Verschiebung der Gaza-Debatte: Für die Toten zu spät
Immer mehr Medien berichten kritisch über Israels Kriegsverbrechen in Gaza. Doch der Schaden ist längst angerichtet – ein Muster, das sich wiederholt.

Bei der Kritik an der israelischen Regierung habe ich mich oft dagegen gewehrt, so weit zu gehen wie Sie. Doch von nun an wehre ich mich nicht mehr dagegen. Ich denke, wir haben mittlerweile dieselbe Meinung.“ Diese Worte fielen vor rund zwei Wochen seitens des britischen Moderators Piers Morgan während eines Gesprächs mit dem ebenso bekannten Journalisten Mehdi Hasan.
In den vergangenen achtzehn Monaten erreichten die beiden Männer mit ihren Sendungen Hunderte Millionen Zuschauer und gaben oftmals auch in Sachen Nahost den Ton an – der konservative, proisraelische Morgan auf der einen und der kritische, propalästinensische Hasan auf der anderen Seite.
Doch nun ereignete sich eine Zäsur. Morgan gestand ein, dass die Situation vor Ort nun unerträglich geworden sei. Er meinte das wohl ernst, denn kurz danach begann er, israelische Offizielle, die auch in der Vergangenheit zahlreich in seiner Sendung „Uncensored“ vertreten waren, zu grillen. „Ihr tötet jeden Tag Kinder“, sagte er etwa zu Tzipi Hotovely, Israels Botschafterin in Großbritannien. Empört entgegnete sie Morgan, dass er lediglich „Hamas-Propaganda“ verbreite.
Ein Vorwurf, der bei Morgan – das muss man in diesem Kontext auch erwähnen – schon seit Längerem nicht mehr verfängt. Bereits vor seinem großen Sinneswandel hatte er im Gegensatz zu vielen anderen Journalisten und Medienmachern offizielle Statements des israelischen Militärs immer wieder hinterfragt. Hinzu kommt, dass Piers Morgan allein im vergangenen Jahr mehr palästinensische Stimmen zu Wort kommen ließ als viele andere – einschließlich deutschsprachiger! – Medien zusammen.
Der Israel-Palästina-Konflikt wird vor allem in linken Kreisen kontrovers diskutiert. Auch in der taz existieren dazu teils grundverschiedene Positionen. In diesem Schwerpunkt finden Sie alle Kommentare und Debattenbeiträge zum Thema „Nahost“.
Piers Morgan ist nicht der Einzige, der inzwischen bemerkt hat, dass es so nicht weitergehen kann. Die israelische Armee benutzt Hunger als Kriegswaffe, tötet Zivilisten, Journalisten und Helfer per Knopfdruck mit Drohnen und KI und missbraucht Palästinenser als menschliche Schutzschilde. Sie vertreibt Menschen, begeht ethnische Säuberung und stellt all dies auch noch zur Schau.
Nichts davon ist undokumentiert. Regierungen, Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen, führende Medienhäuser, die wichtigsten Institutionen der Welt – sie alle wissen, was vor sich geht. Renommierte israelische Holocaustforscher wie der Historiker Omer Bartov sprechen schon seit Monaten von einem Genozid an der palästinensischen Bevölkerung.

All dies scheint nun auch in den Köpfen jener angekommen zu sein, die sich lange uneingeschränkt solidarisch mit Israel zeigten. Sie sitzen in Regierungen, Redaktionen oder bei Talkshows und nehmen plötzlich eine deutlich kritischere Haltung ein. Da gibt es etwa Markus Lanz, der nun sogar fast schon die deutsche Staatsräson infrage stellt und klare Worte zum Leid in Gaza findet.
Dabei saßen in seinem Studio noch vor geraumer Zeit Gäste, die oft ohne Widerspruch die Massaker an der palästinensischen Zivilbevölkerung relativierten oder gar in den ersten Tagen des Krieges meinten, dass alles, was Israel nach dem 7. Oktober tun werde, gerechtfertigt sei. Viele dieser vermeintlichen Experten schweigen heute. Doch im Gegensatz zu einigen, die bereits früh auf israelische Kriegsverbrechen hinwiesen und die deutsche Israelpolitik kritisierten, wurden sie weder gecancelt noch haben sie ihre Jobs verloren.
Auch Tagesschau und Co zeigen sich auf einmal deutlich kritischer, nachdem sie monatelang Pressestatements der israelischen Armee im Copy-Paste-Stil veröffentlichten und kaum palästinensische Stimmen zu Wort kommen ließen. Aber: Es kommt zu spät – und ist viel zu wenig.
Es geht um westliche Gewalt
Im Grunde genommen geht es dabei weder um Israel noch um Gaza, sondern um Machthegemonien, Eurozentrismus und das Ausblenden westlicher Gewaltakte, die in vielen Ländern des Globalen Südens zum Alltag gehören. Dies ist und war nicht nur in Gaza der Fall, sondern auch in Afghanistan, Jemen, Irak oder etwa in Somalia.
Als vor Jahren der Drohnenkrieg der USA in mehreren Staaten Asiens und Afrikas tobte, gab es zahlreiche Studien und Recherchen, die verdeutlichten, dass sowohl die New York Times als auch die Washington Post in ihrer Berichterstattung zum Thema versagt hatten: Unter anderem hatten die beiden Flaggschiffe der angelsächsischen Medienwelt mehrfach getötete Zivilisten als „Terroristen“ deklariert, ohne diese Fehler im Nachhinein zu korrigieren.
Und als die Bundeswehr in Afghanistan kämpfte und dabei auch gegen Zivilisten vorging – wie das grausame Bombardement von Kunduz im September 2009 verdeutlichte –, hieß es seitens des ZDF-Korrespondenten Uli Gack kurz nach dem Massaker, dass man die afghanische Bevölkerung „auf die Linie der Bundeswehr“ bringen müsse. Kritik an dem Angriff, der rund 150 Menschen das Leben kostete, gab es beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk kaum. Erst Jahre später wurde die gesamte Dimension des Kunduz-Skandals bekannt – ein Skandal, bei dem sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel die Öffentlichkeit getäuscht hatte.
Doch die Toten blieben trotzdem tot. Die späte Einsicht half niemandem, und von Aufarbeitung in den Medienhäusern fehlt in all diesen Fällen bis heute jede Spur. Dies – das zeichnet sich jetzt schon ab – wird wohl auch im Fall Gaza so sein. In den Redaktionshäusern müsste es Konsequenzen geben für falsche Berichterstattung und das Reproduzieren einseitiger Kriegspropaganda. Ansonsten wird wohl das Quäntchen Glaubwürdigkeit, das nach dem „War on Terror“ des Westens noch übrig geblieben ist, endgültig zu Staub zerfallen.
Als Vorbild könnte tatsächlich Piers Morgan dienen. Letzten Endes hat er immerhin seine Fehler öffentlich eingestanden – ein Schritt, der Mut kostet und von dem viele Kommentatoren hierzulande noch weit entfernt zu sein scheinen. Dabei wäre dieses Eingeständnis wichtig – nicht nur, um mit mehr Glaubwürdigkeit weiterzumachen, sondern um Vertrauen zurückzugewinnen.
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