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Zur Kulturgeschichte des MundesDas Welterschließungsorgan

Der Mund und seine Bedeckung sind derzeit Dauerthema. Das Kunstmuseum Wolfsburg hat eine Ausstellung zum Thema, darf sie aber gerade nicht öffnen.

Mit „La vie à pleines dents“ zeigt Arman 1960 die Spur von Menschen, die das Leben genießen konnten Foto: bpk CNAC-MNAM / Philippe Migeat / VG Bild-Kunst

Er ist zum locus horribilis geworden, der Mund- und Rachenraum des Menschen: ein Ort des Grauens. Zusammen mit dem nicht minder unheilbringenden Naseninneren gilt er als hochinfektiöse Körperregion der Replikation des Coronavirus. Präventivmedizinisch plausibel also, wenn wir derzeit fast nur noch mit Mund-Nasen-Bedeckung unter Menschen dürfen.

Während ideologisierende Gegner der Corona-Maßnahmen das Stück Textil über der unteren Gesichtshälfte in die Nähe fundamentalistischer Zwangsverschleierung zu rücken versuchen, erkennen gesellschaftsphilosophisch versierte Zeitgenoss:innen in der Gesichtsmaske ein aktuelles Beispiel für die weitere Entsozialisierung des Menschen. Denn dessen physiognomische Individualität wird durch die Bedeckung eines ihres wichtigsten Ausdrucksträgers beraubt.

Zeit somit, sich näher dem für die Subjektkonstituierung des Menschen Mund zuzuwenden, seiner Polyfunktionalität sowie seiner Rolle in der Zivilisation zum sozialen Wesen, in Summe: dem Oralen in seiner ganzen Komplexität.

Nach gut zweijähriger Recherche präsentiert das Kunstmuseum Wolfsburg, wohl erst mal im deutschsprachigen Raum, anhand von zwölf Motivsträngen seine Sondierungen in den Tiefen der Kunst- und Kulturgeschichte, der Medizin und Trivialphänomenologie zu vielen Aspekten des Mund- und Rachenraumes. Und, Ironie der Zeiten: Zwei Tage nach der Eröffnung musste die Ausstellung „In aller Munde“ mit ihren über 250 Exponaten von 160 Künstler:innen wieder schließen, der Corona-Prävention gehorchend.

So bleibt derzeit neben Museumsvideos im Netz nur die voluminöse Begleitpublikation, die zur Eröffnung als „Lektüre für die kommenden Wochen“ empfohlen wurde und weit über eine Ausstellungsdokumentation hinausreicht. In ihr entwickelt, adäquater als in einer visualisierenden Ausstellung, deren Impulsgeber, der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme, seine zentrale These: Der Mensch wird als Subjekt im Mundraum geboren, in einer zweiten, soziokulturellen Geburt.

Ausstellung und Begleitpublikation

„In aller Munde. Von Pieter Bruegel bis Cindy Sherman“: Kunstmuseum Wolfsburg. Bis 5. April 2021

„In aller Munde. Das Orale in Kunst und Kultur“, hrsg. von Uta Ruhkamp, 352 S., 45 Euro im Museum

Als bidirektionaler Transitraum ist der orale Bereich ein über Jahrmillionen verfeinertes biomechanisches und einzigartig polyfunktionales Organ-Ensemble des menschlichen Körpers, das, lange bevor ein Mensch des kognitiven Urteils fähig ist, die Grunderfahrung aller Ästhetik liefert: den Geschmack. Der Mundraum ist die empfindsame Versuchszone, in der durch Abtasten mit Lippen, Gaumen, Zunge, durch Lutschen, Einspeicheln, Zermalmen und Schmecken entschieden wird, was bei sich behalten und was wieder ausgestoßen wird, kommentiert durch Mimik und averbale Kommunikation.

Er ist somit das erste Welterschließungsorgan für die elementare Scheidung zwischen Ich-Sphäre und Objekt-Universum. Mit Atmung und Geruchssinn, der organischen Bereitstellung der Kommunikationsfähigkeit sowie der Triebdynamik in oralbegehrender und dental­aggressiver Ausrichtung misst Böhme dem Mund-Ensemble eine erstrangige Bedeutung für die Ontogenese des Individuums und die Phylogenese der Gattung bei. In der Kombination mit dem Ohr sei es ähnlich entscheidend für den evolutionären Siegeszug des Menschen wie die Allianz aus Hand und Auge. Allerdings sei die orale Selbstkonstitution stets im Schatten des „Begreifens“ mittels der Hand, nach Aristoteles „das Werkzeug für Werkzeuge“, des aufrechten Ganges und erst recht des Geistes und der Seele gestanden.

Der Mund teilte zudem das Los anderer Körperöffnungen des Menschen, wenn geöffnet, als unschicklich zu gelten, somit nur verschlossen als gesittet, harmonisch und präsentabel. Gotthold Ephraim Lessing forderte 1766 in seinen Gedanken über den bildnerisch offensichtlich unterdrückten Todesschrei des Laokoon in der plastischen Gruppe, dass Malerei und Skulptur aus ästhetischen Gründen auf die Darstellung von Empfindungen und Affekten zu verzichten hätten. Extreme Mimik und der zum Schrei, aber auch der zum Lachen geöffnete Mund galten ihm als hässlich, letzterer wegen der fehlenden akustischen Komponente ohnehin als nicht visualisierbar – bis Edvard Munch 1910 in der synästhetischen Farbexplosion ein überwältigendes Ausdrucksmittel fand.

Die Körperöffnung Mund diskreditierte zudem ihre mittelalterliche Bildgeschichte als, zuerst tierisches, Maul des Höllentors, das den sündigen Menschen verschlingt, auf dass er in ihrem Inneren auf ewig im lodernden Flammenmeer schmort.

Aber Schrecken beflügeln auch die Fantasie: In der säkularen Architektur des Manierismus wurde der Höllenschlund zum anthropomorph dekorierten Eingangsportal, am bekanntesten wohl als Riesenmaul im heiligen Wald von Bomarzo nahe Roms, nach 1580 errichtet. Der Schlund im Walde führte nun nicht ins Purgatorium, sondern lud mit steinernem Tisch und Bänken zum ländlichen Gelage in seinem kühlen Inneren.

Polare Spannungen und Kippmomente sind feste Bestandteile aller Betrachtungsebenen des Oralen. In der Ernährung etwa zwischen Appetit und Völlerei, Genuss und Ekel, dem Zu-Sich-Nehmen und Ausspeien. Hinter dem erotischen Signum des leicht geöffneten weiblichen Mundes lauern nicht nur Kehl-Penetration, sondern auch Kastrationsangst, gar Kannibalismus, hinter dem Kuss der Vampirismus. Zähne lassen sich dank moderner Medizin lang erhalten, sie sind teures Distinktionsmerkmal sozialen Status, ähnlich trendig wechselnder Esskulturen, Diäten, Superfood.

Vergessen werden sollten auch nicht die politischen Konnotationen des Oralen. Seit Immanuel Kant kennen wir den Imperativ, der Mensch möge sich aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien. Mündige Bürger:innen dürfen ihre Stimme erheben, bei einer Wahl symbolisch abgeben. Aber ist unsere kommunikative Interaktion in den anonymen Weiten sogenannter sozialer Medien nicht ziemlich stimmlos geworden, bild- und textdominiert, inhaltsleer, verantwortungslos?

Vielleicht sollten wir den Akt, wenn wir irgendwann die Mund-Nasen-Bedeckung wieder ablegen dürfen, zu unserer dritten Geburt erklären: zum multisensorischen Wesen, im vollen Bewusstsein seiner sozialen Mündigkeit.

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