ausschweifend: Der „Ampel-Crasher“ und die guten Vorsätze
Christian Lindner inszeniert sich selbstironisch und steht Student*innen an der Bucerius Law School Rede und Antwort.
D ieser Tage sind Interaktionen mit Christian Lindner, in denen es weder um D-Day noch um Schuldenbremse geht, eher selten. Als der Ex-Bundesfinanzminister am vergangenen Mittwochnachmittag den Student*innen im Helmut-Schmidt-Auditorium, dem größten Hörsaal der Bucerius Law School in Hamburg, Rede und Antwort steht, ist beides tatsächlich kein Thema.
Auf dem Campus munkelte man schon vorher, Lindner habe sich selbst eingeladen. Vielleicht weil er sich hier bei einer ähnlichen Veranstaltung im Jahr 2020 so wohl fühlte. Die Uni Hamburg erteilte ihm damals ein Auftrittsverbot, und die private Hochschule für Rechtswissenschaft hatte ihn daraufhin eingeladen. Vielleicht auch bloß, um an der Bucerius Law School, die schon FDP-Bundestagsabgeordnete wie Ria Schröder und Konstantin Kuhle hervorgebracht hat, für sich zu werben.
Veranstalterin der Diskussionsrunde ist die Liberale Hochschulgruppe. Der Hörsaal mit 430 Sitzplätzen ist bis auf den letzten Stehplatz gefüllt. Die Juso-Hochschulgruppe startet vor Veranstaltungsbeginn noch die zuckersüße Protestaktion: „Offene Waffelschlacht“. Geworfen werden allerdings keine Waffeln, bloß gegessen.
Auch von Christian Lindner, der mit Waffel in der Hand in den Hörsaal spaziert und sagt: „So machen das die Sozialdemokraten immer: verteilen was Süßes, um populär zu werden.“ Gleich die ersten Lacher geerntet. Diese Art der inszeniert wirkenden Selbstironie zieht sich durch den ganzen Abend. Außerdem erwähnt Lindner so oft, dass er als „Ampel-Crasher“ bezeichnet werde, dass man fast meinen könnte, der Spitzname gefalle ihm.
Im Eingangsstatement blickt Lindner besorgt auf die seiner Meinung nach zunehmende Polarisierung der Gesellschaft und kündigt für den Abend ein „Fest der Meinungsfreiheit“ an, zu dem es auch gehöre, unliebsame Gegenpositionen auszuhalten. Später ordnet er die Aussage eines Studenten, die FDP sei eine Partei für die Privilegierten der Gesellschaft, etwas beleidigt als „plumpen Klassenkampf“ ein. So viel zu den guten Vorsätzen.
Anspruchsvolle Wähler*innen
Die Student*innen stellen keine Fragen zu Lindners Sparpolitik, zur Schuldenbremse oder zu seiner angeblichen Unwissenheit über das parteiinterne D-Day-Paper, in welchem die FDP ihren Ampelausstieg minutiös plante. Kritische Fragen klangen eher so: „Können Sie regieren?“ Lindner antwortet ausschweifend. Die Partei habe „ganz spezielle“ Unterstützer*innen – *lautes Lachen im Publikum*. Die FDP sei die einzige Partei der Individualist*innen, die Wähler*innen hätten eine hohe Anspruchshaltung und dann folgt noch ein verwirrender Vergleich mit Sisyphos.
Lindners Botschaft in kurz: Die FDP kann wegen ihrer besonders „urteilskräftigen, kritischen Geister“ (bescheidene Bezeichnung Lindners für die eigene Wähler*innenschaft) keine Kompromisse eingehen. Regieren also nur ohne Koalition? Gut, dass der FDP nach aktuellen Umfragen nur 47 Prozent zur absoluten Mehrheit fehlen. Ganz nach dem neuen Wahlkampfmotto: „Alles lässt sich ändern.“
Und was wird noch so besprochen? Ein Student fragt unironisch, warum sich die FDP Elon Musk und Argentiniens ultraliberalen Präsidenten Javier Milei nicht als Vorbild nehme. In einer Antwort bringt Lindner noch unter, dass Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck ja Kinderbuchautor ist. Klassiker. Auf die Frage, warum die FDP bezüglich des Themas Migration rechte Narrative übernehme, obwohl wissenschaftlich bewiesen sei, dass dies die Rechten stärke, antwortet Lindner wieder gewohnt ausschweifend ohne zu antworten.
Auch sonst gibt es nicht viel Neues. Eine Studentin flüstert leise ihrer Sitznachbarin zu: „Warum bin ich überhaupt hier?“ Irgendwie hat sie Recht. Geredet wird zwar viel, die Antworten sind aber meist nichtssagend, nicht wert, sie hier zu reproduzieren. Während Christian Lindner sich schon im nächsten Bundesfinanzministerium sieht, sehen die aktuellen Umfragewerte seine Partei nicht mal im Bundestag.
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