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der rote fadenTermin beim Friseur

Genügend Impfstoff ist noch nicht da, dafür können wir uns bald wieder die Haare schneiden lassen. Eine Pflicht dazu gibt es so wenig wie beim Impfen.

Im Selbstversuch geht's auch. Aber ab März dürfen die Profis wieder ran Foto: serienlicht/imago-images

D ie Minderjährige, die zu meiner Infektionsgemeinschaft gehört, findet, dass ich nicht in Würde verlieren kann. Ich stelle hierzu fest: Es stimmt. Beim ersten und zweiten verlorenen Schachspiel lächle ich noch über die Begeisterung, mit der über meine vermeintlich blöden Patzer gespottet wird. Dann aber geht es rapide bergab. Nach einem halben Dutzend Niederlagen in Folge ist von meiner elterlichen Würde nicht mehr viel übrig.

Jüngst habe ich vorgeschlagen, doch auch mal wieder Rommé, Monopoly oder Catan zu spielen, damit ich vielleicht auch mal gewinnen könnte. Das empfindet die Minderjährige jedoch als unter ihrem Niveau. Seit sie „The Queens Gambit“ auf Netflix gesehen hat, ist es noch schlimmer geworden. Ich selbst übe inzwischen heimlich auf einer Schach-App, um das Ruder herumzureißen, leider bisher ohne Erfolg. Der Verlauf der Schachspiele verhält sich nach wie vor diametral zu meiner Selbsteinschätzung.

Kurzum: Ich spüre eine tiefe Seelenverwandtschaft zu Friedrich Merz. Ich kenne seine Enttäuschung. Da sieht man schon vor sich, wie der Gegenspieler oder die Gegenspielerin in die Ecke getrieben ist und in fünf Zügen schachmatt sein müsste. Man plant alles ganz genau, in Merzens Fall vor allem den Moment, wo er sein Hinterteil auf den Chefsessel im Kanzleramt plumpsen lässt. Und dann: batsch, wieder verloren. Zur Zeit, so war diese Woche zu erfahren, ist Merz in seinem Ferienhaus abgetaucht und will schweigen.

Schweigen! Was will man auch sagen, wenn man gegen einen knuffigen sozialdemokratischen Christdemokraten aus einer Bergarbeiterfamilie verloren hat? „Ich komme aus einer Juristenfamilie, und das ist auch was Schönes?“ Würdelos. Doch zum Glück haben sich unsere Regierenden diese Woche über eine Stunde lang mit der Würde der Regierten befasst. Bundeskanzlerin Angela Merkel im Anschluss sinngemäß: Ich möchte Ihnen ein Friseurangebot machen.

Ab sofort können Termine online oder telefonisch gebucht werden. Ab dem 1. März geht es los. Bitte beachten Sie, dass es in der ersten Zeit zu Engpässen kommen kann. Aber alle, die möchten, werden bis Ostern ein Angebot erhalten können. Eine Friseurpflicht wird es aber nicht geben, beteuerten Merkel und die Landeschef*innen. Darüber sei nicht einmal gesprochen worden. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder betonte: „Es geht um die Würde.“

Israel wird also im Kürze verkünden können, dass alle Impfwilligen geimpft sind, und wir werden entgegenhalten: Dafür haben wir die Haare schön. Das hat unserer Würde wirklich gutgetan. Ich persönlich hätte lieber ein Impfangebot bekommen und den Kopf verwildern lassen. Apropos Frisuren: Die Bild-Zeitung hat mittels Computeranimation gezeigt, wie führende Po­li­ti­ker*in­nen aussähen, müssten sie bis zum Ende der Pandemie ohne körpernahe Dienstleistungen auskommen.

Für Söder fiel es wenig schmeichelhaft aus. Ganz anders dagegen Finanzminister Olaf Scholz, der mit längeren Haaren plötzlich unerwartet interessant aussieht, fast so, als könnte man sich doch ein wenig für ihn begeistern, ohne zwischendurch einzunicken. Man muss Scholz allerdings zugutehalten, dass er ein überaus guter Verlierer ist. Ein Meister seines Fachs. Er ist so gut darin, dass er sogar wie ein Verlierer aussieht, wenn er gerade gewinnt, beispielsweise die Kanzlerkandidatur.

Ich beneide ihn nicht. Aber ich beneide die Polizeikräfte und Feuerwehrleute und Kommunalpolitiker, die adhoc mit übrig gebliebenen Impfdosen geimpft wurden. Die empfindlichen Impfstoffe von Biontech und Moderna würden ansonsten unbrauchbar und müssten entsorgt werden. In Israel haben sich meine Freundinnen und Freunde, die noch nicht dran gewesen wären, immer in der Nähe von Impfzentren herumgetrieben.

Ist etwas übrig, geht dort das medizinische Personal raus und schaut, ob gerade ein potenzieller Impfling des Weges kommt oder herumsteht. In Deutschland dagegen, so schlug jetzt die Deutsche Stiftung Patientenschutz vor, sollen Wartelisten von Freiwilligen der gleichen Impf-Prioritätsgruppe organisiert werden. Angesichts der Effizienz, mit der bisher das Impfen hierzulande organisiert wurde, zuckt man ängstlich zusammen und möchte rufen: „Bitte nicht, lasst es!“

Impft lieber die Feuerwehr und Polizei oder geht auf die Straße und schaut, wer gerade mit seinem Hund spazieren geht. Das bin meistens ich, denn den Kampf darum, wer Gassi gehen muss, habe ich auch verloren. Die Minderjährige kann aus gesundheitlichen Gründen leider ihren Pflichten nicht nachkommen, wie sie mir ausführlich erklärte. Sie habe eine Frische-Luft-Allergie.

Sie meint, dass sie sich außerdem zum Rausgehen zeitaufwändig fertigmachen müsse, während es bei mir egal sei, wie ich aussehe. „Du bist ja alt.“ Würde ist auch nur ein Wort.

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Silke Mertins
Redakteurin Meinung
Kommentatorin & Kolumnistin, Themen: Grüne, Ampel, Feminismus, Energiewende, Außenpolitik
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2 Kommentare

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  • Über diesen Artkel habe ich mich sehr gefreut. Ich finde ihn mega gut geschrieben und sehr lustig. Habe ihn gespeichert, damit ich ihn mehrmals lesen kann. Bin begeistert!

  • Ein Friseurtermin ist sicher nicht lebenswichtig, aber ich finde es schade, dass ähnlichen Texten wie dieser Kolumne immer die psychischen Folgen des Lockdowns für einige so lächerlich gemacht werden. Als ob man sich schämen müsste, wenn es einem im Lockdown schlecht geht, man vielleicht sogar depressive Tendenzen hat oder diverse andere denkbare Einschränkungen wie starkem Frust, Reizbarkeit, Rastlosigkeit, Traurigkeit, Verzweiflung, Einsamkeit usw. Der Wegfall der vorher üblichen Routinen wie Treffen mit Verwandten und Freunden, Shoppingbummel, Fitnessstudio, Sportkurs, Musikschule, Freizeitpark, Restaurantbesuch oder eben auch Friseurbesuch für einige schränkt einige von uns eben stark ein und führt zu emotionalen Problemen, andere schränkt er gering ein und wenige vielleicht gar nicht.



    Ich gehe selbst nie zum Friseur, trotzdem verstehe ich, warum diejenigen, die sonst jede Woche oder jeden Monat gingen das jetzt vielleicht intensiv herbeisehnen.

    Ich bin wirklich neugierig, ob jeder, der diese Menschen jetzt kritisiert, nach der Pandemie oder nach dem Lockdown auch freiwillig weiter auf diese als überflüssig und dekadent bezeichneten Aktivitäten verzichtet. Ob es reicht, online einzukaufen und nur gelegentlich das Haus zu verlassen.



    Aus meiner Sicht müsste jeder, der jetzt über Lockdownmüdigkeit anderer meckert, nach dem Lockdown freiwillig weiter einen Monat oder ein Jahr auf alles verzichten, das jetzt nicht möglich ist, weil er ja anderen unterstellt, dass das gar kein Problem sein!