Zwangsräumung in Köln: Kalle für Alle
Am Mittwoch soll Karl-Heinz Gerigk aus seiner Wohnung zwangsgeräumt werden. Zahlreiche Unterstützer wollen das verhindern.
KÖLN taz | Karl-Heinz Gerigk öffnet das Fenster und lehnt sich hinaus. „Dieses Viertel ist mir ans Herz gewachsen“, sagt der 54-Jährige. Die meiste Zeit seines Lebens wohnt er hier. Jetzt soll er weg. Am Mittwoch steht die Zwangsräumung an. Es ist der zweite Versuch der Behörden, ihn aus seiner Wohnung im Kölner Agnesviertel zu holen. Der erste scheiterte dank einer Blockade von Unterstützern und Nachbarn. Sonst würde der Wimpel mit dem Geißbock und dem Logo des 1. FC Köln heute nicht mehr an der Wand in der Küche hängen.
Als „Kalle“ ist Karl-Heinz Gerigk weit über die Stadtgrenzen Kölns hinaus zur Symbolfigur einer Bewegung gegen Zwangsräumung und Gentrifizierung geworden. Sogar in Chile trugen Ende März Demonstranten ein „No Mas Desalojos – Alle für Kalle“-Transparent. Pfarrer, Künstler und Schriftsteller wie Günter Wallraff haben sich solidarisiert. „Kämpf weiter!“, schrieb ihm der Liedermacher Konstantin Wecker. Als Münchner wisse er, „was es heißt, das Bett unter seinem Hintern wegsaniert zu bekommen“. Die breite Unterstützung gehe ihm „schon nahe“, sagt Gerigk. „Das ist Wahnsinn.“
Mit München und Stuttgart gehört Köln zu den drei Großstädten mit den höchsten Mieten in Deutschland. Gerigks Fall steht exemplarisch für die Verdrängung alteingesessener Mieter aus den besonders begehrten Lagen. „Das ist ein Problem, das viele betrifft“, sagt der städtische Angestellte.
Seit 32 Jahren lebt der Junggeselle in seiner 68 Quadratmeter großen Wohnung in der Fontanestraße. Die Miete beträgt deswegen nur 345 Euro kalt – für heutige Verhältnisse extrem günstig. In den vergangenen zehn Jahren hätten sich die Immobilienpreise im Agnesviertel verdoppelt, berichtet er. Bei Neuvermietung müsse inzwischen bis zu 17 Euro der Quadratmeter gezahlt werden. Das macht die innenstädtische Gegend so attraktiv für Immobilienhaie. Nach der Entmietung der Häuser folgt die Luxussanierung.
„Eigenbedarf“ war plötzlich erledigt
Wie das funktioniert, erlebt Gerigk gerade am eigenen Leib. Seine und die danebenliegende Dachgeschosswohnung kauften vor ein paar Jahren zwei eng verbandelte Immobilienmakler für je rund 100.000 Euro. Mit dem Hinweis auf „Eigenbedarf“ wollten die beiden umgehend die bisherigen Mieter raushaben. „Da hat gleich ein rauer Wind geweht“, berichtet Gerigk. Seine Nachbarn gingen mit einer Abfindung widerstandslos. Der neue Besitzer ließ die Wohnung kräftig aufmöbeln. Dann verkaufte er sie für etwa 345.000 Euro. Sein Eigenbedarf hatte sich plötzlich erledigt.
Gerigk aber wollte nicht ausziehen, seit über sechs Jahren zieht sich der Streit hin. Im Jahr 2013 verlor Kalle seinen letzten Prozess. Obwohl der Eigentümer die Wohnung schon im Internet zum Kauf anbot, hielt das Gericht die Kündigung wegen Eigenbedarfs für rechtmäßig.
Am 16. Dezember 2013 hätte Gerigk die Wohnung verlassen müssen. Doch er blieb. „Ich will ein Zeichen setzen“, sagt der drahtige Mann mit den kurzen weißen Haaren. „Es kann doch nicht sein, dass sich nur noch die Yuppies und die, die die dicke Kohle haben, das Wohnen in der Innenstadt leisten können.“ Als die Nachbarn, Bekannten und Kollegen von der drohenden Zwangsräumung erfuhren, reagierten sie zunächst besorgt. „Einige dachten, ich hätte meine Miete nicht gezahlt“, erzählt er. Doch das hat er immer getan. „Alle für Kalle – Kalle für alle“ ist das Motto, hinter dem sich Leute aus sozialen Initiativen, Autonome und viele seiner Nachbarn sammeln.
Empfohlener externer Inhalt
Gerigk hat sich auf den Tag X gut vorbereitet. Was ihm lieb und teuer ist, hat er mittlerweile bei Freunden untergebracht. In einem Zimmer steht nur noch sein Schreibtisch samt Laptop, in einem anderen liegt die Matratze, auf der er schläft. Im Kühlschrank finden sich ein kleiner Bionade-Vorrat und zwei Flaschen Kölsch, Salat und andere frische Lebensmittel.
Ein politischer Mensch war Gerigk immer schon. Mit glänzenden Augen erinnert er sich an die legendäre Stollwerck-Besetzung Anfang der achtziger Jahre und auch, wie er damals im Bonner Hofgarten für den Frieden demonstrierte. Auch ansonsten ist er immer wieder auf die Straße gegangen. „Nur hat da keiner gerufen: Ach, da ist ja der Kalle, und mich auf die Bühne geholt“, sagt er und lacht. Das passiert jetzt öfter. Während der Demos zum Warnstreik im öffentlichen Dienst ließen sich Grünen- und Linken-Kommunalpolitiker mit dem parteilosen Gewerkschafter fotografieren.
Einer von ihnen war Andreas Hupke, der grüne Bezirksbürgermeister in der Kölner Innenstadt. Er findet es „klasse, dass Kalle Gerigk den Rechtsstaat voll und ganz in Anspruch nimmt“, sagt der 64-Jährige. „Wenn das alle machen würden, wären wir schon ein Stück weiter.“ Seine Standhaftigkeit sei ein „historisches Verdienst“. Hupke wohnt seit 40 Jahren in der Innenstadt.
Letztes Mal zog die Polizei wieder ab
„Wir wollen eine heterogene Wohnbevölkerung, aber mittlerweile wird nicht nur die Unterschicht, sondern auch die Mittelschicht vertrieben“, sagt er. Beim ersten Räumungsversuch Mitte Februar war Hupke mit auf der Straße. Während Gerigk mit Freunden in seiner Wohnung wartete, versperrten einige Hundert Demonstranten den Zugang zum Haus. Schließlich zogen der Gerichtsvollzieher und die Polizei wieder ab. Es habe ihn „umgehauen, dass es geklappt hat, die Räumung zu verhindern“, sagt Gerigk. Ob das ein zweites Mal gelingt, ist er skeptisch. Aber er will es drauf ankommen lassen. Seine Unterstützer wollen das auch: Für Mittwochfrüh haben sie zur Sitzblockade mit Straßenfest aufgerufen.
Sein Kampf für bezahlbaren Wohnraum hat Karl-Heinz Gerigk inzwischen auch berufliche Konsequenzen ziehen lassen. Seinen bisherigen Job bei der Volkshochschule Köln hat er aufgegeben. Stattdessen arbeitetet er jetzt – beim städtischen Wohnungsamt. Da kümmert er sich um Menschen, die von Obdachlosigkeit bedroht sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“