talkshow: Der Wunsch nach Eskapismus
Die Situation im Gazastreifen ist durch nichts zu rechtfertigen, sagen sogar Israels Verbündete. Israel sollte deshalb endlich von internationalen Wettbewerben wie dem Eurovision Song Contest ausgeschlossen werden

Von Daniel Bax
Seit Anfang März lässt Israel keine Hilfslieferungen in den Gazastreifen. Nahrungsmittel und Medikamente gehen aus und Hilfsorganisationen warnen vor einer massiven Hungersnot. Der Nothilfekoordinator der UN, Tom Fletcher, prangerte die Blockade am Dienstag im UN-Sicherheitsrat an. Israel schaffe „bewusst und schamlos unmenschliche Bedingungen“, sagte er, und sprach von einem drohenden Völkermord. „Welche Beweise brauchen Sie jetzt noch?“, fragte er.
Derweil kündigt Netanjahu einen weiteren Vormarsch an. Doch die Kritik daran wird immer lauter. Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez bezeichnete Israel in dieser Woche als „genozidalen Staat“. Frankreichs Präsident Emanuel Macron nannte Israels Vorgehen „inakzeptabel“ und eine „Schande“. Selbst Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni, die bisher zum Vorgehen ihres Verbündeten in Israel geschwiegen hatte, bezeichnete die Lage im Gazastreifen als „durch nichts zu rechtfertigen“. Nur die deutsche Regierung versucht weiter so zu tun, als sei alles wie immer. Friedrich Merz hält stur daran fest, Benjamin Netanjahu nach Deutschland einzuladen, obwohl der wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen gesucht wird, und Frank-Walter Steinmeier schüttelte Netanjahu in Jerusalem die Hand: ein Symbolbild für deutsche Realitätsverweigerung.
Es ist längst überfällig, Israel von internationalen Wettbewerben wie dem Eurovision Song Contest auszuschließen. Das gilt auch für europäische Fußball-Wettbewerbe, wie man es mit russischen Mannschaften nach Russlands Angriff auf die Ukraine getan hat.
Dass es in Israel demokratischer zugeht als in Russland ist kein Argument dagegen: Auch Demokratien müssen sich im Krieg an Regeln halten und das Völkerrecht achten. Die Teilnahme Israels an diesen Wettbewerben dient nur dazu, den Schein einer Normalität aufrechtzuerhalten, die es längst nicht mehr gibt. Der ESC macht sich damit außerdem zu einer Bühne für israelische Propaganda.
Dass man von dort in diesem Jahr eine Sängerin schickt, die den Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 überlebt hat, passt in die propagandistische Linie der Regierung, immer wieder auf die Kriegsverbrechen der Hamas und das dadurch verursachte Leid hinzuweisen, um von eigenen Kriegsverbrechen abzulenken oder diese gar zu rechtfertigen. Yuval Raphael ist eine unpolitische Sängerin, versteht sich aber dezidiert als Botschafterin ihres Landes. Ihre vordergründig ebenfalls unpolitische Ballade „New Day Will Rise“ handelt von Trauer und Selbstbehauptung angesichts eines erzwungenen Abschieds und kann, sicher kein Zufall, durchaus nationalistisch gelesen werden.
Doch beim Eurovision Song Contest möchte man zwanghaft beim „business as usual“ bleiben. Zwar haben die Rundfunkanstalten Spaniens, Islands und Sloweniens und über 70 ehemalige Eurovision-Teilnehmer gefordert, Israel vom Musikwettbewerb auszuschließen. Sie werfen Israels öffentlich-rechtlichem Sender KAN vor, eine Mitschuld an der Entmenschlichung der Palästinenserinnen und Palästinenser zu tragen, die die brutale Kriegsführung begünstigt. Doch die Europäische Rundfunkunion (EBU), die den Musikwettbewerb veranstaltet und in der Deutschland als größter Beitragszahler eine zentrale Rolle spielt, setzt sich darüber hinweg. Man möchte sich die schöne Show nicht verderben lassen.
Dieser Eskapismus entspricht dem deutschen Hang zur Realitätsverleugnung, der auch in der Medien- und Kulturbranche verbreitet ist. Zum Start der Filmfestspiele in Cannes haben Stars wie Javier Bardem, Julie Delpy und weitere Filmschaffende gerade in einem offenen Brief den „Völkermord“ in Gaza verurteilt. Jurypräsidentin Juliette Binoche erinnerte an die palästinensische Fotojournalistin Fatima Hassouna, die mit ihren Verwandten im April bei einem israelischen Luftangriff auf ihr Haus getötet wurde und deren Film an der Croisette gezeigt wird.
Bei der Verleihung des deutschen Filmpreises in Berlin applaudierte das Publikum dagegen kürzlich brav einem Wolf Biermann, der mit einem leicht abgewandelten Golda-Meir-Zitat zynisch den Palästinenserinnen und Palästinensern selbst die Schuld daran gab, dass sie getötet werden.
Zugleich werden in Deutschland inzwischen reihenweise Konzerte von Bands wie Kneecap und The Murder Capital abgesagt, weil sie Israel zu scharf kritisieren – ohne dass sich dagegen Protest regt. Das Schweigen der deutschen Musikszene dazu ist beängstigend.
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