piwik no script img

Was ziehen wir uns an?

Wenn Frauen sich verschleiern, geht im Westen der Hut hoch. Kann es einen universalen Feminismus geben? Eine Antwort

Wie die beiden Hälften eines Apfels ergänzen und vereinen sich Frau und MannNach postmodernen Irrungen scheinen wir wieder am Anfang zu sein: in der Moderne

von DILEK ZAPTÇIOGLU

Vor einigen Jahren wartete ich mit meinem kleinen Sohn im Berliner Flughafen Tegel auf das Flugzeug nach Istanbul. Zu uns gesellte sich ein anderer Junge; die beiden begannen, zusammen zu spielen. Bald kam seine Mutter hinzu: eine junge Frau mit einem Kopftuch und einem langen Mantel. Wie das Mütter so tun, plauderten wir erst eine Weile über unsere Kinder, dann über dies und jenes. Auf einmal sagte sie seufzend: „Im Gegensatz zu mir hast du es ja gut hier in Deutschland.“

Ich muss sie verwundert angeschaut haben, denn sie schob gleich die Erklärung nach: „Nun ja, du bist frei angezogen, aber ich werde von den Deutschen wegen meines Kopftuchs immer misstrauisch beäugt, manchmal sogar angepöbelt.“ Das Erste, was ich fühlte, war merkwürdigerweise Scham. Ich schämte mich dafür, dass es mir „gut ging“, während sie unter Diskriminierung litt.

Hatte ich sie verraten? Nein, denn ich fühlte mich ja mit ihr solidarisch. Trotzdem fehlten mir die Worte. Ich brachte es fertig, ihr zu sagen, dass es nicht auf Äußerlichkeiten ankomme, sondern darauf, was für ein Mensch man sei – obwohl ein Kopftuch bestimmt keine „reine Äußerlichkeit“ ist. Diejenigen, die sie diskriminierten, seien intolerant, fügte ich ganz banal hinzu. Aber ich redete mich nur von ihr fort. Der Graben zwischen uns schien plötzlich unüberbrückbar, obwohl wir noch kurz davor völlig unprätentiös über unsere Kinder geplaudert hatten. War ich für sie die „Andere“, obwohl wir dieselbe Sprache sprachen? Woher kam auf einmal diese Fremdheit? Diese Gräben haben wir Frauen mit unterschiedlichen Lebensweisen bisher nicht überbrücken können. So sollte uns nicht erstaunen, dass aus ihnen mittlerweile Schützengräben wurden.

Jetzt kämpfen die Guten gegen das Böse. Und die Frauen sitzen beiderseits hinter (und auch unter) den tapferen Soldaten – hier als die Freien, dort als die noch zu Befreienden. Und die wenigen, die dazwischen lauthals „Dialog!“ rufen, hören die Kugeln um die Ohren zischen. Der Schleier ist wieder einmal zum Symbol, der Frauenkörper zum Schlachtfeld geworden. Unsere Ent- und Verhüllung entscheidet über unseren Platz in diesem Krieg. Was ziehen wir uns an?

Nach postmodernen Irrungen scheinen wir wieder am Anfang angekommen zu sein: in der Moderne mit all ihren Schikanen. Fortschrittsdenken und Frauenbefreiung als das Lackmuspapier aller Modernisierung. Es wird aber keinen Frieden geben, solange die wirklichen Motive der Kriege und „Zivilisationskonflikte“ nicht offen gelegt sind. Wir müssen uns vor der Kulturalisierung der Politik befreien. Ein homogener Block aus „islamischer Welt“ und der imaginären Masse der Muslime, die außer ihrer religiösen Identität keine Eigenschaften besitzen, ist Nonsens.

Die Welt in Kategorien von „wir“ und „sie“ zu deuten mündet zwangsläufig in Feindbilder. Wer kein Interesse daran haben kann, Söhne und Männer in den Krieg zu schicken, sind die Frauen. Kluge Frauen in Ost und West, Süd und Nord müssen jetzt versuchen, miteinander zu sprechen.

Von neuem stehen wir vor der Herausforderung, nationalistische und kulturelle Grenzen zu überwinden und, unsere Differenzen nicht verschweigend, in den Dialog zu treten. Vor allem müssen Frauen sagen können, dass eine „Befreiung“ durch Bush-Krieger, die ohnehin nur für Herrschaft und Geld kämpfen, nicht erwünscht ist.

Wären wir intellektuell noch ohne Vorbehalte in der Moderne verankert, hätte meine Antwort auf dem Flughafen anders gelautet: „Warum trägst du dieses Kopftuch? Kämpf doch für deine Rechte!“ Von Feministinnen wie der Marokkanerin Fatima Mernissi inspiriert, die Frauenrechte im Islam selbst zu begründen versuchen, hätte ich ihr das Vorbild Aischas, der Lieblingsfrau des Propheten, als Spiegel vorhalten und erzählen können, dass die Muslimin in der „Ära der Glückseligkeit“, der Zeit Mohammeds, nie so unterdrückt wurde wie heute: „Sie zog sogar mit in den Krieg“, hätte ich ihr, wie eine Glanzleistung der Gleichberechtigung, vorhalten können.

Aber hatten nicht gerade die jungen islamischen Aktivistinnen uns „Verwestlichte“ seit über einem Jahrzehnt gelehrt, dass Frauen sich sehr wohl aus freiem Willen verhüllen konnten? Sahen nicht sogar säkulare Sozialwissenschaftlerinnen wie die türkische Akademikerin Nilüfer Göle in der „Kopftuchbewegung“ einen authentischen Weg der Frauenbefreiung in islamischen Ländern – nach dem Motto „Damit verlassen sie Heim und Herd, um den öffentlichen Raum zu betreten und ihre traditionelle untergeordnete Rolle gegen eine aktive, selbstbewusste einzutauschen“?

Zu erkennen, dass eine Frau, die sich aus eigener Entscheidung heraus verhüllt, eine Strategie entwickelt, um auf ihre Weise mit dem Patriarchat fertig zu werden, fällt vielen Frauen offensichtlich schwer. Tausende von Kopftuch tragenden Studentinnen in der Türkei, die sonst frühzeitig geheiratet und sich der Tradition gebeugt hätten, sprechen jedoch für sich. Mit der Anerkennung ihrer Rechte ist das Problem aber noch nicht gelöst. Vor allem den säkular denkenden Frauen in islamischen Gesellschaften, die sich seit der Ende der Kolonialisierung mühsam Freiheiten erkämpft haben, wird durch die „gesittete islamische Frau“ ein Gegenentwurf präsentiert, der sie als „unmoralisch und verdorben“ denunziert und das Patriarchat aufrechterhält.

Neben diesem Vorbehalt gibt es die Angst vor dem totalitären Staat und dem Terror fundamentalistischer Gruppen: Terror und Totalitarismus sind aber keine Themen, über die mit diesen Frauen nicht geredet werden könnte – falls man sie beim Wort nimmt und ihnen keine „Verschleierung ihrer wahren Absichten“ (Takiyye) vorwirft, wie es oft geschieht.

Der Islam hat, wie die anderen großen Religionen vor ihm, von Anfang an das Ideal eines neuen Menschen entworfen. Dieser neue Mensch sollte mit den alten, unislamischen Traditionen brechen, auch wenn sein Vater sie ihm befahl. Insofern richtete er sich auch gegen das Patriarchat in Arabien, das kleine Mädchen lebendig im Sand begrub.

Sein Ziel war es, eine gerechte, auf der transzendentalen Harmonie beruhende Gesellschaft zu schaffen. Es gab nichts, was außerhalb des Islam war: Alle Lebewesen hatten ihren von Gott definierten, vorgesehenen Platz in dieser Ordnung, deren Einhaltung dem Menschen eins versprach: Frieden. Wie die Gender-Studies-Professorin Deniz Kandiyoti in ihrem Buch „Sklavinnen, Schwestern und Bürgerinnen – Identitäten und sozialer Wandel“ beschreibt, sind nach islamischem Selbstverständnis Frau und Mann nicht gleich, aber gleichwertig. Wie zwei Hälften eines Apfels ergänzen sich die gefühlvolle, warmherzige, zärtliche Frau und der starke, harte, mehr auf Verstand als aufs Herz hörende Mann. Sie sind prädestiniert, sich zu vereinen.

In der Familie kommen beide ihren Pflichten nach, leben ihre Sexualität aus, finden Ruhe. Die Familie ist der Mikrokosmos der Gesellschaft, die ebenfalls aus Ungleichen besteht, aber harmonisch und gerecht funktioniert, wenn jeder Gläubige seine Pflichten wahrnimmt. Wenn es die größte Sünde im Islam ist, Gott ideelle oder materielle „Partner“ zuzuschreiben, zählt Ehebruch zu den großen Vergehen, weil er die wichtigste Zelle der neuen Gesellschaft zerstört. Sowohl die Frau als auch der Mann sollen sich an das Verbot halten.

Dieses Ideal des neuen Menschen und der neuen Gesellschaft – sieht man einmal von der Zeit des Propheten ab – ist nie verwirklicht worden. Beispielsweise gibt es keinen Mann, der wegen Ehebruchs bestraft worden wäre, während in manchen islamischen Ländern wie Saudi-Arabien oder Nigeria die Steinigung von Ehebrecherinnen praktiziert wird. Gleichwohl existiert das Ideal heute in den Köpfen vieler junger Aktivisten als eine politische und soziale Utopie. Wenn Islamistinnen heute mit ehrlicher Kraft versuchen, diesem Ideal gerecht zu werden, und sich auf diese Weise dem Patriarchat widersetzen, ihre Grenzen zu verschieben versuchen, stoßen sie auf Männer, die daran gewöhnt sind, ihre Dominanz durch Religion zu rechtfertigen.

In ihrem Buch „Der Mann im Islam“ versucht die bekannte türkische Islamistin Emine Senlikoglu, die Männer daran zu erinnern, dass auch sie sich an das Ideal zu halten haben. Ihre Worte lesen sich wie das Manifest der neuen Frauen des Islam: „Wenn sich heute manche Männer wie Götter sehen, dann hängt das zweifellos mit ihrer Ignoranz zusammen. Im Islam hat auch der Mann sich zu verändern.“ Der Begriff „Gleichwertigkeit“ (versus Gleichheit) hat bis heute beim Schisma zwischen „uns“ und „ihnen“ eine Schlüsselrolle gespielt.

Aber sind die Frauen im Westen inzwischen nicht auch klüger geworden? Sind Frauen in der Bundeswehr eine Errungenschaft? Haben wir uns einen Gefallen getan, als wir erstens Geld verdienen und Karriere machen, zweitens gute Mütter sein, drittens eine glückliche Partnerschaft haben – alles zusammen – wollten und uns dabei verausgabten?

Was haben wir gedacht, als unsere Solidarität zwischen Bürotischen und Karriereleitern auf der Strecke blieb? Warum laufen wir der Schönheit und Jugend so verzweifelt nach, obwohl wir uns doch angeblich längst von diesen Zwängen befreit haben? Was unterscheidet die These, dass Frauen von der Venus und Männer vom Mars sind, von dem islamischen Verständnis von Mann und Frau?

Und: Was hat das alles mit Freiheit zu tun? Ist die Fabrikarbeiterin ohne Kopftuch befreit? Sollen wir uns über die „Befreiung der Afghanin von ihrer Burka“ freuen, während wir uns sonst kein Stück dafür interessieren, wie ihr weiteres Leben im neuen, ölreichen Hinterhof Amerikas aussehen wird? Warum gehört in islamischen Ländern die „Feministin“ im westlichen Sinne fast immer der Oberschicht an, während islamische Aktivistinnen, die auf andere Weise um ihre Rechte kämpfen, aus den unteren Klassen stammen? Was hat Kultur mit Politik und Wirtschaft, was hat das alles mit der Globalisierung zu tun?

Die Kulturalisierung des Diskurses in der Frauenbewegung muss selbstkritisch überwunden werden. Der orientalistische Blick sieht im Islam eine totale, repressive Ideologie, die die Situation (nicht nur) der Frauen allein bestimmt. Auf der anderen Seite stehen muslimische Frauenrechtlerinnen, die denselben Blick umkehren, indem sie die „Westlerin“ verteufeln, zumindest bemitleiden. In der großen Grauzone zwischen diesen beiden Polen jedoch liegt ein weites Feld aus Macht, Herrschaft, Abhängigkeit, Marktgesetzen, Patriarchat und täglichen Überlebensstrategien der Frauen.

Um tausende von Menschen zu töten, braucht man keinen Einzigen von ihnen zu kennen. Eine feste Meinung von ihnen genügt. Wie schwierig es jedoch ist, einen einzigen Menschen zu gebären, großzuziehen und wirklich kennen zu lernen, wissen am besten wir Frauen. Also lasst uns miteinander reden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen