Nichtwähler*innen: Ohne Stimme
Rund 12 Millionen Erwachsene und rund 14 Millionen Kinder und Jugendliche, die hier leben, dürfen nicht wählen. Mit einigen hat die taz gesprochen.
Auf Emine Yildiz' Enkelkinder ist Verlass
I ch kam 1972 das erste Mal nach Deutschland. Mein Mann kam bereits ein Jahr früher als ich, als Gastarbeiter. So wie viele andere wollten wir nur kurz bleiben, arbeiten, Geld sparen und dann zurück nach Istanbul. Doch daraus wurde nichts, wir blieben. Zwei meiner Kinder sind in Deutschland geboren, einer von ihnen hat den deutschen Pass. Darauf waren wir sehr stolz – der Erste aus der Familie, der Deutscher wurde. Wir machten uns auch ein wenig lustig über ihn und nannten ihn „Hans“. Und natürlich bewunderten wir diesen roten Pass mit dem goldenen Adler darauf.
Ich habe die türkische Staatsangehörigkeit, darf in der Türkei wählen, aber das ist doch blöd. Dort lebe ich seit über 50 Jahren nicht mehr! Und warum darf ich nicht in dem Land wählen, in dem ich lebe? Das ist doch nicht demokratisch, oder?
Ich erinnere mich an Willy Brandt, den damaligen Bundeskanzler. Er hielt eine Rede auf unserem Marktplatz und setzte sich für uns ein, für die Integration der Migranten. Er sorgte für den Ausbau von Bildungs- und Sprachprogrammen für Gastarbeiter. Das war wichtig, denn er stellte sicher, dass wir langfristig Teil der deutschen Gesellschaft werden konnten. Und das sind wir ja auch geworden. Wir sind der Beweis. Aber die SPD hat ihren Geist verloren. Sie ist nicht mehr das, was sie einmal war.
Manchmal denke ich: „Ja, Emine, vielleicht kommt ja irgendwann das Wahlrecht für alle.“ Dann lache ich. Es gibt leider nur noch Anfeindungen. Vielleicht sollten wir aber wieder mehr daran arbeiten, die Migranten zu integrieren, anstatt sie in irgendwelchen Heimen abzuschotten und mit dem Finger auf sie zu zeigen. Kein Wunder, dass die Leute verrückt werden.
Diese Migrationsdebatte geht die ganze Zeit. Was ist mit all den anderen wichtigen Themen? Gesundheit zum Beispiel? Oder Bildung? Die jungen Menschen wissen vielleicht nicht einmal, was der Holocaust war oder wie viele Menschen dabei ums Leben kamen. Das ist schlimm. Ich würde so gerne auch mit meiner Stimme ein Teil der Gesellschaft sein. Aber so bleibt mir nur die Meinungsfreiheit – besser als nichts, sage ich immer. Die Frage ist nur: Wie lange noch? Ich habe zum ersten Mal in den 53 Jahren, die ich hier bin, Angst. Angst vor dem Faschismus in Europa und davor, was uns noch bevorstehen könnte.
Wenn ich am Sonntag wählen könnte, dann würde ich auf jeden Fall die Linke wählen. Beide Stimmen würde ich ihr geben. Aber immerhin habe ich noch Enkelkinder, die wählen dürfen, weil sie Deutsche sind. Da bin ich sicher, dass zumindest ein paar Stimmen aus meiner Familie nicht verloren gehen. Protokoll: Derya Türkmen. Emine Yildiz ist ihre Großmutter
Rizeq D. will fair behandelt werden
Ich komme aus Aleppo in Syrien. Im März werde ich 32 Jahre alt. Seit Juli 2019 lebe ich in Deutschland. Weil ich über Griechenland nach Deutschland gekommen bin, ist mein Fall kompliziert, bis heute habe ich keinen Aufenthaltstitel. Aber ich habe Deutsch bis B 2 gelernt und den B-1-Test gemacht. Außerdem habe ich als Freiwilliger im Café eines Projekts namens Refugio gearbeitet. Ich bin inzwischen ein wirklich guter Barista!
Wäre ich in Syrien geblieben, hätte das Assad-Regime mich zum Militärdienst eingezogen. Aber ich wollte nicht einer von denen werden, die Unschuldige töten. Nachdem das Regime gestürzt wurde, hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge alle offenen Fälle eingefroren, auch meinen. Wie es jetzt weitergeht, weiß ich nicht. An den Neuwahlen darf ich nicht teilnehmen, was wirklich traurig ist für jemanden, der seit fast sechs Jahren hier lebt und einen Beitrag zur Gesellschaft leistet. Ich möchte ein echter Teil der Gesellschaft sein und nicht nur eine Nummer in der Flüchtlingskrise.
Es ist jedes Mal so hart, wenn ich in den Nachrichten Sachen höre wie: „Diese Leute arbeiten nicht, sie zahlen keine Steuern.“ Ich darf ja gar nicht arbeiten. Ich habe sogar eine Umschulung im IT-Bereich gemacht, aber wer soll mir einen Job geben, wenn ich keine Arbeitserlaubnis habe? Du kommst hier an, und dann wartest du lange, lange Zeit. In meinem Fall gab es überhaupt keine Möglichkeit, an einem Deutschkurs teilzunehmen. Ich habe Sozialhilfe bekommen, aber ich hätte viel lieber gearbeitet.
Immer wenn nach einem Terroranschlag die populistischen Reden losgehen, bin ich – wie viele Menschen – unter Stress. Wir tun wirklich unser Bestes und versuchen, alles richtig zu machen. Die Menschen sind hierhergekommen, um Frieden und Sicherheit zu finden. Wir lernen die Sprache und wir sind bereit zu arbeiten. Im Gegenzug wollen wir fair behandelt werden, das ist alles.
Ich wünsche mir von der neuen Regierung, dass sie nicht nur auf die AfD schielt, sondern auf ihre eigentlichen Wähler. Dass sie sich nicht unter Druck setzen lässt. Abschieben hilft nicht gegen Hass, Rassismus, Sexismus. Das Einzige, was wir dagegen tun können, ist politische Bildung.
Fluchtursachen bekämpfen, heißt es immer. Wenn die Regierung das Problem wirklich an der Wurzel löst, dann indem sie keine Waffen mehr an verrückte Regierungen liefert. Wenn wir Kriege beenden wollen, müssen wir aufhören, Krieg auf kapitalistische Weise zu führen. Denn das macht das Leben zur Hölle und das bedeutet, dass die Menschen nicht in ihrer Heimat leben können. Protokoll: Franziska Schindler, 13. Februar
Anastasia Magasowa fragt sich, warum Deutschland nicht mehr funktioniert
Vor etwa 15 Jahren kam ich zum ersten Mal nach Deutschland. Damals, als 20-jährige Ukrainerin, war es meine erste Reise ins Ausland, und ich verbrachte zwei Tage in Berlin. Das war für mich – wie man so schön sagt – Liebe auf den ersten Blick.
Seitdem bin ich immer wieder nach Deutschland zurückgekehrt, bis ich Ende 2019 endgültig nach Berlin zog, kurz vor Beginn der Coronapandemie. Kein besonders günstiger Zeitpunkt, um es milde auszudrücken. Aber eine durchaus lehrreiche Erfahrung.
Heute habe ich das Gefühl, dass ich die deutsche Gesellschaft recht gut verstehe und dass sie zu meiner eigenen geworden ist. Meine Begeisterung für Deutschland begann bereits in der Schulzeit, als ich anfing, die deutsche Sprache zu lernen. Die reiche kulturelle Tradition, die Fähigkeit, Verantwortung für schreckliche Verbrechen zu tragen und Schuld zu sühnen, sowie die Kraft, aus der Asche wieder aufzuerstehen – all das weckte mein Interesse und meinen Respekt für dieses Land.
Ich nahm die deutsche Gesellschaft als eine wahr, die es jedem ermöglicht, seinen Platz darin zu finden – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder sexueller Orientierung. Ein Staat, in dem alle Prozesse durchdacht und geregelt sind, in dem Bürgerinnen und Bürger nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte haben und in dem das Gesetz sowohl schützt als auch gerecht bestraft.
Von außen schien Deutschland immer ein Land zu sein, in dem alles funktioniert: Wo Züge pünktlich sind, wo hohe Steuern zwar gezahlt werden, aber dafür auch ein umfassendes soziales System existiert. Die Realität von innen erwies sich als weitaus härter. Oder hat sich in all den Jahren vielleicht tatsächlich etwas grundlegend verändert?
Letzte Woche hatte ich einen Arzttermin. Die Behandlung begann mit einer Stunde Verspätung. Als ich mich darüber beschwerte, erhielt ich die Antwort: „Seien Sie froh, dass Sie überhaupt einen Termin bekommen haben – in der Stadt gibt es für die nächsten zwei Monate keine mehr.“
Nach dem Arztbesuch ging ich in den Supermarkt. Vor dem Eingang saß ein junger Obdachloser, der perfektes Deutsch sprach und offen zugab, dass er um Geld für Weed bettelte. Für den Heimweg wollte ich den Bus nehmen, doch der kam auch zehn Minuten nach der geplanten Abfahrtszeit nicht. Also beschloss ich, zu Fuß zu gehen.
Auf einer ruhigen Straße in Kreuzberg war der halbe Gehweg mit Müll und Hundekot bedeckt. Und das nicht nur, weil nicht regelmäßig gereinigt wird, sondern auch, weil Menschen selbst nicht auf ihre Umgebung achten. Ich kann nicht genau sagen, wann etwas schiefgelaufen ist, aber so, wie es jetzt ist, sollte es nicht sein.
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Ich kann auch immer noch nicht glauben, wie rasant radikale Bewegungen in Deutschland an Popularität gewinnen. Dass das Gefühl von Sicherheit und Toleranz durch Angst und Hass ersetzt wurde. Dass ehemalige Pazifist:innen heute bereit sind, einen Kriegsverbrecher zu umarmen.
Vor dem Hintergrund dieser inneren Herausforderungen werden nun auch in der Außenpolitik noch größere Erwartungen an die deutsche Regierung gestellt. Der amerikanische Präsident Trump hat mit seiner Bewunderung für Putin den Europäer:innen unmissverständlich klargemacht, dass sie auf sich allein gestellt sind.
Die europäische Sicherheitsarchitektur wird nicht mehr so sein, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde. Die Zeit des Nachdenkens ist vorbei – es ist Zeit zu handeln. Ist Europa, angeführt von Deutschland, bereit für diese Verantwortung und Selbstverteidigung? Es sieht nicht danach aus, aber ich hoffe, dass es so sein wird.
Ich bin fast froh, dass ich bei diesen Wahlen kein Stimmrecht habe. Jede der derzeitigen deutschen Parteien hat zahlreiche Fehler gemacht, einige davon schwerwiegend. Dennoch sollten sich die Deutschen bei ihrer Wahl daran erinnern, welche demokratischen Werte das Fundament ihres Staates bilden – und welchen Preis sie für ihre Freiheit gezahlt haben.
Die Ukrainer:innen, von denen mittlerweile rund eine Million in Deutschland leben, setzen große Hoffnungen auf die Weisheit des deutschen Volkes. Denn inzwischen ist es ohne Zweifel unser gemeinsamer Krieg. Anastasia Magasowa, 17. Februar
Emil ist zehn und will wählen
Dass nur Erwachsene wählen dürfen, finde ich nicht gut. Klar gibt es Kinder, die interessieren sich gar nicht für Politik, und die würden vielleicht einfach das ankreuzen, was ihre Eltern gut finden. Wählen ist schon eine Verantwortung. Aber mit 14 Jahren hat ja eigentlich jeder ein Handy und kann sich informieren.
Mich interessiert es jedenfalls, wer in der nächsten Regierung sitzt. Auch die anderen in meiner Klasse, ich gehe in die vierte Klasse, reden manchmal über Politik. Viele finden es blöd, dass die AfD in den Umfragen gerade so hoch steht. Einer von uns findet die CDU toll. Aber die meisten finden die Grünen gut, weil die für die Umwelt sind.
Ich schaue gerne Nachrichten im Fernsehen und ich lese manchmal auch in der Zeitung einen Artikel. Ich war ziemlich schockiert, als Merz mit der AfD zusammengearbeitet hat. Er hat für ein Gesetz die Stimmen von der AfD bekommen und er hat gesagt, er hat keinen Fehler gemacht. Dafür fand ich dann die Rede von der Linken, Heidi Reichinnek richtig toll, als sie gesagt hat, dass man Widerstand leisten soll. Ich war auch demonstrieren, hier in Berlin, gegen die AfD. Ich hoffe, die Linke schafft es in den Bundestag.
Die AfD ist für Abschiebung und dass man die Grenzen für Flüchtlinge schließt. Das finde ich nicht gut. Außerdem arbeiten auch viele der Menschen hier, zum Beispiel in den Restaurants, wir brauchen sie. Wenn die AfD Macht bekommt, hätte ich selbst Sorge, dass ich dann nicht mehr demonstrieren gehen darf. Dass sie die Protestierenden niederschlagen oder so.
In meinem Wahlkreis kenne ich alle Direktkandidaten, ich sehe sie immer auf den Plakaten, wenn ich zur Schule fahre. Die Grünen und die SPD wollen Kitas und Schulen renovieren. Das finde ich gut. Aber wenn ich könnte, würde ich den linken Kandidaten wählen, weil ich jetzt Linke-Fan bin.
Die zweite Stimme würden die Grünen bekommen. Das Klima ist mir sehr wichtig. Ich finde es wichtig, dass Deutschland klimaneutral wird. Warum strengen wir uns da nicht mehr an? Kann man die Erderwärmung eigentlich auch wieder rückgängig machen? Jedenfalls will ich nicht, dass wieder Atomkraftwerke gebaut werden.
Ich fände es auch gut, wenn die neue Regierung mehr Steuern von reichen Leuten verlangt. Dann müssten zum Beispiel die Lieferando-Fahrer weniger zahlen. Ich habe neulich den Wahl-O-Mat gemacht, da kam raus, dass ich Grüne, SPD oder Linke wählen sollte. Das hab ich mir schon so gedacht.
Was die Regierung vermutlich nicht ändern kann: Das Essen in der Schule ist nicht lecker. Ich habe oft mal Bauchschmerzen. Aber das müssen die Schulen vermutlich selbst machen. Ich bin da im Schulparlament. Protokoll: Anna Klöpper, 11. Februar
Puk Norwood kann nicht eingebürgert werden
Ich bin in Freiburg geboren und aufgewachsen, aber meine Eltern kommen aus den USA. Als weiße Person habe ich nicht realisiert, dass ich Ausländer bin – bis ich mit 18 Jahren einen Anruf von der Polizei bekam. Ich sei illegal in Deutschland, wurde mir gesagt, weil ich mich nicht um meinen Aufenthaltstitel gekümmert hatte.
In Deutschland ist die Staatsangehörigkeit an die Familie geknüpft, in den USA daran, ob man dort geboren ist. Ich bin zwischen diesen beiden Ideen von Staatsbürgerschaft auf die Welt gekommen und gehöre zu den zwölf Millionen Erwachsenen, die in Deutschland nicht wählen dürfen.
Dabei war für mich immer klar, dass ich nach Deutschland gehöre. Mit 18 habe ich mich nur deshalb gegen die Einbürgerung entschieden, weil außer meinen Eltern und Geschwistern alle meine Verwandten in den USA leben. Meine Großmutter zum Beispiel. Mir war es wichtig, dass ich sie schnell besuchen kann, wenn sie krank wird, ohne erst ein Visum beantragen zu müssen. Aber dann wurde Trump US-Präsident. Seitdem macht es mir Angst, nur die US-Staatsbürgerschaft zu haben. Ich bin trans und mache gerade eine Transition. Es kann gut sein, dass ich eines Tages nicht mehr in die USA zurückkehren kann.
Aber seit die Ampel das Staatsbürgerschaftsrecht geändert hat, kann ich nicht mehr Deutscher werden. Auch vorher galt schon, dass Menschen sich nicht einbürgern lassen können, wenn sie Sozialhilfe beziehen. Aber es gab Ausnahmen für diejenigen, die nichts dafür können, dass sie auf solche Leistungen angewiesen sind. Das wurde gestrichen. Mich betrifft das, weil ich behindert bin und Eingliederungshilfe bekomme.
Die „guten“ und die „schlechten“ Migrant*innen auf diese Weise voneinander zu trennen, das geht gar nicht! Alle Menschen, die hier leben, sollten auch hier wählen dürfen. Das ist die einfache Antwort auf unsere komplexe globale Gesellschaft.
Ich engagiere mich in der Initiative Wahlkreis 100 %, die zum Bündnis Wir Wählen gehört. Unsere Gruppe hält in Freiburg symbolische Wahlen ab. In der ganzen Stadt stehen wir mit Wahlständen und laden die Menschen ein, daran teilzunehmen. Hier in Freiburg ist jede fünfte erwachsene Person wegen ihrer Staatsbürgerschaft von Wahlen ausgeschlossen. Wir zählen dann die Stimmen aus und übergeben die Ergebnisse an die Stadtpolitiker*innen. Wer an unseren Stand kommt und die deutsche Staatsbürgerschaft hat, kann parallel an einer Unterschriftenaktion für das Wahlrecht für alle teilnehmen.
Ich wünsche mir von der neuen Bundesregierung, dass sie Migration als etwas Positives anerkennt. Sie gehört zum Menschsein dazu. Protokoll: Franziska Schindler, 4. Februar
Nicole Zehnder will linke Politik
Ich bin in der Nähe von Basel aufgewachsen, nahe der französischen und der deutschen Grenze. Während meines Studiums war ich in Frankreich, in Portugal, im italienischen Teil der Schweiz – ich habe Europa immer als etwas Ganzes erlebt, wo man sich aussuchen kann, wo man leben möchte.
Mein Partner ist Deutscher. Nach dem Studium ist er mit mir in die Schweiz gekommen. Dort wurde damals über die „Masseneinwanderungsinitiative“ abgestimmt, es ging überall darum, Einwanderung zu limitieren. Weil mein Partner keinen unbefristeten Vertrag hatte, bekam er jedes halbe Jahr die Aufforderung, doch bitte das Land zu verlassen. Das hat das Leben für uns als internationales Paar sehr unattraktiv gemacht.
Nach Deutschland wollte ich nicht wirklich. Als Architektin ist die Arbeit in der Schweiz viel spannender. Es war eher eine Entscheidung für Berlin: Ich fand das toll, eine künstlerisch-alternative Stadt, sehr international, mit einer linken Szene – das hat mir in der Schweiz immer gefehlt. Wir haben einen kleinen Sohn. Hier ist die Kita gratis, wir konnten beide in Elternzeit gehen. Für uns lebt es sich hier viel gleichberechtigter, als das in der Schweiz möglich wäre.
Wenn ich mit Freund*innen über die Wahl rede, stutzen viele, wenn ich sage, dass ich nicht wählen darf. Alle wissen, dass ich Schweizerin bin, aber ich werde oft nicht als Ausländerin wahrgenommen, schon gar nicht als Nicht-EU-Bürgerin. Ich bin in der Schweiz wahlberechtigt, vom Schulrat bis zum Parlament. Aber das wird mir zunehmend fremd. Was hier passiert, ist mir viel näher und betrifft mich viel direkter.
Das erste Mal über Einbürgerung nachgedacht habe ich, als Russland die Ukraine angriff. Mich hat der Gedanke geängstigt, dass überall die Mauern höher werden und wir als Familie mit unterschiedlichen Staatsbürgerschaften da nicht reinpassen. Die Voraussetzungen erfülle ich, meinen Schweizer Pass darf ich behalten – am Ende bin ich an der Überlastung der Berliner Bürokratie gescheitert. Es hätte bis zu zwei Jahren gedauert, bis mein Antrag bearbeitet wird. Gerade vor der Wahl fuchst mich sehr, dass mich das so abgeschreckt hat. So war es schon, als nach der Berliner Wiederholungswahl die CDU übernommen hat. Ich fand es schön, an einem Ort zu leben, der links regiert wird. Wo Fahrradwege Priorität haben oder Kunst für alle zugänglich ist. Ich fürchte, dass es nach der Wahl aber weiter nach rechts geht. Manchmal denke ich: Dann geh ich halt. Andererseits – wohin? Und dann denke ich umso mehr, dass ich mich einbürgern lassen, noch mehr einbringen und engagieren sollte, auch im Lokalen. Um dem etwas entgegenzusetzen. Protokoll: Dinah Riese, 10. Februar
Martin Bouko* will das Recht auf Familienleben
Ich kann nicht wählen, weil ich keinen deutschen Pass habe. Dabei hat die Politik unmittelbare Auswirkungen auf mein Leben. Ich bin bei einer Zeitarbeitsfirma beschäftigt und habe einen dauerhaften Aufenthaltstitel. In drei Wochen werden meine drei Kinder aus Kamerun nach Deutschland kommen. Zehn Jahre waren wir voneinander getrennt. Jahrelang habe ich für den Familiennachzug gekämpft.
Was letzte Woche im Bundestag passiert ist, ist eine Katastrophe. Beinahe hätte das Parlament für ein Gesetz gestimmt, das Tausende Familien für immer getrennt hätte. Niemand verlässt seine Angehörigen einfach so. Die Gründe dafür, nicht zusammen zu fliehen, sind meistens brutal: Kriege, Natur- oder Klimakatastrophen, Verfolgung wegen Religionszugehörigkeit oder sexueller Orientierung.
Jeder Mensch hat das Recht auf Familienleben, das ist ein grundlegendes Menschenrecht. Die Bundesregierung muss dieses Recht achten und sich für den Schutz von Familien einsetzen. Die enormen bürokratischen Hürden beim Familiennachzug müssen abgebaut werden. Insgesamt sollten die Abgeordneten Immigration nicht als Unglück sehen, sondern als Form der internationalen Solidarität mit anderen Völkern.
Von der neuen Bundesregierung fordere ich, Asylverfahren nach den Standards des internationalen Rechts durchzuführen. Und dass die Menschen, die hier leben, eine Chance auf Integration bekommen. Dazu gehören Sprachkurse, dass man arbeiten oder eine Berufsausbildung absolvieren darf. Anstatt Hass zu säen, sollte die Politik Rassismus und alle anderen Formen der Diskriminierung vehement bekämpfen. * Name geändert, Protokoll: Franziska Schindler, 5. Februar
Stina Uebe ist fünf Monate zu jung zum Wählen
Ich bin 17 Jahre alt und hätte dieses Jahr eigentlich zum ersten Mal bei einer Bundestagswahl teilnehmen sollen. Doch da die Wahl vorgezogen wurde, klappt das jetzt nicht. Zwischen Februar und September werden viele Jugendliche aus dem Jahrgang 2007 volljährig, die ihre Stimme nun nicht abgeben dürfen. Das ist sehr ärgerlich. Es geht nur um wenige Monate!
Es verständlich, dass jüngere Kinder noch kein Wahlrecht haben, weil sie noch nicht in der Lage sind, sich ausreichend zu informieren und dann eine eigene Meinung zu bilden. Aber bei uns geht es nur um ein paar Monate, wegen derer wir jetzt nicht über unsere Zukunft mitentscheiden dürfen. Dabei gehören wir zu der Generation, die mit den Folgen politischer Entscheidungen mit am längsten leben muss.
In unserem Alter sind wir durchaus in der Lage, politische Entscheidungen zu durchdenken. Wir bekommen tagtäglich mit, was in der Welt geschieht. Man kann sich ziemlich hilflos fühlen, wenn man dann von großen Entscheidungen wie der über den neuen Bundestag ausgeschlossen wird. Es ist angsteinflößend und frustrierend, wenn man realisiert, dass viele Menschen in Deutschland politische Entscheidungen treffen, die man für falsch hält. Gerade in solchen Momenten wünscht man sich, selbst Einfluss nehmen zu können.
So viele Wahlberechtigte sind 70 Jahre und älter. Sie müssen die Folgen einiger Entscheidungen nicht mehr so lange mittragen wie wir. Ob sie da wirklich mit Blick auf die Zukunft unserer Generation wählen und nicht nur auf die nächsten Jahre? Es macht mir Sorge, dass sie so viel Macht über meine Zukunft haben.
Viele Leute wählen auch aus Angst vor der Zukunft AfD. Das hat sich zum Beispiel im letzten Jahr bei den Landtagswahlen gezeigt. Da erhielt die AfD die größte Zustimmung auf dem Land, wo die Wähler*innen ihre wirtschaftliche Lage als eher schlecht beschrieben haben. Außerdem sind viele Wähler*innen von den anderen Parteien enttäuscht und sagen, dass die AfD durch ihr lautes und auffälliges Verhalten für sie „Stärke“ verkörpert. Das alles spricht doch dafür, dass es umso wichtiger ist, unsere Generation stärker einzubeziehen, zu informieren und uns Kontrolle über unsere Zukunft zu geben, anstatt dies den Älteren zu überlassen.
Viele Jugendliche engagieren sich schon: bei Fridays for Future, Demos oder in sozialen Medien. So wollen wir zeigen, dass wir Verantwortung übernehmen können und auch wollen. Ich würde mir wünschen, dass wir nur, weil wir „zu jung“ sind, nicht vergessen werden und andere Mitbestimmungsrechte bekommen, um uns aktiv beteiligen zu können. Es geht schließlich um die Gestaltung unserer Zukunft. Protokoll vom 2. Februar
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