe mich schon als Student für Deutschland und deutsche Geschichte interessiert. Zu meinem persönlichen Interesse kommt das Interesse des Staates Israel, gute Beziehungen zu Deutschland zu halten und sich mit den Fragen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu beschäftigen. Deshalb fiel mir die Entscheidung sehr leicht, als man mir anbot, hierher zu wechseln. Berlin ruft Emotionen hervor, vor allem Erinnerungen. Wie auch immer: Wir sollen uns mit der Vergangenheit auseinander setzen, aber nicht vergessen, dass es auch eine Gegenwart und Zukunft gibt. Das ist es, was Berlin so spannend macht.

Inwieweit bestimmt der Holocaust, der bald 60 Jahre her ist, noch Ihre Arbeit hier in Deutschland?

Für mich als Jude und Israeli ist der Holocaust ein Teil meiner Identität. Auch als Botschafter setze ich mich in zahlreichen Diskussionen mit ihm auseinander. Er bleibt auch in Zukunft ein Ansatzpunkt für die Politik Israels.

Wie war das mit Ihrer Familie: Waren Ihre Frau und Ihre Kinder damit einverstanden, dass Sie nach Deutschland gehen?

Meine Frau war im April 1980, als ich ihr mitteilte, dass ich nach Deutschland gehe, damit nicht einverstanden. Ihre spontane Reaktion war: „Du kannst allein gehen, ich bleibe hier!“ Aber dann kam sie doch mit. Unsere Tochter ist in Bonn auf die Welt gekommen. Meine Frau ist nach fünf Jahren mit positiven Erfahrungen zurück nach Israel gegangen. Sie war auch sehr froh, als ich Botschafter in Berlin wurde.

Ist Ihre Familie jetzt gern in Deutschland, wenn sie zu Besuch kommt?

Ja, gern schon. Man ist ja neugierig. Deutschland ist kein neutraler Begriff. Wenn man nach Berlin kommt, besucht man die Stätten, die für uns Juden eine Bedeutung haben – wie zum Beispiel den Bahnhof Grunewald, von wo die Berliner Juden in die Vernichtungslager deportiert wurden.

Wenn Sie zu solchen Stätten gehen: Ist das eine schmerzhafte Erfahrung?

Das ist eine Erfahrung, die man eben macht und bei der man sich nicht von der Geschichte trennen kann. Das ist interessant, das macht nachdenklich. Man stellt sich immer die Frage: Wie sah es vor 60 Jahren hier aus? Und wie heute?

Sie haben es bereits gesagt: Sie waren von 1980 bis 1985 schon einmal als Botschaftsrat in Bonn. Sie haben die Möglichkeit, die Veränderungen zu sehen, die in Deutschland in den vergangenen 15 Jahren vor sich gegangen sind. Welche Veränderungen gefallen Ihnen und welche nicht?

Deutschland hat sich seit der Wiedervereinigung außerordentlich positiv entwickelt. Das ist eine dynamische Gesellschaft, die weitere Fortschritte in allen Bereichen gemacht hat, etwa bei der Freiheit, bei den Menschenrechten. Gleichzeitig gibt es aber Entwicklungen, die Besorgnis erregend sind wie die rechtsradikale Szene, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit. Diese Phänomene müssen von der ganzen Gesellschaft entschieden bekämpft werden, nicht nur von der Regierung. Man darf sie nicht tolerieren.

Die deutsch-israelischen Beziehungen waren schon mal unproblematischer, siehe etwa der Protest der Außenminister der Europäischen Union gegen die Zerstörung von EU-Projekten in den palästinensischen Gebieten durch Israel. Wie können sich die Beziehungen verbessern?

Die Beziehungen zu Deutschland sind sehr gut, sehr intensiv. In Europa ist Deutschland unser bester Partner. Die Bundesrepublik versucht auch in der EU, unsere Position etwas deutlicher zu machen. Insofern habe ich keinen Grund, mich über die gegenwärtigen Beziehungen zu beklagen. Im Jahr 2000 ist Deutschland Israels größter Handelspartner in Europa geworden. Aber man kann nicht davon ausgehen, dass die Beziehungen, weil sie heute gut sind, es stets bleiben werden. Eine neue Generation wächst heran, die sich nicht immer über das bewusst ist, was wir für wichtig erachten. Deshalb muss es darum gehen, im ständigen Dialog zu bleiben, auch mit den Medien, damit das Bild über Israel nicht immer verzerrt wird. Wir müssen ein größeres Bild anbieten.

Sie haben einmal Israel als zionistisches Land beschrieben, dessen Ziel es sei, alle Juden der Welt nach Israel zu holen. Auch der ehemalige Staatspräsident Israels, Eser Weizman, hat bei einem Deutschland-Besuch gesagt, er könne nicht verstehen, wie man als Jude hier leben kann. Die hiesigen Juden sollten doch nach Israel emigrieren. Plädieren auch Sie dafür, dass möglichst viele Juden in Deutschland nach Israel auswandern?

Als Zionist plädiere ich immer für das Ziel der zionistischen Bewegung, dass Israel die Heimat aller Juden sein muss, die dorthin kommen wollen. Dass Juden nicht nach Israel kommen wollen, ist ihre Entscheidung. Auch wenn ich mit dieser Entscheidung nicht immer einverstanden bin, habe ich Verständnis für die, die diese Entscheidung getroffen haben, sich anderswo niederzulassen. Darüber hinaus ist es für uns von großer Bedeutung, den Dialog mit den Juden in der Diaspora, die eine Realität ist, zu intensivieren, auch hier in Deutschland. Letzten Endes gehören wir einem Volk an.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland und einige Medienforscher vernehmen seit der Intensivierung der Kämpfe in Israel bei der Kritik an der Politik Israels zunehmend antisemitische Hintergrundklänge in deutschen Medien, auch in den seriösen. Haben Sie auch diesen Eindruck?

Kritik ist legitim. Man fragt sich aber immer, welche Motive die Kritik hat. Bei manchen, das muss ich unterstellen, geht es nicht nur um berechtigte Kritik an Israel. Dort stecken manchmal andere Motive, Vorurteile dahinter. Es handelt sich um Leute, die bereits ihre Meinung festgelegt haben. Deshalb kommt es ihnen nicht auf die Einzelheiten an. In der Tat gibt es Vorwürfe, die über die gegenwärtige Politik hinausgehen. Da werden Begriffe benutzt, die uns leider zu Schlussfolgerungen veranlassen, dass es hier nicht um eine legitime Kritik geht, sondern um etwas anderes. Die derzeitige Kritik wird zum Anlass genommen, um anderes zu sagen, was eben nicht mit der gegenwärtigen Politik zu tun hat.

Sie hören da also schon antisemitische Klänge.

Ich gehe sehr vorsichtig mit dem Begriff Antisemitismus um. Antisemitismus gleicht ja nicht einer Kritik an Israel. Kritik ist legitim, wenn sie ausgewogen ist. Bei manchen deutschen Medien ist das auch so, bei manchen jedoch hören wir auch andere Stimmen. Über Deutschland hinaus verfolgen wir mit großer Besorgnis eine neue antisemitische Welle, die sich zum Ziel gesetzt hat, dem Staat Israel das Existenzrecht abzusprechen. Als ob Israel nicht ein gleichberechtigtes Mitglied der Staatengemeinschaft sei. Das ist etwas, was sich in der islamischen Welt vorbereitet. Einer der Höhepunkte war die Konferenz in Durban. Dort gab es von mehr als 100 Staaten den Versuch, den Staat Israel zu delegitimieren, den Holocaust zu verharmlosen und zu relativieren. In der islamischen Welt verfolgen Medien nach dem 11. September eine antisemitische Kampagne. Stereotypen, die in Deutschland in den Dreißigerjahren bekannt waren, kommen heute immer wieder hoch. Das macht uns große Sorgen.

Sind das wirklich antisemitische Tendenzen? Sind es nicht vielmehr antiisraelische Anwürfe?

Das ist eindeutig eine antisemitische Kampagne. Das geht zum Beispiel aus Karikaturen hervor. Wenn wir erfahren, dass in Ägypten eine Fernsehserie in Vorbereitung ist, die sich mit den antisemitischen „Protokollen der Weisen von Zion“ beschäftigt, dann hat das nichts mit der gegenwärtigen Politik des Staates Israel zu tun. Wenn es Aufrufe gibt, den Staat Israel zu liquidieren. Wenn man nicht bereit ist anzuerkennen, dass das jüdische Volk ein Recht auf Selbstbestimmung hat. Wenn es Leute gibt, die behaupten, dass die Juden Schuld am 11. September haben – das sind alles keine ausgewogenen kritischen Stimmen. Das ist etwas anderes. Davor warnen wir. Wir haben aus der Vergangenheit die Schlussfolgerung gezogen: Mit Worten kann man viel ausrichten. Das endet nicht nur mit Worten. Das ist die Herausforderung des Westens im Hinblick auf die Geschichte, dies alles nicht zu ignorieren und wegzuschauen. Um dann zu sagen: „Na ja, was konnten wir eigentlich tun?“ Man kann sehr viel unternehmen! Das sollte Teil des Dialogs Deutschlands und anderer europäischer Länder mit Staaten sein, die Antisemitismus als Mittel wählen, um gegen Israel eine Kampagne zu führen.

Der Holocaust ist für die israelische Identität zentral. Er scheint allerdings – so sehen es zumindest einige deutsche Kommentatoren – in der deutschen Politik als Bezugspunkt zu verblassen. Glauben Sie, dass sich dadurch auch die deutsch-israelischen Beziehungen verändern werden?

Alle führenden Politiker dieses Landes sind fest davon überzeugt, dass das nicht stattfinden soll. Das bezieht sich zunächst nicht auf die deutsch-israelischen Beziehungen, sondern betrifft erst einmal ein historisches Ereignis, das für Deutschland eine große Bedeutung hat – und erst dann Deutschlands Beziehungen zu seinen Nachbarn und zu Israel. Für uns Israelis wird der Holocaust immer Bestandteil der deutsch-israelischen Beziehungen sein.

Haben Sie denn den Eindruck, dass die Erinnerung an den Holocaust in Deutschland nach fast 60 Jahren langsam zu einer Floskel verkommt?

Ich hoffe, dass das nicht der Fall ist! Ich bin sicher, was die Politiker und die Elite anbelangt, dass dies keine Floskel ist. Es ist wichtig, das zu wiederholen und klar festzustellen für alle Politiker und die Elite dieses Landes. Dinge, die man wiederholen muss, können zu einem Ritual werden. Aber auch Rituale haben ihre Bedeutung, man kann sie nicht von vornherein ablehnen. Die wichtige Frage ist, was man operativ mit diesen Ritualen tut. Die Frage ist, ob der 27. Januar ein Tag ist, an dem man sich an die Befreiung von Auschwitz erinnert und am 28. man schon wieder zur Tagesordnung übergeht.

Ist das so?

Der 27. Januar sollte die Deutschen veranlassen, Schlussfolgerungen über das Jahr hinweg als Aufgabe zu begreifen. Deutschland muss meiner Auffassung nach hier eine moralische Verantwortung übernehmen im Hinblick auf seine Geschichte. Wenn es um Antisemitismus geht, muss Deutschland das in seinen Dialog mit der arabischen und islamischen Welt aufnehmen. Das ist nur ein Beispiel. Die Lehren aus dem Holocaust sollten, so meine ich, Teil der deutschen Außenpolitik sein. Das ist eine Daueraufgabe für die deutsche Außenpolitik.

Sie konstatieren eine neue antisemitische Welle: Haben Sie den Eindruck, dass sich die deutschen Intellektuellen hier zu wenig zu Wort melden?

Ja, eindeutig.

Wie erklären Sie sich das?

Vielleicht sind sie nicht darauf aufmerksam geworden. Vielleicht haben sie andere Aufgaben. Ich weiß nicht, inwieweit sich Intellektuelle in Deutschland so oft zu Wort melden. Ich habe nicht den Eindruck, dass allzu viele Intellektuelle aktiv an der Debatte politischer oder gesellschaftlicher Fragen teilnehmen. Nur ab und zu hört man etwas.

Im Prozess der deutschen Wiedervereinigung gab es gewichtige Stimmen in Israel, unter anderem vom damaligen Ministerpräsidenten, Jitzhak Schamir, die vor der Vereinigung warnten. Waren die Warnungen damals gerechtfertigt?

Da wir gerade bei den deutschen Intellektuellen waren: Es gab auch unter ihnen welche, die vor der Wiedervereinigung warnten. Ich wäre gespannt zu hören, wie die heute die Wiedervereinigung sehen. Ich kann nicht für die Kritiker in Israel sprechen. Ich nahm die Wiedervereinigung als historische Tatsache. Nach fast zwölf Jahren kann man sagen: Die Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil, ich hatte damals keine Angst, und die habe ich auch heute nicht vor einem wiedervereinigten Deutschland.

Hat sich durch die zunehmenden Kämpfe in Israel die Zahl der Israelgegner, vielleicht auch der Antisemiten in der Bundesrepublik erhöht?

Das ist nicht auszuschließen. Wir versuchen alles zu tun, um durch einen Dialog mit den Medien eine ausgewogene Berichterstattung zu ermöglichen. Die Medien sind dem deutschen Publikum eine ausgewogene und breite Berichterstattung und Information schuldig. Das wird nicht immer so empfunden. Deshalb kommt es oft zu einem Urteil, das unserer Ansicht nach nicht berechtigt ist. Der Konflikt, in dem wir stecken, hat seine Wurzeln. Für uns fängt das Problem ja nicht mit den Palästinensern an – und es hört auch nicht bei ihnen auf. In dieser Zeit kämpfen wir um die Existenz des Staates. Es geht um das Existenzrecht, das für unsere Nachbarn nicht selbstverständlich ist. Wir haben Probleme mit entfernteren Nachbarn wie etwa dem Iran und dem Irak. Sie stehen uns feindlich gegenüber, tun so, als ob sie Israel liquidieren möchten. Da gibt es etwa die Aussage des früheren iranischen Präsidenten Haschemi Rafsandschani, der im Dezember sagte: Wenn wir eine Atombombe hätten, würden wir sie gegen Israel einsetzen.

Prof. Grözinger, Dozent für Jüdische Studien an der Universität Potsdam, stellt eine „zunehmende Erosion der Sensibilität des Umgangs mit dem Thema Judentum und Israel“ fest. Sind Sie auch dieser Meinung?

Ich teile seine Meinung.

Was kann man dagegen tun?

Es muss um Aufklärung gehen. Nicht nur bei den Medien. Es geht auch um die Schule, wo das jüdische Volk und sein Streben nach Selbstbestimmung und die Geschichte des Konfliktes geschildert werden müssen. Man muss davon ausgehen, dass die nachwachsende Generation hier einen Nachholbedarf hat.

Zum Abschluss: Wenn Ihre 19-jährige Tochter einen Deutschen heiraten wollte, würden Sie sich darüber freuen?

Wissen Sie, wir leben in einem Zeitalter, in dem Kinder ihre Eltern nicht mehr fragen, was sie mit ihrem eigenen Leben tun wollen. Sollte meine Tochter zu meiner Frau und mir kommen und sagen, dass das ihre Entscheidung ist, dann ist sie meine Tochter, wird sie meine Tochter bleiben, und ich werde sie weiter lieben. Das ist ihre Entscheidung, die ich akzeptieren werde.

Aber freuen würden Sie sich nicht?

Wenn es meiner Tochter Freude macht, dann freue ich mich auch darüber.