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Verschiebung der Gaza-DebatteFür die Toten zu spät

Kommentar von Emran Feroz

Immer mehr Medien berichten kritisch über Israels Kriegsverbrechen in Gaza. Doch der Schaden ist längst angerichtet – ein Muster, das sich wiederholt.

Gestand ein, dass die Situation in Gaza nun unerträglich geworden sei: der konservative, proisraelische Moderator Piers Morgan Foto: Justin Ng/Avalon/picture alliance

Bei der Kritik an der israelischen Regierung habe ich mich oft dagegen gewehrt, so weit zu gehen wie Sie. Doch von nun an wehre ich mich nicht mehr dagegen. Ich denke, wir haben mittlerweile dieselbe Meinung.“ Diese Worte fielen vor rund zwei Wochen seitens des britischen Moderators Piers Morgan während eines Gesprächs mit dem ebenso bekannten Journalisten Mehdi Hasan.

In den vergangenen achtzehn Monaten erreichten die beiden Männer mit ihren Sendungen Hunderte Millionen Zuschauer und gaben oftmals auch in Sachen Nahost den Ton an – der konservative, proisraelische Morgan auf der einen und der kritische, propalästinensische Hasan auf der anderen Seite.

Doch nun ereignete sich eine Zäsur. Morgan gestand ein, dass die Situation vor Ort nun unerträglich geworden sei. Er meinte das wohl ernst, denn kurz danach begann er, israelische Offizielle, die auch in der Vergangenheit zahlreich in seiner Sendung „Uncensored“ vertreten waren, zu grillen. „Ihr tötet jeden Tag Kinder“, sagte er etwa zu Tzipi Hotovely, Israels Botschafterin in Großbritannien. Empört entgegnete sie Morgan, dass er lediglich „Hamas-Propaganda“ verbreite.

Ein Vorwurf, der bei Morgan – das muss man in diesem Kontext auch erwähnen – schon seit Längerem nicht mehr verfängt. Bereits vor seinem großen Sinneswandel hatte er im Gegensatz zu vielen anderen Journalisten und Medienmachern offizielle Statements des israelischen Militärs immer wieder hinterfragt. Hinzu kommt, dass Piers Morgan allein im vergangenen Jahr mehr palästinensische Stimmen zu Wort kommen ließ als viele andere – einschließlich deutschsprachiger! – Medien zusammen.

Nahost-Debatten

Der Israel-Palästina-Konflikt wird vor allem in linken Kreisen kontrovers diskutiert. Auch in der taz existieren dazu teils grundverschiedene Positionen. In diesem Schwerpunkt finden Sie alle Kommentare und Debattenbeiträge zum Thema „Nahost“.

Piers Morgan ist nicht der Einzige, der inzwischen bemerkt hat, dass es so nicht weitergehen kann. Die israelische Armee benutzt Hunger als Kriegswaffe, tötet Zivilisten, Jour­na­lis­ten und Hel­fer per Knopfdruck mit Drohnen und KI und missbraucht Pa­läs­ti­nen­se­r als menschliche Schutzschilde. Sie vertreibt Menschen, begeht ethnische Säuberung und stellt all dies auch noch zur Schau.

Nichts davon ist undokumentiert. Regierungen, Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen, führende Medienhäuser, die wichtigsten Institutionen der Welt – sie alle wissen, was vor sich geht. Renommierte israelische Holocaustforscher wie der Historiker Omer Bartov sprechen schon seit Monaten von einem Genozid an der palästinensischen Bevölkerung.

Ein palästinensisches Mädchen läuft an den Ruinen zerstörter Gebäude entlang der Uferpromenade von Gaza-Stadt vorbei Foto: Jehad Alshrafi/AP/dpa

All dies scheint nun auch in den Köpfen jener angekommen zu sein, die sich lange uneingeschränkt solidarisch mit Israel zeigten. Sie sitzen in Regierungen, Redaktionen oder bei Talkshows und nehmen plötzlich eine deutlich kritischere Haltung ein. Da gibt es etwa Markus Lanz, der nun sogar fast schon die deutsche Staatsräson infrage stellt und klare Worte zum Leid in Gaza findet.

Dabei saßen in seinem Studio noch vor geraumer Zeit Gäste, die oft ohne Widerspruch die Massaker an der palästinensischen Zivilbevölkerung relativierten oder gar in den ersten Tagen des Krieges meinten, dass alles, was Israel nach dem 7. Oktober tun werde, gerechtfertigt sei. Viele dieser vermeintlichen Experten schweigen heute. Doch im Gegensatz zu einigen, die bereits früh auf israelische Kriegsverbrechen hinwiesen und die deutsche Israelpolitik kritisierten, wurden sie weder gecancelt noch haben sie ihre Jobs verloren.

Auch Tagesschau und Co zeigen sich auf einmal deutlich kritischer, nachdem sie monatelang Pressestatements der israelischen Armee im Copy-Paste-Stil veröffentlichten und kaum palästinensische Stimmen zu Wort kommen ließen. Aber: Es kommt zu spät – und ist viel zu wenig.

Es geht um westliche Gewalt

Im Grunde genommen geht es dabei weder um Israel noch um Gaza, sondern um Machthegemonien, Eurozentrismus und das Ausblenden westlicher Gewaltakte, die in vielen Ländern des Globalen Südens zum Alltag gehören. Dies ist und war nicht nur in Gaza der Fall, sondern auch in Afghanistan, Jemen, Irak oder etwa in Somalia.

Als vor Jahren der Drohnenkrieg der USA in mehreren Staaten Asiens und Afrikas tobte, gab es zahlreiche Studien und Recherchen, die verdeutlichten, dass sowohl die New York Times als auch die Washington Post in ihrer Berichterstattung zum Thema versagt hatten: Unter anderem hatten die beiden Flaggschiffe der angelsächsischen Medienwelt mehrfach getötete Zivilisten als „Terroristen“ deklariert, ohne diese Fehler im Nachhinein zu korrigieren.

Und als die Bundeswehr in Afghanistan kämpfte und dabei auch gegen Zivilisten vorging – wie das grausame Bombardement von Kunduz im September 2009 verdeutlichte –, hieß es seitens des ZDF-Korrespondenten Uli Gack kurz nach dem Massaker, dass man die afghanische Bevölkerung „auf die Linie der Bundeswehr“ bringen müsse. Kritik an dem Angriff, der rund 150 Menschen das Leben kostete, gab es beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk kaum. Erst Jahre später wurde die gesamte Dimension des Kunduz-Skandals bekannt – ein Skandal, bei dem sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel die Öffentlichkeit getäuscht hatte.

Doch die Toten blieben trotzdem tot. Die späte Einsicht half niemandem, und von Aufarbeitung in den Medienhäusern fehlt in all diesen Fällen bis heute jede Spur. Dies – das zeichnet sich jetzt schon ab – wird wohl auch im Fall Gaza so sein. In den Redaktionshäusern müsste es Konsequenzen geben für falsche Berichterstattung und das Reproduzieren einseitiger Kriegspropaganda. Ansonsten wird wohl das Quäntchen Glaubwürdigkeit, das nach dem „War on Terror“ des Westens noch übrig geblieben ist, endgültig zu Staub zerfallen.

Als Vorbild könnte tatsächlich Piers Morgan dienen. Letzten Endes hat er immerhin seine Fehler öffentlich eingestanden – ein Schritt, der Mut kostet und von dem viele Kommentatoren hierzulande noch weit entfernt zu sein scheinen. Dabei wäre dieses Eingeständnis wichtig – nicht nur, um mit mehr Glaubwürdigkeit weiterzumachen, sondern um Vertrauen zurückzugewinnen.

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19 Kommentare

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  • Gleich zu Beginn des Krieges hat die ARD einen Sprachkatalog sowie Handlungsanweisungen rausgegeben, wie über den Krieg zu berichten sei. Komischerweise, hat das in der deutschen Presse keinen Widerhall gefunden.

  • Eines der herausragenden Berichte unter vielen. Er wird hervorgehoben in die Berichterstattung eingehen als eine Art Markierung eines Sinneswandels.

  • Dieser Artikel ist notwendig, gerade für die deutsche Presse über die im Ausland oft gelästert wurde, dass die Deutschen mal wieder auf der falschen Seite der Geschichte stehen. Und alternative und bessere Berichte waren zugänglich, Haaretz, 972 Magazin.

  • Ich kann Ihnen gar nicht genug danken für diesen mutigen und wichtigen Artikel und ich kann allem zustimmen. Auch wenn ich persönlich nicht viel von Piers Morgan halte, so muss man ihm wirklich zu Gute halten, dass seine Gästeauswahl doch sehr ausgeglichen war und wie Sie sagen, er eine der wenigen war, die von Anfang an auch kritisch nachgefragt haben. Man sollte meinen das dies Normalität sein sollte. Allerdings würde ich Mehdi Hasan nicht unbedingt als pro-palästinensisch bezeichnen, was er von jeher war ist pro-Fakten und er hat sie auf Lager wie kaum ein anderer, was ich auch an ihm bewundere.



    Nunja und was die Medien in den USA aber teilweise in allen westlichen Staaten angeht, bleibt ein Buch immer noch aktuell: Herman & Chomsky´s "Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media"

  • Woah endlich ein gut recherchierter und kohärenter Artikel zu diesem Thema hier in der TAZ, langsam habe ich wirklich geglaubt alle Deutschen Medien sind einfach das Sprachrohr Israelischer Kriegspropaganda geworden...

  • Der Titel bringt es leider auf den Punkt. Tot. Ausgelöscht. Unwiderruflich. "In den Redaktionshäusern müsste es Konsequenzen geben für falsche Berichterstattung und das Reproduzieren einseitiger Kriegspropaganda"... Pfhhh, das ich nicht lache.

  • Schön, wenn auch die andere Seite gesehen wird - wie hier durch Piers Morgan und Mehdi Hasan.



    Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Piers Morgan nach dem Massaker vom 07. Oktober wg seiner Parteinahme für Israel in Kommentaren zerissen wurde. Alleine, dass er pro-palästinensische Gäste auf ihre Haltung zur Hamas ansprach, wurde wütend zurückgewiesen.

    Schade, dass der Autor die Gelegenheit nicht ergriffen hat, ebenfalls beide Seiten zu sehen. Es reicht nicht, auf Israels unglaublich brutales Vorgehen in Gaza hinzuweisen. Zum ganzen Bild des Leides in Gaza gehört auch die tödliche Rolle, die die Hamas dabei spielt, der fortdauernde Terror gegenüber Israel, die Geiseln.



    Dabei relativieren oder legitimisieren die Untaten der einen Seite nicht die Untaten der anderen Seite. Mörder finden sich auf beiden Seiten. Und leider dulden die Bevölkerungen und Verbündeten beider Seiten, dass in ihrem Namen getötet wird.

    Der Autor bleibt leider einseitig, sieht einen großen Teil der Akteure offenbar nur als Opfer, nicht als Handelnde. Sei es als Opfer Israels, oder, im "Globalen Süden" als Opfer "des Westens".



    Auf seine Weise ist das eine sehr eurozentrische Sicht.

    • @C. Avestruz:

      Wenn auch der Hass auf beiden Seiten gleich ist, gemordet und gestorben wird sehr, sehr, sehr ungleich...

      • @Thomas Müller:

        Zumindest, was die Zahl der Opfer betrifft, ja.



        Für den einzelnen Menschen, der durch Gewalt stirbt, gibt es diesen Unterschied nicht.

        Nur wenn beide Seiten denen die Macht entreißen, die ihre Ziele mit brutaler Gewalt durchsetzen wollen, besteht überhaupt eine Chance auf friedliche Koexistenz.

  • "...Als Vorbild könnte tatsächlich Piers Morgan dienen. Letzten Endes hat er immerhin seine Fehler öffentlich eingestanden – ein Schritt, der Mut kostet und von dem viele Kommentatoren hierzulande noch weit entfernt zu sein scheinen..."

    Danke für diesen Satz!

    Das Klima in den Kommentarspalten ist auch bei der TAZ ziemlich unversöhnlich. Entweder verurteilt als Antisemit und Hamas-Unterstützer oder als gewissenloser Genozidbefürworter, dazwischen gibt es nix. Keinen cm wird nachgegeben, selbst aus 3.000 km Entfernung nicht.



    Wie soll dann erst dort vor Ort Frieden möglich werden, wo jeder ganz schnell Gründe für Hass auf die andere Seite finden kann?

  • Immobilienmakler und Black-Rock-Vertreter an der Regierung stehen aber nun mal nicht für Freiheit, sondern für "Make Money, make more money".

    Allerdings sind solche "Politiker" höchst sensibel, wenn populäre und beliebte Rockmusiker:innen ihnen vor einem großen Publikum öffentlich die Leviten lesen.

    Dann kommen sie mit Drohungen und mit der Polizei. Kennt man ja, nicht aus den USA und nicht erst seit Trump.

  • Bei aller berechtigten Kritik an der israelischen Regierung sollte man eines immer im Kopf behalten: wie erreicht man eine dauerhafte friedliche Situation (auch) für die Israeli? So sehr ich die teilweise maßlose Gewalt von Israel verurteile, so sehr bin ich bin ich schockiert darüber, dass die Sicherheitsinteressen von Israel und der Terror der Hamas ausgeblendet werden.

    Das Risiko, dass es nach einem Rückzug der Israeli aus Gaza wieder zu Terror-Anschlägen kommen wird, halte ich für hoch. Deshalb kann ich durchaus verstehen, dass Israel weiter in Gaza militärisch operiert. Einseitige Verurteilungen bringen nichts und sind kontraproduktiv.

    • @Black & White:

      Es ist so ermüdend immer wieder Variantionen des immer gleichen 'ja, aber' lesen zu müssen. Das ist angesichts des offensichtlich begangenen Unrechts der verzweifelte und zwecklose Versuch, die Deutungshoheit wiederzuerlangen.

    • @Black & White:

      Das klingt gut, aber ist sehr einseitig. Haben nicht auch Palästinenser Sicherheitsinteressen, wenn in der Westbank seit über 50 Jahren illegale Vertreibungen stattfinden, Gewaltakte, Erschiessungen, auch von Journalisten, haben smdie Palästinenser kein Recht auf Sicherheit ? Auf Schutz vor gewaltsamen Aktionen ? Die noch dazu von Gaza völlig unabhängig sind. Oder gelten nur die Sicherheitsinteressen einer industriellen Atommacht ?

  • Das eigentlich Traurige daran ist, dass die gleichen Medienhäuser immer wieder die gleichen Fehler bei der Berichterstattung machen und anscheinend aus der Vergangenheit nichts lernen wollen und deren Kunden darüber auch hinwegsehen, weil die lausige Berichterstattung einfach schon zu weit zurückliegt und sich keiner mehr daran erinnert, welch schlechte Arbeit sie abgeliefert haben. Das Vertrauen in diese Medien sinkt zwar, aber nicht wirklich gravierend, als dass sie daraus Konsequenzen ziehen würden....

  • 100% Zustimmung. "Piers Morgan ist nicht der Einzige, der inzwischen bemerkt hat, dass es so nicht weitergehen kann. Die israelische Armee benutzt Hunger als Kriegswaffe, tötet Zivilisten, Jour­na­lis­ten und Hel­fer per Knopfdruck mit Drohnen und KI und missbraucht Pa­läs­ti­nen­se­r als menschliche Schutzschilde. Sie vertreibt Menschen, begeht ethnische Säuberung und stellt all dies auch noch zur Schau.



    Nichts davon ist undokumentiert. Regierungen, Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen, führende Medienhäuser, die wichtigsten Institutionen der Welt – sie alle wissen, was vor sich geht. ...". Wer die Wahrheit nicht kennt ist ein Dummkopf, wer sie kennt und verschweigt, ein Verbrecher. Und ihr Medien-"Eliten" seid genau dieselben "Verbrecher" wie unsere gesamten Politiker. Mittels pervertierter Erinnerungskultur hat man unter dem Titel "Staatsräson" den Freiraum für Israels Staatsdoktrin, d.h. Land-"Raub", Völker-"Mord" und politischen Todschlag geschaffen. Jetzt ist "Wieder" und Deutschland ist wieder dabei....

  • Piers Morgan und Markus Lanz sind für mich beide Fähnchen im Wind; ihre Meinung richtet sich nach der aktuellen, vorherrschenden Meinung der Mehrheit.

    Zum Thema selbst:



    Aus der Sicht eines Menschen aus dem "globalen Süden" weiß ich das schon bzw. wundert es mich nicht; das Feindbild des Moslems hat sich schon längst etabliert, den gemeinen Leser interessiert es im Nachhinein auch nicht mehr, ob Unschuldige getötet wurden oder nicht, denn am Ende hat es ja die "Richtigen" erwischt...

  • Meines Erachtens haben sich jene, die seit Jahren die Augen verschlossen haben angesichts der nahezu beispiellosen hohen Rate an getöteten palästinensische n Zivilisten auch mitschuldig gemach.

  • Auch ein konservativer Unterhausabgeordneter hat vor dem Plenum des Hauses erklärt, daß er als langjähriger Unterstützer Israels seine Meinung jetzt geändert habe. In Politik und Medien bei uns sind mir solche Worte noch nicht begegnet, höchstens eine Verschiebung im Ton, und das nur bei manchen. Es gibt immer noch zu viele, die sich über Greta Thunberg mehr aufregen als über tote Palästinenser.