die ortsbegehung: Bedrohte Punks im Bremer Ausgehviertel
Mit Hilfe von außen entstand in den 80er Jahren das Hausprojekt Friesenstraßen 94, mitten in Bremens beliebtem Steintorviertel. Nun stehen Immobilienmakler vor der Tür
Aus Bremen Andreas Schnell
Nein, hinein können Sie hier eigentlich nicht, jedenfalls nicht ohne persönliche Einladung. Die Friesenstraße 94 ist ein Wohnhaus. Neun Menschen wohnen hier in einem sogenannten Alt-Bremer-Haus mit Hochparterre, mitten in einem idyllisch wirkenden Kiez mit Kopfsteinpflasterstraßen. Außer ein paar wilden Graffiti an der Fassade weist wenig darauf hin, dass das Haus mit der Nummer 94 etwas Besonderes sein könnte.
Drinnen sieht das schon anders aus. Türen und Wände sind mit Plakaten geschmückt, für Punk-Konzerte und Demos, der Treppenteppich hat schon bessere Zeiten gesehen. Klassischer WG-Charme also.
In der Küche im ersten Stock liegt Spielzeug herum. Der kleine Sohn einer Bewohnerin fragt, ob ich mit ihm Billard spielen will. Er hat dafür schon ein paar Blatt Papier sorgfältig zu Kugeln geknüllt und auf dem Küchentisch verteilt. Aber wir müssen uns ja noch das Haus ansehen, wo Susi, eine Mitbewohnerin, im Souterrain eine Krankenstation für verletzte Tauben eingerichtet hat. Im Hinterhof hat sie ein paar Käfige aufgestellt, in denen sie Igel aufpäppelt.
Taube auf dem Schoß
Im Hochparterre wohnt sie mit ihrem Freund Marius, den sie seit einem schweren Unfall pflegt. Bei unserem Besuch schaut er fern, auf seinem Schoß eine Taube, die sich auch von dem großen Hund nicht einschüchtern lässt, der auf dem Boden liegt und neugierig aufschaut. Die zweite Ebene mit Hochbett hat Marius damals selbst eingebaut, erzählt Susi.
Auch die anderen Menschen im Haus sind vielfältig engagiert, zum Beispiel beim Kunstprojekt „Köfte Kosher“, das mit einem Gedenkpavillon an die Opfer rechter Gewalt erinnert. Sie machen Musik, kochen in der Volksküche oder organisieren Konzerte im Alten Sportamt und dem selbstverwalteten Freizeitheim „Die Friese“.
Dass dieses Engagement heute besonders wichtig ist, versteht sich eigentlich von selbst. Auch und gerade in einem Stadtteil wie dem Steintor, der mit dem benachbarten Ostertor das wohl wichtigste Bremer Ausgehviertel ist. Er ist deshalb ein Brennpunkt der Gentrifizierung geworden, auch wenn er wegen offenem Drogenhandel und Leerstand immer wieder ins Gerede kommt.
Schon in den 1980er Jahren sorgte in der Friesenstraße der Drogenstrich für Unmut, alle Jahre wieder lieferten sich Angehörige der autonomen Szene Kämpfe mit der Polizei auf der 500 Meter weiter gelegenen Sielwall-Kreuzung, dem Herzstück des „Viertels“, wie Ostertor und Steintor von Bremern meist liebevoll genannt werden.
Damals hatte Ortsamtsleiter Dietrich „Hucky“ Heck (Grüne) die Idee, ein „Punk-Haus“ einzurichten, in dem „langzeitarbeitslose Jugendliche unter Aufsicht malochen“ sollten. Der Verein Klick e. V., ein von dem rührigen Journalisten Erwin Bienewald gegründetes Zeitungsprojekt für Kinder und Jugendliche, kaufte das Haus in der Friesenstraße für 180.000 Deutsche Mark, die Stadt steuerte weitere 140.000 Mark bei, die Punks sollten via Arbeitsbeschaffungsmaßnahme das Haus renovieren. „Punks essen keine Kinder“, versicherte Heck den Mitgliedern einer „Anwohnerinitiative“, die im Winter 1988 ihre Sorgen an die Öffentlichkeit getragen hatte.
Wohnungsmarkt gesättigt
Heute präsentiert sich das Quartier zwar nach wie vor bunt, mit Boutiquen, Kiosken, Dönerläden, Burger-Restaurants, Cafés, Clubs und Kneipen, aber der Wohnungsmarkt ist gerade im Steintor gesättigt. Studierende ziehen längst in weniger zentrale Stadtteile, während das eingesessene alternative Bildungsbürgertum sich über den Lärm des Ausgehpublikums beschwert.
Die Besonderheit
Wenn Sie keine Taube und kein Igel sind, können Sie diesen Ort eigentlich nur über private Kontakte begehen. Aber dafür sorgen die Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses für Kultur im Stadtteil und zum Teil darüber hinaus.
Das Zielpublikum
Punks, gern handwerklich beschlagen, die eine Wohnung suchen. Oder – das bleibt abzuwarten – Menschen, die gern ein Haus im Bremer Szene-Kiez kaufen wollen.
Hindernisse auf dem Weg
Eigentlich keine. Außer Sie bleiben an einer der vielen Verweilmöglichkeiten auf dem Weg von der Tram-Haltestelle Brunnenstraße hängen, wie der Bar Tabac, dem Kaffee Krach oder dem Horner Eck, dem sich die Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses Friesenstraße 94 nachbarschaftlich verbunden fühlen.
Das Haus in der Friesenstraße 94 gehört heute Erwin Bienewalds Stiftung Maribondo di Floresta, die in Bremen und Umgebung eine Reihe von Projekten betreibt, in denen Menschen mit Beeinträchtigung oder anderen Schwierigkeiten Unterstützung erhalten.
Damit wäre eigentlich also alles in Butter, und die Punks aus der Friesenstraße könnten weiter in Frieden leben und den Stadtteil bereichern. Allerdings tauchte das Haus 2019 plötzlich auf dem Immobilienmarkt auf. Die Stiftung sei damals schnell zurückgerudert, Bienewald habe den Bewohnerinnen und Bewohner per Handschlag versichert, sie könnten bleiben, erzählt Gunnar Melchers, der lange in dem Haus wohnte.
Vor zwei Wochen gab es allerdings erneut Unruhe, als ein Makler mit Kaufinteressenten vor der Tür stand. Die Stiftung habe davon anscheinend nichts gewusst, erzählen die Bewohnerinnen und Bewohner. Welche Konsequenzen ein Verkauf für sie haben würde, ist unklar. Dass sie auf dem Bremer Wohnungsmarkt etwas Vergleichbares finden könnten, ist unwahrscheinlich. Für das Viertel wäre das Ende des Projekts ein weiterer Schritt in Richtung kultureller Verödung.
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