Zwischen den Geschlechtern: Wann ist ein Mann ein Mann?
Unser Autor hat ein X-Chromosom zu viel. Rein biologisch ist er kein Mann, aber er fühlt sich wie einer. Wie lebt er damit?
Die Sonne brennt. Ich schwitze und sehne mich nach einer Abkühlung in frischem Wasser. Es sind 35 Grad, selbst im Schatten ist es noch sehr heiß. Die große Hitzewelle hat Deutschland im Sommer 2018 im Griff.
Mit meiner Freundin und zwei Freunden laufe ich über eine Brücke, mitten im Naturschutzgebiet, 20 Kilometer östlich von Frankfurt am Main. Unter uns glitzert ein See, gesäumt von Bäumen mit sattgrünen Blättern, manche Äste ragen ins Wasser. Normalerweise verirren sich nicht allzu viele Menschen an diesen Ort, deswegen komme ich gern hierher.
Heute sind viele da. Mit freiem Oberkörper liegen sie auf dem Gras, spielen Karten, picknicken oder sitzen am Ufer. Wir breiten unsere Decke aus, ich setze mich und sage: „Ich komme nicht mit. Ich warte hier auf euch.“
Ich fühle mich beobachtet, sitze auf der Decke mit angewinkelten Beinen, meine Arme lege ich auf den Knien ab. Meine Augen wandern von links nach rechts. Immer in der Angst, dass mich jemand anschaut. Erst nach ein paar Minuten traue ich mich, mein T-Shirt auszuziehen.
Ich habe ein Problem mit meinem Körper, weil er anders ist. Nicht dünn, nicht dick. Einfach anders. Mein Körper hat feminine Züge. Ich haben einen erhöhten Fettanteil um meine Hüfte – wie bei einer durchschnittlichen Frau. Ein Arzt nennt das „Frauenhüfte“. Sie ist nur eine von mehreren Symptomen meines Gendefekts. Ich habe den Chromosomensatz 47, XXY. „Klinefelter-Syndrom“ nennen Mediziner*innen das. Ich nenne es oft einfach KS.
Ein X-Chromosom zu viel
Erkannt wurde das KS erstmals 1942 von dem US-amerikanischen Arzt Harry Klinefelter, der damals noch nicht erklären konnte, was die Gründe dafür waren. Die Ursache des Defekts wurde erst 1959 entdeckt: ein zusätzliches X-Chromosom in den Zellkernen.
Das biologische Geschlecht eines Menschen hängt davon ab, welche Chromosomen dieser von seinen Eltern erhält. Ein männliches Spermium enthält 23 Chromosomen, eines davon ist entweder ein X- oder ein Y-Chromosom. Die weibliche Eizelle hat ebenso 23 Chromosomen, darunter ein X-Chromosom. Klinefelter-Männer haben ein X-Chromosom mehr, was auf eine Störung bei der Verschmelzung von Ei- und Samenzellen der Eltern zurückgeht.
XXY. Mit dieser Diagnose bin ich nicht allein: Etwa jeder 500. Mann hierzulande hat das Klinefelter-Syndrom. In Deutschland sind rund 80.000 Männer betroffen, aber nur etwa 10 bis 15 Prozent wissen davon – lediglich rund 5.000 bestätigte Fälle gibt es in Deutschland. Das ist erstaunlich, denn das KS ist die häufigste Chromosomenabweichung bei Männern und der häufigste genetische Grund für Zeugungsunfähigkeit.
Nicht leicht zu erkennen
Weil jedoch die Symptome auf den ersten Blick nicht gleich zu erkennen sind, ist das Klinefelter-Syndrom relativ unbekannt. Und es ist nicht heilbar, nur die Symptome können bekämpft werden.
Betroffene leiden häufig unter Testosteronmangel, einer verzögerten oder ganz ausbleibenden Pubertät, Brustentwicklung und kleinen Hoden. Auch auf die Konzentrationsfähigkeit und die Frustrationstoleranz kann sich das KS auswirken. Fachärzt*innen geben außerdem an, dass das KS für ein gutes Langzeitgedächtnis, stark ausgeprägtes Sozialverhalten, tiefgründiges Nachdenken oder eine überdurchschnittliche Beobachtungsgabe verantwortlich sein kann.
Das zweite X-Chromosom hemmt die Bildung von Testosteron in den Hoden. Das wiederum sorgt für die Ausbildung der Geschlechtsorgane und -merkmale und übernimmt verschiedene Aufgaben im Stoffwechsel des Menschen. Deswegen sind die KS-Symptome so vielfältig. Außerdem wird das zusätzliche X-Chromosom teilweise unterdrückt, was aber von Patient zu Patient unterschiedlich ist.
Weil ich eben dieses zweite X-Chromosom habe, bin ich aus biologischer Sicht intersexuell. Bei der Mehrheit der Betroffenen bestimmt das Y-Chromosom das männliche Geschlecht. Sie wachsen dann als Männer auf, so wie ich.
Aber nicht alle KS-Männer identifizieren sich als Mann, ein Teil sieht sich als Mann mit femininen Anteilen, bedingt durch den niedrigen Testosteronspiegel, die verstärkte Brustentwicklung, den femininen Körperbau oder rein emotional. Um zu verstehen, wie die KS-Symptome auf mich wirken, wie sie mein Leben kontrollieren, mein Verhalten ändern und wie ich versuche, sie in den Griff zu bekommen, gehe ich in der Geschichte 13 Jahre zurück.
Machen Sie sich untenrum frei
Herbst, 2006. Es ist ein kühler Tag im südhessischen Darmstadt. Die Wolken sind grau, es ist windig. Heute ist der Tag meiner Bundeswehrmusterung. Ich sitze allein in einem Flur und betrachte die Wände. Sie haben einen bräunlichen Ton. Es sieht aus, als wurde hier schon lange nicht mehr renoviert. Eine Tür öffnet sich. „Herr Simon bitte“, ruft eine Stimme.
Ich folge einem Mann in ein Krankenzimmer, wo eine Frau mittleren Alters wartet, die Ärztin. Sie trägt einen weißen Kittel, eine Brille, ihre blonden Haare hat sie zusammengesteckt. Sie verzieht keine Miene. „Bitte machen Sie sich untenherum frei“, sagt sie. Ich befolge ihre Anweisung. Die Ärztin bückt sich, betrachtet meinen Intimbereich und richtet sich wieder auf. Sie schaut mich an. Dann sagt sie zu mir: „Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass Ihre Hoden nicht die normale Größe haben?“
Ich hatte mich immer gefragt, warum sich Ärzt*innen bei dieser Prozedur den Intimbereich anschauen. Jetzt wusste ich es. Damals war ich 20 Jahre alt und hörte zum ersten Mal, dass meine Hoden kleiner sind als die anderer Männer. Heute bin ich 32.
In der Pubertät dachte ich nicht daran, dass mit mir irgendetwas nicht stimmen könnte. Ich merkte damals zwar schon, dass ich mich anders entwickelte als meine Freunde – ich sah jünger aus, hatte weniger Haarwuchs, keinen richtigen Stimmbruch.
Typische Probleme eines Teenagers?
In der Schule kam ich irgendwann nicht mehr mit. Ich sah lieber aus dem Fenster, träumte vor mich hin oder kritzelte den Tisch voll. Und meine Eltern pampte ich fast täglich an. Meine Freunde im Fußballverein fingen an, sich über meine fehlenden „Fußballerwaden“ lustig zu machen. Ich hielt das für typische Probleme eines Teenagers in der Pubertät. Dass da mehr war, genaugenommen ein X mehr, das war mir zu dem Zeitpunkt nicht bewusst.
Aber wie kann es sein, dass erst bei der Bundeswehrmusterung auffiel, dass meine Hoden kleiner sind als die von gleichaltrigen Männern? Mein jetziger Arzt meint, dass meine Kinderärztin versagt habe. Ihr hätte es bereits auffallen müssen. Für mich selbst gab es nie Indizien. Ich hatte meinen ersten Samenerguss im gleichen Alter wie die anderen Jungs auch. Mit 14 hatte ich meine erste Freundin, früher als andere Kumpels. Und für einen pubertierenden Jungen masturbierte ich durchschnittlich oft. Mit 15 war ich bei einem Urologen, er untersuchte meinen Intimbereich, und auch ihm fiel nichts auf.
Ein Jahr später verließ ich die Schule mit einem mittelmäßigen Realschulabschluss. Ich fühlte mich nicht bereit zu arbeiten, aber probierte Verschiedenes aus: ein Praktikum im Hotel, ein weiteres bei einer Werbefirma. Dann bewarb ich mich für eine Ausbildung zum Mechatroniker. Nichts davon passte so richtig. Irgendwie fühlte ich mich immer, als würden mir noch ein paar Jahre fehlen, als wäre ich unreifer als die anderen. Heute weiß ich: Zu den Symptomen des Klinefelter-Syndroms gehört auch, dass die biologische männliche Reife mit mehreren Jahren Verzögerung einsetzen kann.
Sie nannten mich oft den „Kleinen“
Mit 20 hatte ich immer noch kaum Bartwuchs. „Das kam bei mir auch erst später“, sagte mein Vater damals. Ein Freund meinte, ich solle doch froh sein. Es nerve, sich täglich zu rasieren. Aber ich wollte mich wie ein Mann fühlen, und ein Bart, so dachte ich, macht dich männlich. Ohne die entsprechende Gesichtsbehaarung bist du nur ein Teenager. Und so wirst du dann auch behandelt.
Wir waren fünf Jungs in meinem Freundeskreis, alle im selben Alter. Doch mich nannten sie oft den „Kleinen“. Wenn wir uns freitagabends trafen, unser Sixpack Bier, eine Flasche Whiskey mit Cola tranken und überlegten, wo wir heute feiern gehen sollen, dann zählte meine Meinung weniger als die der anderen. Ich wurde oft überstimmt, oder sie hörten mir nicht zu.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Als ich 18 war, kam auch der Tag, an dem sich auf einmal etwas an meinem Körper veränderte. Ich stand mit meiner damaligen Freundin im Badezimmer. Ich zog mein T-Shirt aus, um zu duschen, und sie starrte mich an. „Was ist los?“, fragte ich. „Du hast zugenommen“, antwortete sie flapsig. Zugenommen? Das konnte nicht sein. Ich stellte mich vor den Spiegel und mir fiel auf, dass sich an meinen Hüften Fettröllchen gebildet hatten. Ich wunderte mich, dachte aber keine Sekunde darüber nach, dass das irgendwie nicht normal sein könnte. Sie ist nicht besonders ausgeprägt, aber meine „Frauenhüfte“ war der Anfang.
Ein Anfang, der mir damals im Badezimmer noch nicht als solcher bewusst war. Doch wenig später kam die Einladung zur Musterung – und eben diese Frage der Ärztin: „Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass Ihre Hoden nicht die normale Größe haben?“
Die Ärzte-Tour wird zur Tortur
Nicht die normale Größe. Ich war 20, verwirrt und geschockt. Ich verließ das Untersuchungszimmer, lief den Flur entlang, bog nach rechts ab, wieder nach rechts, lief geradeaus an ein paar geöffneten Bürotüren vorbei. Dann stand ich in dem Zimmer, wo die anderen auf ihre Musterung warteten. Mir ging damals nur eine Frage durch den Kopf: Bin ich anders, nicht normal? Ich grüßte einen alten Schulkameraden, lief zum Ausgang und schaute mir beim Verlassen der alten Kaserne das Portrait des damaligen Bundespräsidenten, Horst Köhler, an. Er lächelte.
Ich ging zu einem Urologen in Offenbach. Damals ahnte ich noch nicht, dass dieser Arztbesuch der Beginn einer Tortur werden würde.
„Hatten Sie in der Schule Schwierigkeiten mitzukommen?“
„Ja, aber nicht in allen Fächern.“
„Fühlen Sie sich oft schlapp?“
„Puuh, ja, doch, schon.“
„Wann begann Ihre Pubertät?“
„Weiß nicht, so mit 14 oder 15, schätze ich.“
„Haben Sie oft Lust auf Sex?“
„Ja.“
Konzentrationsschwierigkeiten, Müdigkeit, gehemmte Libido – all das sind, wie ich heute weiß, mögliche Auswirkungen des Klinefelter-Syndroms. Aber längst nicht alles muss zutreffen. Der Urologe untersuchte mich auch auf „körperliche Abweichungen“. Bin ich hochgewachsen, habe ich überdurchschnittlich lange Beine? Nein, beides trifft nicht zu. Dann noch ein Blick auf die Körperbehaarung und die Brustdrüsen. Und zum Abschluss: Hose runter, Abtasten und Messen der Hoden. „Ich benötige eine Spermaprobe von Ihnen“, sagte er zu mir.
Eine Woche später saß ich wieder in der Praxis, dem Urologen gegenüber. Er sagte vier Worte. Vier Worte wie ein Schlag ins Gesicht: „Sie haben keine Spermien.“ Es tue ihm leid, aber auf dem natürlichen Weg sei eine Zeugung für mich unmöglich. Ich übersetzte für mich: Du schießt mit Platzpatronen.
Warum ausgerechnet ich?
Ich würde niemals ein leibliches Kind haben. Warum ausgerechnet ich? Ich war traurig. Um dieses Gefühl zu kompensieren, wurde ich Betreuer bei Ferienspielen. Die Kinder gaben mir viel. Es machte mich glücklich, wenn ich sah, wie viel Freude sie hatten, wenn ich mit ihnen Fußball spielte. Ihre Freude baute mich auf. Sie bauten mich auf.
Ich hatte Angst davor, keine Frau kennenzulernen, die mich so liebt, wie ich bin. Mit dem zusätzlichen X. Meine damalige Freundin unterstützte mich zunächst, als ich von der Diagnose erfuhr. Es gab dadurch keinen Bruch in unserer Beziehung, es gab auch keine Anzeichen dafür.
Später dann, als wir gemeinsam studierten, trennten wir uns. Meine Zeugungsunfähigkeit war nicht der Hauptgrund, doch es war immer ihr Wunsch, einmal eigene Kinder zu haben. So ähnlich war es dann drei Jahre später mit einer weiteren Partnerin. Sie sagte sogar, dass die Zeugungsunfähigkeit mit ein Trennungsgrund war, aber auch nur einer von vielen.
Ich gab mir bei beiden Trennungen die Schuld. Wieder redete ich mir ein, nicht männlich genug zu sein. Ich glaubte, bei einem Streit nicht weinen zu dürfen, meine Freundin beschützen zu müssen – so etwas eben.
Ein Arzt möchte ein Foto machen
Mein Arzt überwies mich an die Urologie am Uniklinikum Frankfurt. Dort erzählte ich der Ärztin von der Musterung. Sie stellte mir die gleichen Fragen wie der Offenbacher Urologe. Ich fühlte mich leer. Wieder sollte ich mich hinstellen, wieder mein T-Shirt ausziehen, wieder meine Hose runterlassen. Auch sie tastete meine Hoden ab. „Ich habe eine Vermutung, doch ich benötige zunächst das Ergebnis Ihres Spermas.“ Sie zog einen Kollegen hinzu, dessen Spezialgebiet Erkrankungen männlicher Geschlechtsorgane sei.
Ich stand weiter da, in Boxershorts und mit einem Selbstbewusstsein, das kaum über den Boden reichte. Die Tränen liefen langsam meine Wangen hinunter.
Ein Arzt kam herein, schaute mich an und wirkte fast euphorisch. „Stellen Sie sich doch bitte mal auf diesen Stuhl und breiten Sie Ihre Arme aus“, sagte er. Ich tat wie gewünscht. Schließlich war er der Experte, meine Hoden sein Fachgebiet. Und ich wollte endlich erfahren, was mit mir nicht stimmt.
Er sagte: „Ich habe noch nie jemanden mit Ihrer Figur gesehen.“ Ich könne das Klinefelter-Syndrom haben. Die Abweichungen meines Körpers und die Größe meiner Hoden deuteten darauf hin. Aber mit hundertprozentiger Sicherheit könne er es noch nicht sagen. Dann: „Ich würde gern von Ihrem Körper ein Foto für meine Studenten machen. Zu Lehrzwecken. Sie müssen das natürlich nicht tun, aber es wäre wichtig für ihre Ausbildung.“ Ich stimmte zu.
Das Klinefelter-Syndrom
Heute bereue ich diese Entscheidung. Ich stand auf diesem Stuhl, beim mittlerweile dritten Arzt, der sich auch noch darüber zu freuen schien, dass ich zu kleine Hoden hatte und damit anscheinend der erste lebende Beweis eines XXY-Mannes war.
Ich verließ das Uniklinikum, und mit jedem Schritt zu meinem Auto breitete sich diese Leere in mir weiter aus. Ich setzte mich in den Wagen, griff mit meinen Händen ans Steuer und heulte. Schließlich schickte man mich zum Fachlabor für Abstammungsbegutachtung nach Frankfurt am Main. Dort wurden meine Chromosomen untersucht, und nun stand fest: Ich habe das Klinefelter-Syndrom.
Bis zu diesem Zeitpunkt im Frühjahr 2007 wussten nicht einmal meine Freunde von meiner Diagnose. Ich weinte viel und fühlte mich krank. Meine Mutter baute mich auf. „Du hast keine schlimme Krankheit, du bist gesund. Es gibt viele Menschen auf der Welt, die wirklich krank sind. Du bist es nicht“, sagte sie oft. Das hat mir geholfen.
Plötzlich sah ich gleichaltrige Männer mit anderen Augen: Haben sie Bartwuchs? Einen ausgeprägten Adamsapfel? Haben sie stärkeren Haarwuchs an Armen und Beinen? Ich fühlte mich nicht männlich genug. Ich schämte mich sogar, kurze Hosen zu tragen. Ich war mir sicher, dass mich jeder Typ anschaut und denkt: Der ist ja kein richtiger Mann.
Zumindest aber wusste ich jetzt auch, dass es nicht meine Schuld war, dass ich antriebslos war und Lernschwierigkeiten hatte. Diese Erkenntnis löste in mir aus, es allen beweisen zu wollen. Ich wollte zeigen, dass auch ein XXY-Mann Abitur und Studium schaffen kann. Und ich schaffte es.
Vier Jahre nach der Diagnose war ich endlich an der Uni. Ein neuer Lebensabschnitt begann. Ich verdrängte mein Syndrom, dachte nicht an das zusätzliche X. Ich verschwendete auch keine Gedanken an eine mögliche Testosterontherapie. Der Offenbacher Urologe sagte damals, dass eine Therapie noch nicht nötig sei. Wie falsch diese Information war, erfuhr ich erst ein paar Jahre später.
Ein Freund nannte mich „Zicke“
Also lebte ich weiter mit Stimmungsschwankungen, wegen derer ich mich ab und zu mit zwei Unifreunden in die Haare bekam. Einer von ihnen sagte mal zu mir, ich sei eine „Zicke“.
Die Vorlesungen erinnerten mich sehr an meine Schulzeit. Ich konnte mich für maximal 30 Minuten konzentrieren, danach schweifte ich ab, beobachtete meine Kommiliton*innen.
Manchmal schaute ich mir Männer an, die mir bekannte Merkmale des Klinefelter-Syndroms aufwiesen. Aber dann hatten sie doch einen ausgeprägteren Kehlkopf, stärkeren Haarwuchs an den Armen, und ich verwarf den Gedanken, es könne ihnen ähnlich gehen wie mir. Auch meine Freunde musterte ich mit diesem Blick. Aber da war nichts. Ich konnte doch nicht der einzige KS-Mann an der Universität sein.
Mit 26 sah ich immer noch aus wie 18. Manche meiner Kumpels an der Universität waren fünf Jahre jünger als ich, sahen aber deutlich älter aus. Es nervte, als 26-Jähriger beim Kauf einer Flasche Wein noch nach einem Ausweis gefragt zu werden. „Ist das Ihr ernst?“, pampte ich dann des Öfteren die verdutzten Mitarbeiter*innen an der Kasse an.
Ich wollte endlich, dass sich an mir etwas verändert. Und überlegte, nun doch mit der Hormontherapie zu beginnen. Im Frühjahr 2013 saß ich wieder in einer Praxis, diesmal bei einem Urologen in Darmstadt. Ich sagte ihm, dass ich gern einen normalen Bartwuchs und Muskelaufbau hätte.
Es fühlte sich an, als würde ein Schönheitschirurg vor mir sitzen. Damals war ich überzeugt, dass eine Behandlung aus gesundheitlichen Gründen nicht nötig wäre. Der Urologe sah mich etwas fragend, aber auch ernst an. Er wunderte sich, dass ich nicht schon längst in Therapie war. Sagte, dass die Therapie mit Testosteron schon in der Pubertät hätte beginnen sollen, wenn nicht sogar müssen. Warum? Während der Pubertät steigen die Werte von sogenannten follikelstimulierenden Hormonen (FSH) und luteinisierenden Hormonen (LH) deutlich an. XXY-Männer haben in der Regel nicht nur geringe Testosteron-, sondern auch hohe FSH- und LH-Spiegel. FSH ist mitverantwortlich für die Produktion der Spermien, LH wirkt auf die Produktion von Testosteron.
Je höher diese Werte sind, desto geringer ist der eigentliche Gehalt des bis dato noch selbst produzierten Testosteron. Die Therapie kann meine Chromosomenstörung nicht verhindern, aber sie sorgt dafür, dass mein Hormonhaushalt funktioniert und ich ein normales Leben führen kann.
Es ballert fast wie eine Droge
Braunschweig, November 2017. Ich rutsche nervös auf meinem Stuhl umher und tippe mit meinem linken Fuß im Sekundentakt auf den Boden. „Herr Simon“, ruft eine junge Frau. Ich blicke auf und folge der Stimme in einen kleinen Raum. „Sie wissen ja, was Sie machen müssen?“ Ja, ich weiß. Ich ziehe mein T-Shirt ein Stück nach oben und meine Hose ein bisschen runter. Die Spritze wird immer oberhalb des Hinterns in den Muskel injiziert. „Nicht erschrecken, es wird etwas pieksen“, sagt die Arzthelferin zu mir. Die Spritze enthält 1.000 Milligramm Testosteron. Seit meinem ersten Besuch vor über zwei Jahren beim Urologen in Darmstadt erhalte ich regelmäßig diese Dosis.
Zwanzig Sekunden steckt die Spritze in meinem Körper, und mit jeder Sekunde wird der Schmerz stärker. Ein Schmerz wie starker Muskelkater. Nach 20 Sekunden hat sich das Testosteron, das wie Honig aussieht, seinen Weg durch meinen Körper gebahnt. Steigt mein Testosterongehalt, werde ich aktiver. Außerdem beugt das Hormon Krankheiten wie Osteoporose oder Muskelschwäche vor. Ich ziehe mich an, verabschiede mich und laufe leicht humpelnd aus der Praxis.
Keine zwei Minuten später wirkt das Testosteron. Es ballert fast wie eine Droge. Ich wippe nicht mehr mit meinem Bein, wenn ich an der Fußgängerampel stehe. Im Supermarkt haste ich nicht mehr durch die Gänge oder zähle die Sekunden an der Kasse, bis ich wieder draußen bin. Ich will nicht sofort wieder nach Hause, um Netflix zu schauen. Stattdessen laufe ich lieber durch die Straßen, lege mich auf eine Wiese und genieße die Sonne. Alle zwölf Wochen geht das so. Alle zwölf Wochen, ein Leben lang.
Heute bin ich nicht mehr eifersüchtig auf meine Freunde. Seit zwei Jahren trage ich einen Vollbart, baue schneller Muskeln auf, sehe nach all den Jahren endlich nicht mehr wie ein Teenager aus. Nach meinem Ausweis werde ich im Supermarkt nicht mehr gefragt.
Seit sechs Jahren bin ich nun in Therapie. Ich sehe nicht nur anders aus, ich fühle mich auch besser. Doch ich spüre auch Entzugserscheinungen, wenn die 11. Woche sich dem Ende nähert. Dann werde ich nervöser, und meine Konzentration nimmt ab. Wie ein Junkie fühle ich mich in solchen Momenten. Absetzen, clean werden, das kommt für mich nicht infrage. Ich brauche die Spritze, das Testosteron, dieses Gefühl, wenn auf einmal alles normal wird.
Dass ich heute stolz darauf bin, anders zu sein, liegt nicht nur an der Testosteronspritze. Es hat auch viel mit meiner Freundin zu tun. Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, an dem ich ihr von meiner Diagnose erzählte. Über drei Jahre ist das her, wir saßen in ihrem Zimmer. „Ich muss dir etwas erzählen“, sagte ich. Sie sah etwas besorgt aus und hielt meine rechte Hand. Ich erzählte ihr, dass ich keine Kinder zeugen kann, und davon, was das Klinefelter-Syndrom mit mir macht. Ich weinte, sie nahm mich in den Arm und fragte: „Ist das alles? Das ist doch nicht schlimm.“
Ein Mann ist ein Mann ist ein Mann
Wenn ich mich im Spiegel betrachte, nervt mich meine Figur manchmal noch immer. Aber ich verschwende keinen Gedanken mehr daran, ob ich jetzt ein „richtiger Mann“ bin oder nicht. Weil auch die vielen Gespräche mit meiner Freundin über kritische Männlichkeit und Feminismus meine Sicht darauf verändert haben.
Heute ist mir bewusst: Ich wurde von einem Männlichkeitsbild beeinflusst, das unsere Gesellschaft kreiert hat. Aber ein Mann ist auch ein Mann, wenn er weniger Muskeln oder Bartwuchs hat.
Nur dann, wenn ich Männer sehe, die im Sommer mit freiem Oberkörper Frisbee im Park spielen, will ich ihnen oft zurufen: „Sei froh, dass deine Hormone nicht durchdrehen. Schätze es, dass du gesund bist und Kinder in die Welt setzen kannst.“ Meine Freundin beruhigt mich in diesen Momenten: „Du bist wunderbar, so wie du bist. Mach dir darüber keinen Kopf. Außerdem weißt du doch nicht, welche Probleme diese Typen vielleicht haben.“ Sie hat recht.
Oft sitzen wir beide zusammen auf dem Sofa, wenn ich am Wochenende bei ihr in Frankfurt bin. Dann trinken wir Bier, rauchen und spielen Karten. „Ich fand die Reaktion von deiner Mitbewohnerin gestern vor dem Club schon daneben. Ich wollte doch nur den Streit zwischen ihr und dem Türsteher schlichten“, sage ich. „Ja, aber ich kann sie schon verstehen. Du solltest in solchen Situationen lieber kurz nachdenken und entscheiden, welche Reaktion angemessen ist“, sagt sie.
Biologisch bin ich intersexuell
Ich war am Abend zuvor in einem Streit zwischen der Mitbewohnerin und dem Türsteher dazwischengegangen. Das fand sie nicht gut, Frauen sollten für sich sprechen. Auch durch solche Situationen fing ich an, über den Unterschied zwischen biologischem und sozial konstruiertem Geschlecht nachzudenken.
Biologisch gesehen bin ich intersexuell. Ich könnte also meinen Eintrag im Geburtenregister ändern lassen, zur Option „drittes Geschlecht“. Bisher scheue ich mich davor. Ich fühle mich als Mann.
August 2018. Zurück am See, wo die Sonne ohne Unterlass weiter brennt. Ich lege ein Handtuch schützend über meinen Kopf, dann spüre ich die nassen Haare meiner Freundin, die sie meinem Arm entlanggleiten lässt.
„Das fühlt sich so gut an“, sage ich zu ihr. Ich will ins Wasser und versuche, mich zu überwinden: Gib dir einen Ruck, geh ins Wasser, stell dich doch nicht so an. Wer soll schon Notiz von dir nehmen? Dann stehe ich auf und blicke mich um. Guckt mich jemand an? Starrt jemand auf meinen Körper? Nein, niemand tut das.
Ich laufe den Weg runter zum Ufer an vier Jugendlichen vorbei, die herumalbern und mich gar nicht beachten. Ich laufe durch das seichte Wasser bis ich den Boden unter meinen Füßen nicht mehr spüren kann. Ich schwimme ein paar Züge. Dann drehe ich mich auf den Rücken, blicke in den blauen Himmel, schließe die Augen und lasse mich treiben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert