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„Musik ist gefährlich“

„Wagner ist symptomatisch für den jüdischen Umgang mit nichtjüdischen Angelegenheiten“„Wagner war ein Nationalist, aber deswegen kann man ihn nicht für Auschwitz verantwortlich machen“„Scharon muss sagen: Meine Strategie hat nicht funktioniert. Ich nehme meinen Hut und gehe“

Interview RALPH BOLLMANN

taz: Herr Barenboim, als erster Musiker überhaupt dirigieren Sie von Sonntag an die zehn großen Wagner-Opern innerhalb von nur 14 Tagen – und das gleich zweimal hintereinander. Was treibt Sie zu diesem Hochleistungssport?

Daniel Barenboim: Das athletische Element ist für mich absolut unwichtig. Ich schiele nicht auf das Guinnessbuch der Rekorde. Der Zyklus, den wir machen, ist eine ungeheure Reise. Da sieht man wirklich die ganze Entwicklung: Jede der zehn großen Wagner-Opern ist eine neue Entdeckung, eine neue Welt – wie bei den neun Sinfonien von Beethoven.

Mit Wagner als Menschen, haben Sie einmal gesagt, möchten Sie nicht einmal einen Tag verbringen.

Viel lieber mit Mozart. Das würde mir mehr Spaß machen. Wagners Prosa, „Das Judentum in der Musik“ – das ist ja etwas Fürchterliches.

Wie könne Sie das trennen – die Musik und den Menschen?

Wagner hat es selber getrennt. Sonst hätte er eine Oper über das Judentum geschrieben. Es gibt in diesen zehn Opern nichts, was man als antisemitisch bezeichnen kann. Es gibt nicht einen Charakter in diesen Stücken, der auch nur die Hälfte der antisemitischen Klischees enthält wie zum Beispiel Shylock bei Shakespeare.

Woody Allen sagt in einem seiner Filme: Beim Hören von Wagner bekomme er immer Lust, in Polen einzumarschieren.

Das sind Assoziationen, die gewachsen sind. Die Ideologie vom Übermenschen ist bei Wagner im Prinzip schon da. Aber wie sie von den Nazis entwickelt wurde – das steht nirgendwo in den Wagner-Opern. Überhaupt nicht. Es ist gefährlich, einem Thema kritisch gegenüberzustehen zur falschen Zeit.

Das müssen Sie erklären.

Heute würden wir nicht eine Sekunde tolerieren, dass es irgendwo auf der Welt Sklaven gibt. Vor 200 Jahren war es die Norm. Deswegen können Sie nicht sagen, dass die Sklavenhalter unmenschlich waren. Den Antisemitismus von Wagner kann man nicht mit den Augen der Nach-Nazizeit betrachten.

Soll das heißen: Sie betrachten Wagners Antisemitismus als „normal“?

Es gehörte zum Profil eines deutschen Nationalisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, auch antisemitisch zu sein. Und Wagner war ein großer deutscher Nationalist. Aber man kann ihn deswegen nicht für Auschwitz verantwortlich machen.

Genau das ist unter Forschern umstritten: Wurde Wagner von den Nazis nur benutzt? Oder hat Hitler einen beträchtlichen Teil seiner Ideen aus Wagner-Opern bezogen?

Hat er bestimmt. Er hat sich als Rienzi gefühlt.

Und für die heutige Wagner-Rezeption spielt das gar keine Rolle?

Für mich spielt es in den Opern keine Rolle.

Über den Dirigenten Wilhelm Furtwängler, eines Ihrer musikalischen Vorbilder, ist gerade ein neuer Film herausgekommen. Haben Sie ihn schon gesehen?

Natürlich. Hat Furtwängler es richtig gemacht, dass er in Deutschland geblieben ist – oder hätte er emigrieren müssen? Ich habe keine Antwort auf diese Frage.

Furtwängler hat so sehr zwischen seiner künstlerischen Arbeit und der Politik getrennt, dass er nach dem Krieg gar nicht verstanden hat, was die Amerikaner von ihm wollten.

Furtwängler war in vieler Hinsicht sehr naiv. Musik wurde von allen totalitären Regimes benutzt, egal ob rechts oder links. Goebbels hatte die Kunst der Propaganda entwickelt wie niemand zuvor.

Durfte man als Künstler im 20. Jahrhundert so naiv sein?

Aus heutiger Sicht natürlich nicht. Aber damals? Furtwängler hat es sich jedenfalls nicht leicht gemacht. Er hätte in New York oder anderswo ein sehr leichtes Leben haben können. Er ist geblieben, weil er wusste: Wie er mit den Berliner Philharmonikern musiziert, kann er woanders nicht musizieren. Das stimmte. Er war angewiesen auf seine Musiker, die so spielten, wie er das mochte und wollte.

Haben sich die unpolitischen Deutschen in die Musik geflüchtet? Liegt es auch daran, dass Deutschland in der Musikgeschichte eine solch überragende Rolle gespielt hat?

Möglich. Musik war in Deutschland Jahrhunderte lang ein organischer Teil der Gesellschaft. Es hat sich jeder damit beschäftigt. Musik war etwas, womit sich die Deutschen zum Ausdruck gebracht haben. Das ist in anderen Ländern nicht der Fall. In Frankreich ist es vielleicht mehr die Malerei.

Bot sich die Musik an, weil sie die Unpolitischste aller Künste ist?

Musik ist total abstrakt. Alles, was wir über die Musik sagen, sagen wir nicht über die Musik selbst – sondern darüber, wie wir auf Musik reagieren. Musik ist mathematisch? Stimmt vielleicht. Musik ist sinnlich? Stimmt auch. Deswegen kann man Musik nicht benutzen. Aber deswegen ist Musik auch so gefährlich. Sie ist einerseits etwas sehr Rationales. Andererseits kann sie den Menschen zu wahnsinnigen Taten bringen, weil sie uns so aufwühlt. Aus diesem Grund waren viele der alten Griechen gegen musikalische Erziehung in der Schule – weil es für die Kinder zu gefährlich war.

Bei einem Konzert in Israel haben Sie voriges Jahr Wagner als Zugabe gespielt – und einen Eklat provoziert.

Es gab keinen Eklat im Konzert. Vor der Wagner-Zugabe habe ich 45 Minuten lang mit dem Publikum gesprochen. Jeder, der sie nicht hören wollte, konnte hinausgehen. Von den 3.000 Menschen im Saal sind vielleicht 20 oder 40 gegangen. Mehr als 2.900 sind geblieben. Der so genannte Eklat kam erst am nächsten Tag. Von Leuten, die überhaupt nicht da gewesen sind. Ich verstehe, dass es Menschen gibt, die mit Wagners Musik furchtbare Assoziationen verbinden. Aber ich kann nicht akzeptieren, dass jemand in seiner Wohnung in Haifa sitzt – und daran leidet, dass in Jerusalem gerade Wagner gespielt wird.

Warum ist es so wichtig, in Israel Wagner zu spielen?

Die israelische Gesellschaft ist voller Paradoxa. Auf der einen Seite haben wir eine beispielhafte Demokratie. Andererseits gibt es bestimmte Tabus, an die man nicht rühren darf. Demokratie heißt aber auch: keine Tabus.

Woher kommen diese Tabus?

Das jüdische Volk ist 2.000 Jahre lang als Minderheit über die ganze Welt gewandert. Dann wurde der Staat Israel gegründet. Plötzlich gab es nicht nur jüdische Künstler oder Bankiers, sondern auch jüdische Polizei, jüdische Soldaten, jüdische Prostituierte – alles, was in einem normalen Staat existiert. Diesen Übergang von der Minderheit zur Mehrheit haben wir wunderbar geschafft. Nur: 19 Jahre später …

 nach dem Sechstagekrieg 1967 …

… fanden wir uns in der Kontrolle über eine andere Minderheit wieder. Das hätte einen weiteren Übergang bringen müssen: Wie gehe ich mit einer Minderheit um, die unter meiner Kontrolle ist? Wir haben nicht wahrgenommen, dass wir nicht mehr nur ein Volk waren, sondern auch eine Nation. Wir werden nicht mehr von außen definiert, wir müssen uns selber definieren. Das haben wir nicht geschafft. Ein gläubiger Jude ist sehr leicht zu beschreiben. Aber was ist ein nichtgläubiger Jude? Und, noch viel wichtiger: Inwiefern ist ein nichtgläubiger Jude anders als ein nichtgläubiger Nichtjude?

Lässt sich diese Frage überhaupt beantworten – ohne ethnische Kategorien zu benutzen?

Vielleicht ist es nicht zu schaffen. Ich weiß es nicht. Aber was machen wir stattdessen? Wir halten uns an alte Gewohnheiten und alte Ängste vor Antisemitismus in der Diaspora. Wagner ist ein Teil davon. Die Leute sagen: Wagner? Hier auf keinen Fall! Wagner ist symptomatisch für den Umgang mit nichtjüdischen Angelegenheiten überhaupt.

Ist die Angst vor dem Antisemitismus nicht nach wie vor berechtigt?

Man kann die Nichtakzeptanz des israelischen Staates durch die Araber nicht mit dem europäischen Antisemitismus gleichsetzen. Sie ist eine Reaktion darauf, dass wir in diese Region zurückgekommen sind.

Israel hat sich von Anfang an als jüdischer Staat definiert. Bedroht das, was Sie fordern, nicht die Grundlage dieses Staates?

Nein. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass es eine Berechtigung für Israel als einen Staat gibt, wo die Juden hinkommen und wo sie leben können. Nur müssen wir auch sehen, wie sich das Land entwickelt hat. Wir müssen wahrnehmen, dass 20 Prozent der Bevölkerung keine Juden sind – in Israel selbst, ohne die besetzten Gebiete.

Vor zwei Wochen wollten Sie ein Konzert in Ramallah geben, dem Sitz der palästinensischen Autonomieregierung. Das israelische Militär hat Ihnen die Reise nach Ramallah verboten. Wollten die Behörden Ihren Auftritt verhindern?

Ich nehme das nicht als eine politische Aussage. Wahrscheinlich wussten sie, dass sie Ramallah am nächsten Tag bombardieren würden – und sie wollten nicht, dass ein Israeli dabei ums Leben kommt.

Was hätten Sie sich von Ihrem Konzert versprochen? Gibt es so etwas wie die viel beschworene „humanitäre Botschaft“ der Musik?

Ich verspreche mir davon, dass die Menschen dort sehen: Nicht jeder Israeli ist ein Soldat. Sondern hier ist ein Musiker, der etwas gemeinsam hat mit den Menschen, die in Ramallah leben und Musik studieren – jemand, der die gleiche Leidenschaft teilt. Dass ihnen bewusst wird: Es gibt so vieles, das man gemeinsam hat. Das ist die Basis für Verständnis. Nicht das, was uns trennt und wo wir unterschiedlich sind.

Warum soll gerade Musik dabei helfen – und spielt es eine Rolle, welche Musik es ist?

Nein, das spielt überhaupt keine Rolle. Ich würde Musik nie für einen Zweck benutzen. Musik ist eben das, was ich persönlich machen kann. Und sie hat den Vorteil, dass Menschen zusammensitzen und zuhören. Wenn es ihnen gefällt, haben sie positive Gedanken und positive Gefühle – gegenüber der Musik und gegenüber demjenigen, der spielt. Das schafft ein positives Gefühl von Gemeinschaft.

Was ist Ihre Prognose für den Friedensprozess: Werden Sie das Konzert bald nachholen können?

Ich hoffe es. Aber ich bin kein Politiker. Ich weiß nur eines: Es gibt keine militärische Option – nicht moralisch, aber auch nicht strategisch. Viele Israelis träumen davon, dass die Palästinenser irgendwie verschwinden werden. Und viele Palästinenser hoffen, dass die Israelis verschwinden werden. Das wird nicht passieren. Früher oder später werden wir zu einem pragmatischen Frieden kommen müssen.

Geht das mit Scharon?

Es geht nicht mit Scharon, und es geht nicht mit Arafat. Gäbe es einen Frieden, wäre dieser Frieden natürlich an Konzessionen von beiden Seiten gebunden. Von israelischer Seite heißt das auf jeden Fall: Die jüdischen Siedlungen im Westjordanland müssten abgebaut werden. Dort leben 200.000 Menschen. Von ihnen würden vielleicht 180.000 oder 190.000 gehen, wenn sie entschädigt werden. Aber ein kleiner Kern wird das nicht machen – und diese Leute sind alle bewaffnet. Es besteht die Möglichkeit eines Bürgerkriegs.

Nur auf israelischer Seite?

Auf palästinensischer Seite auch. Da gibt es Gruppen wie Hamas oder Dschihad, die einen Kompromiss nicht akzeptieren werden. Deshalb fürchten sich die politischen Führer der beiden Völker wahrscheinlich vor dem Frieden. Das ist der einzige Konflikt in der Geschichte, wo man denkt: Auch eine Lösung ist keine Lösung.

Wenn Sie sagen: Mit Scharon und Arafat geht es nicht – welchen realistischen Weg gibt es zu ihrer Ablösung?

Das ist nicht einfach. Man sieht keine Persönlichkeiten. Was ist der Unterschied zwischen einem Militär und einem Politiker? Ein Militär muss zerstören, um seine Aufgabe zu erfüllen. Ein Politiker muss alles tun, um nichts zu zerstören. Ein Militär fällt die Bäume, und ein Politiker pflanzt sie. Jetzt schauen Sie, wie viele israelische Ministerpräsidenten …

 Militärs waren?

Die haben eine andere Funktion. Es war weiß Gott notwendig, starke Militärs in Israel zu haben. Aber was ist passiert? Arafat war der Mann, der dieses Volk ein halbes Jahrhundert lang zusammengehalten hat, um zu kämpfen. Ist er der Mann, um dieses Volk zu regieren? Wahrscheinlich nicht.

Und Scharon?

Scharon hat bewiesen, dass seine militärische Strategie auch als solche nicht funktioniert. Scharon wurde vom israelischen Volk wegen zwei Versprechungen gewählt: Frieden und Sicherheit. Frieden gibt es nicht, und das Land war nie so unsicher wie heute. Also muss er der Ehrlichkeit halber sagen: Meine Strategie hat nicht funktioniert. Ich nehme meinen Hut und gehe. Das tut er aber nicht. Auch Arafat hat seinem Volk so viel versprochen und es nicht erfüllt.

Auch Arafat wird kaum von alleine zurücktreten.

In Palästina müssen unbedingt demokratische Wahlen kommen. Ich bin hundertprozentig sicher, dass es genug Palästinenser gibt, die den Frieden wollen. Auch mit Israel. Einen pragmatischen Frieden. Nicht mehr. Dafür brauchen diese Menschen aber die Demokratie. Sie können nicht mit einem Autokraten umgehen, mit dem eine differenzierte Diskussion nicht möglich ist.

Bislang galt Arafat im Westen als Garant dafür, dass sich bei den Palästinensern nicht noch radikalere Kräfte durchsetzen.

Natürlich. Weil Arafat ein Symbol ist. Er ist der einzige, der es irgendwie noch schaffen kann, für alle nach außen zu sprechen. Aber nach innen ist der Mangel an Demokratie und die Korruption ein Problem, das viele Leute in Palästina beschäftigt.

Und wer garantiert Ihnen, dass das Pendel bei Wahlen nicht in die radikale Richtung ausschlägt?

Vielleicht ist der Wunsch der Vater meines Gedankens. Aber die Mehrheit der Palästinenser weiß, dass es keine andere Lösung gibt. Die Radikalen haben keine Lösung. Sie haben nur eine negative Energie, die aus Hass und Rache kommt. Das ist auch der Grund, warum ich mich in diesen Konflikt eingemischt habe. Für mich ist das keine politische Frage: mehr nach rechts oder mehr nach links? Es ist ein menschliches Problem, das mit der Existenz unseres Volkes zu tun hat. Aber wenn ich die Lösung hätte, dann würde ich nicht in Berlin sein und Wagner dirigieren. Dann wäre ich dort.

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