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Zwangsräumungen in OstjerusalemGericht sucht fraglichen Ausgleich

Im Viertel Sheikh Jarrah sollen palästinensische Familien in ihren Häusern bleiben dürfen. Sied­le­r:in­nen sollen rechtliche Vermieter werden.

Palästinensische Bewohner einer Nachbarschaft in Ostjerusalem Foto: Ronen Zvulun/reuters

Jerusalem taz | Der Streit um die Enteignung palästinensischer Häuser im umkämpften Ostjerusalemer Viertel Sheikh Jarrah geht in die nächste Runde. Israels oberstes Gericht schlug am Montag eine mögliche Lösung vor, um weitere Gewaltausbrüche zu verhindern: Zwar will man die palästinensische Klage gegen die geplanten Zwangsräumungen nicht annehmen, aber auch die Besitzansprüche von Sied­le­r:in­nen auf palästinensische Häuser wurden abgelehnt.

Was wie ein Kompromiss klingt, wurde eher wie ein Ultimatum vorgetragen. Das Ziel der Rich­te­r:in­nen: Sich selbst davor zu drücken, in einer politisch höchst brisanten Angelegenheit Stellung zu beziehen, und stattdessen die Parteien unter Druck zu setzen.

Im Mai war das strategisch wichtige Viertel, das Ostjerusalem mit der Altstadt verbindet, zum internationalen Solidaritätssymbol mit Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen geworden. Die drohende Ausweisung zugunsten von Sied­le­r:in­nen sorgte weltweit für Aufmerksamkeit. Als Proteste gegen die Zwangsräumungen und israelische Polizeigewalt in der Altstadt Jerusalems eskalierten, kam es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Israel und militanten Kräften im Gazastreifen. Bei den 11-tägigen Gefechten fanden 260 Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen und 13 Israelis den Tod.

Der nun vorgelegte Gerichtsbeschluss verlangt von den vier Familien – insgesamt 70 Menschen – die seit den 1950er Jahren in ihren Häusern leben, die israelische Siedlerorganisation Nahalat Shimon als rechtlichen Vermieter anzuerkennen. Im Gegenzug sollen die Familien einen Sonderstatus von „geschützten Mieter:innen“ erhalten, der sie auf unbestimmte Zeit vor Zwangsräumungen bewahren würde.

„Praktische Lösungen finden“

Während der Anwalt von Nahalat Shimon den Vorschlag ablehnte und eine Anerkennung des jüdischen Eigentumsrechts einforderte, erklärten sich die palästinensischen Familien kompromissbereit, verweigerten aber die Ansprüche der Siedler. Schließlich forderten die Rich­te­r:in­nen die palästinensische Seite auf, innerhalb einer Woche eine Personenliste mit den Namen derjenigen Be­woh­ne­r:in­nen vorzulegen, die einen Anspruch auf Sonderstatus hätten. Viele der Anwesenden im Gerichtssaal hatten Mühe, den Argumenten auf Hebräisch zu folgen – ihr eigenes Schicksal wurde ohne offizielle Übersetzung verkündet.

Die Menschen müssen hier weiterleben

Richter Isaac Amit

„Wir müssen uns von einer Prinzipienebene entfernen und praktische Lösungen finden. Die Menschen müssen hier weiterleben“, erklärte Richter Isaac Amit. Insgesamt sind allein in Sheikh Jarrah 75 Familien von einer Räumung bedroht.

Haim Silberstein, Präsident der Siedlerorganisation Keep Jerusalem, hofft auf einen endgültigen Gerichtsentscheid zugunsten der Siedler:innen. Die Etablierung einer starken jüdischen Mehrheit in Vierteln wie Sheikh Jarrah sei „wichtig für die Demokratie und die jüdische Heimat“.

Um die Asymmetrie in dem Immobilienstreit zu verstehen, muss man zur Staatsgründung Israels 1948 zurückkehren: Damals kam Sheikh Jarrah zunächst unter jordanische Kontrolle. Palästinensische Flüchtlinge, die das Viertel besiedelten, zahlten zunächst unter jordanischer Herrschaft Miete an einen „Generalverwalter“. Im Sechstagekrieg 1967, knapp 20 Jahre später, besetzte Israel Ostjerusalem. Für das Gerichtsverfahren reichten die betroffenen Familien Dokumente ein, aus denen hervorgeht, dass die jordanische Regierung noch vor 1967 versucht hatte, ihnen das Eigentum der Häuser zu übertragen – diese Dokumente sollten ihnen als Rechtsgrundlage dienen. Bisher bezogen sich die Rich­te­r:in­nen jedoch nicht darauf.

Seit Jahren wollen jüdische Sied­le­r:in­nen Häuser, die vor 1948 von Juden bewohnt wurden, gerichtlich zurückgewinnen. Legitimiert wird dies durch ein Gesetz, das Israel 1970 verabschiedet hat und Jüdinnen und Juden berechtigt, Grundstücke zurückzuerhalten, die sie im Krieg von 1948 verloren haben. Palästinenser:innen, von denen 1948 etwa 700.000 zu Flüchtlingen wurden und die ihre Häuser verloren, bleibt ein solches Gesetz verwehrt.

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16 Kommentare

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  • Wie gerecht wird ein Gericht eines Staates empfunden, das noch nicht einmal eine Simultanübersetzung in die Muttersprache der Betroffenen leistet, die dort bereits vor der Gründung des Staates lebten? Das könnte als eine Taktik der Marginalisierung gedeutet werden.

    • @Patricia Jessen :

      Kurz nachgeschaut: und D wird ausschließlich den Sorben zugestanden, in ihrer Minderheitensprache vor Gericht zu kommunizieren. Die Dänen in Südschleswig müssen deutsch akzeptieren, auch wenn sie seit Jahrhunderten dort leben.

  • "Krieg von 1948", nett formuliert...



    "Flucht und Vertreibung der Juden aus den arabischen Ländern waren nahezu total. Von den fast 900.000 in arabischen Ländern vor 1948 lebenden Juden sind heute nur wenige Tausend übriggeblieben"



    m.bpb.de/politik/e...rabischen-laendern

    • @Wonneproppen:

      Danke für den Link. Die Informationslage zu diesem Thema finde ich tatsächlich, nicht nur bei der taz, etwas dünn. Aus meiner Sicht müsste das immer dann erwähnt werden, wenn man über die Vertreibung arabischer Menschen schreibt/spricht.

      Ebenso die UN-Resolutionen. Da sollten Medien meiner Meinung nach auch, bei jeder gegen Israel gerichteten Resolution erwähnen, wieviele islamische und wie viele jüdische Staaten (diese Zahl ist bekannt) an der Abstimmung teilnahmen. Meinetwegen gerne auch umgekehrt. Ich gehe aber davon aus, dass es gegen islamische Staaten nicht so viele Resolutionen gibt.



      Werde ich aber trotzdem mal recherchieren.

  • 8G
    83379 (Profil gelöscht)

    Wenn die israelische Regierung die Enteignung die Enteignung durch die Jordanier vor 1967 nicht anerkennt stellt sie die eigenen Enteignung nach 1948 in Frage, erkennen beiden Seiten sie an, erkennen die Palästinenser de facto an die sie kein Recht auf ihre Ländereien in Israel haben.

    Die Lösung des Gerichts umgeht diese Konsequenzen.

    • @83379 (Profil gelöscht):

      May be. Ob Ihre Ableitungen zutreffen -



      Koa Ahnung nicht & ist negligable too.

      Die Lösung des Gerichts entspricht dem.



      Was ein Gericht solcher Provenienz immer & zuförderst zu leisten hat =>



      Einen sozialen Konflikt im Rahmen von Recht&Gesetz einer Lösung zuführen •

      unterm—- unlängst —



      aus dem Jahrmarkt der Eitelkeiten =>



      “Booey - die jungen Kollegen. Immer versucht - die Fälle an der schwächsten Stelle durchzubrechen. Aber das hab ich ja bei dir gelernt…“ => s.o. - 🤫 -



      Die mittlerweile Frau Vorsitzende!;)



      &



      Ende der Werbeeinblendung

      • @Lowandorder:

        und auch @ Machiavelli

        Das Problem ist etwas komplexer als es im Artikel geschildert wird, eine einfache juristische Lösung ist einfach nicht möglich.

        Diese Häuserzeile in Sheikh Jarrah, in der die palästinensischen Familien wohnen, wurde vom UN Flüchtlingswerk gebaut. Auflage an die damals in Ostjerusalem herrschende jordanische Regierung war, diese Häuser den dort lebenden Menschen als Eigentum zu übertragen, das hat die jordanische Regierung allerdings nie offiziell getan. Die Menschen waren auch nach jordanischem Recht niemals Eigentümer.

        Solange Jordanien da geherrscht hat, war das auch nie sonderlich relevant, dann befreite oder eroberte Israel, immer eine Frage des Blickwinkels, Ostjerusalem und die genannten Gesetze wurden beschlossen. Auch danach war das nie sonderlich relevant, bis diese religiösen Spinner auftauchen und die reden nicht nur von einer "Rejudaisierung", die haben auch das Geld, die zu erkaufen.

        Ist es die Schuld der Leute die da wohnen das sie nicht Eigentümer sind? Überhaupt nicht, Jordanien hat sich nie sonderlich gut um die zivile Verwaltung in diesem Gebiet gekümmert.

        Die juristische Faktenlage ist aber nunmal wie sie ist. Ohne politische Rückendeckung, die es aktuell nicht gibt, ist ein Kompromiss, meiner Meinung nach, das Beste was möglich ist.

        Sie lesen doch gerne alter Mann, es gibt eine sehr lesenwerte Abhandlung um die ganze Thematik.

        The Sheikh Jarrah Affair:



        The Strategic Implications of Jewish Settlement in an Arab Neighborhood in East Jerusalem

        Prof. Yitzhak Reiter und Dr. Lior Lehrs



        Jerusalem Institute for Policy Research

        jerusaleminstitute...in-east-jerusalem/

        • @Sven Günther:

          Danke Jung.

          unterm——- entre nous —



          Daß ich gerne läse - ist ein unausrottbares Gerücht.



          Mit Caesar unter den Achseln🐎! Gelle. Lasse ich - Lesen. Kommt billcher.

      • 8G
        83379 (Profil gelöscht)
        @Lowandorder:

        Sie haben schon recht das Gericht muss eine Lösung entlang von Recht&Gesetz treffen, und da gibt es Gesetze die die Siedler ins Recht setzen, es gibt aber auch die Menschenrechte und Rechtsprinzipien wie die Radbruchsche Formel. In diesem Fall gegen die Palästinenser zu entscheiden hieße das es ein Recht für Juden und ein Recht für Palästinenser gibt was Enteignungen angeht.

        Die Formel wird vermutlich in Israel nicht viel zitiert werden, ist aber als Prinzip schon nicht schlecht.

        Es ist und bleibt das Hauptproblem Israels das es keine Verfassung hat, eine starke solide Verfassung auf die sich Israelis und Palästinenser in Israel gleichermaßen berufen können.

  • Die Familien werden also nicht sofort auf die Straße geworfen, sondern "nur" zwangsenteignet und um Schutzgeld in Form von Miete erpresst. Das als Kompromiss zu bezeichnen, ist schon eine interessante Entscheidung.

    Laut einem Reporter vor Ort wurde das Verfahren übrigens auf hebräisch geführt, ohne einen neutralen Dolmetscher für die betroffenen Palästinenser.

    • @RonjaFox:

      "Schutzgeld in Form von Miete "

      Stellen Sie sich vor, das muss ich auch zahlen!

      Die Gang, die mir sonst die Kniescheiben zertrümmert heißt "Deutsche Wohnen".

    • @RonjaFox:

      Irgend eine Lösung muss her und zwar in Form eines Kompromisses. Die eigentlichen Besitzverhältnisse aufzudröseln oder anerkennen, nach Flucht und Vertreibung... Puh. So können diese Leute drin bleiben.

    • @RonjaFox:

      "Die Familien werden ... zwangsenteignet"

      Kann ich dem Text so nicht entnehmen. Wann haben diese Familien das Eigentum erworben? Einen "Versuch" der jordanischen Regierung (seltsam übrigens, was ist da nun genau passiert?) hierzu kann da nicht reichen.

      "Wir müssen uns von einer Prinzipienebene entfernen und praktische Lösungen finden. Die Menschen müssen hier weiterleben", wie der Richter sagt, finde ich indes zur Abwechslung mal positiv. Mit Grundsätzlichkeiten wurde in den letzten Jahrzehnten nicht allzuviel erreicht.

    • @RonjaFox:

      Ich weiß es nicht, darum die Frage: Ist die Landessprache in Israel und vor israelischen Gerichten nicht hebräisch?

      • @*Sabine*:

        Korrekt. Genauso wie sie in D deutsch ist.

        • @schwarzwaldtib:

          Ach ihr Schwarzkittel - für Übersetzungen wird in Schland dann schon gesorgt! Gellewelle.



          Stichwort - Faires Verfahren - Get it? Fein.

          unterm——- aus dem Skat —- Refi-time:



          Als Gießener Landrecht galt & die einvernehmliche Scheidungen vor Gesetzeskraft zelebrierten.



          Ehemann Ami - Überraschung “kann kein Deutsch!“ Uff! - “Öh - ja - ich könnt das Dolmetschen!“ Mein Weggefährte Diplomatenkind. Der Richter ok “Heben Sie die rechte Hand! - ich vereidige Sie hiermit …bla bla bla!“ der Tag gerettet.



          Ob alles rechtens - who knows?!



          ”Kam ganz schön ins Schwitzen - die juristischen Ausdrücke kennste ja denn doch nicht!“ Ami konnte aber ganz gut Deutsch. Anyway => EU - war später 🤣!



          (Daß Ihr Nasen in einem Rechtsstaat lebt - ist euch hoffentlich ab&an bewußt



          Gelle. Und das anderswo - gut Luft nach oben ist - Sorry - Bedarf keines Kommentars - wa! ;(