Zulage an Brennpunkt-Schulen in Berlin: An der Realität vorbei
Lehrer*innen in Neukölln-Britz protestieren gegen die Brennpunktzulage des Senats, weil ihre Schule trotz vieler Gewaltvorfälle leer ausgeht
Die Otto-Hahn-Schule in Britz, an der viel befahrenen Buschkrugallee, passt eigentlich ins Anforderungsprofil: Es ist eine Sekundarschule, an der Schüler*innen alle Abschlüsse machen können. In der Realität klappt das nicht immer so gut: Im vergangenen Schuljahr haben dort laut Kollegium 15 von 135 Schüler*innen die Berufsschulreife (den qualifizierten Hauptschulabschluss) geschafft – eine Quote von elf Prozent.
Lehrer*innen berichten von überdurchschnittlich vielen Gewaltvorfällen, die regelmäßig Jahrgangskonferenzen und Disziplinarmaßnahmen nach sich ziehen. Vor Kurzem sei einer Lehrerin zweimal ins Gesicht geschlagen worden, nachdem sie ein Handy einkassieren wollte. Der Definition nach ist die Otto-Hahn also eine Schule, die in jedem Fall von der Zulage profitieren muss. Oder?
Tut sie aber nicht. Denn ob eine Schule die Zulage bekommt, hängt nicht von der öffentlich einsehbaren Abschlussquote ab oder der Anzahl der Gewaltvorfälle, sondern allein von der Berlin-Pass-Quote – also der Anzahl der Schüler*innen, die eine Lernmittelbefreiung haben und alle drei Monate ihre Karten dafür beim Jobcenter verlängern und sie dann brav in der Schule vorzeigen. Erst bei einer Schülerschaft, die zu über 80 Prozent von Zuzahlungen bei Lernmaterialien befreit ist, zahlt der Senat.
Doppelbestrafung für Otto-Hahn
Gerade an Schulen wie der Otto-Hahn ist das aber nicht so einfach mit dem Berlin-Pass. Einige Eltern seien nicht zu erreichen und erschienen nicht mal zum Elternsprechtag, wie Lehrer*innen berichten. Die Quote sei also für die Otto-Hahn nicht unbedingt aussagekräftig. Schüler brächten auch nach der fünften und sechsten Aufforderung den Berlin-Pass nicht in die Schule mit. Kurzum kommt die Otto-Hahn-Schule „nur“ auf eine Quote von etwa 75 Prozent.
So wird die eigentlich gut gemeinte Zulage zur Doppelbestrafung für die Otto-Hahn. Denn das nahe gelegene Ernst-Abbe-Gymnasium mit einer höheren Berlin-Pass-Quote, aber deutlich besseren Abschlussstatistiken (96 Prozent haben 2018 ihr Abitur dort geschafft) bekommt sie. Das heißt für das Kollegium der Otto-Hahn zum einen, dass neue engagierte Lehrer*innen, die sich bewusst entscheiden, an einer herausfordernden Schule in Neukölln zu arbeiten, sich im Zweifel wohl für 300 Euro mehr und das Gymnasium entscheiden als für die Otto-Hahn-Schule.
Lehrerin Rebecca Holewa
Im Kollegium der Otto-Hahn rumort es, seitdem die geplante Umsetzung bekannt ist. Einen Brief des Kollegiums ließ die Behörde unbeantwortet. Daraufhin haben nun große Teile des Kollegiums aus Protest ihre Versetzung beantragt – an ein richtiges „Brennpunktgymnasium“.
Im Gespräch nach einem langen Schultag und einer Jahrgangskonferenz nach dem jüngsten Gewaltvorfall bis in die Abendstunden finden drei Lehrer*innen um halb sechs Uhr abends trotzdem noch Zeit für ein Treffen. „Die Umsetzung der Brennpunktzulage ist wie ein Schlag ins Gesicht für alle, die an unserer und anderen Schulen arbeiten, die kurz unter der Grenze liegen“, sagt Rebecca Holewa, die Englisch und Französisch unterrichtet. Die Festlegung auf die 80 Prozent sei willkürlich.
„Darüber hinaus finde ich es auch schwierig, Leute mit Berlin-Pass weiter zu stigmatisieren“, sagt Holewa. „Die Schüler*innen wissen ohnehin um den Ruf ihrer Schule, die kommen hier schon mit einem Päckchen an. Ich finde es politisch problematisch, arme mit schwierigen Schüler*innen gleichzusetzen.“ Eine Sozialstrukturanalyse oder zumindest mehrere Variablen für eine Bedarfsprüfung wie Abschlussstatistiken oder Gewaltvorfälle wären sinnvoll gewesen, so Holewa.
Brennpunkt Von der 2017
profitieren 58 Schulen und damit 2.298 Lehrer*innen und 300 Erzieher*innen. Darunter sind 32 Grundschulen, 12 Schulen mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt, zehn integrierte Sekundarschulen und zwei Gymnasien – die meisten davon in Neukölln, Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg.Bonus Ein bereits laufendes Bonusprogramm zur Förderung sogenannter Brennpunktschulen teilt Schulleitungen Geld zur gezielten Steuerung zu. Über diese Mittel kann die Schulleitung frei verfügen und schauen, ob es sinnvoll ist, Sozialarbeiter*innen einzustellen oder etwa Sprachförderung anzubieten.
Ausschüttung Das laufende Bonusprogramm für Schulen mit besonderer Problemlage richtet sich auch nach der Berlin-Pass-Quote. Für eine Förderung über 100.000 Euro müssen 75 Prozent der Schüler*innen eine Lernmittelbefreiung haben – die Otto-Hahn-Schule bekommt die Förderung. (gjo)
Trotz aller Schwierigkeiten unterrichten alle drei gerne hier: „Das Arbeiten hier kann auch richtig schön sein. Wir kriechen jetzt nicht jeden Morgen her, aber wir haben auch einzelne Schüler, die einem das Leben schwermachen und besondere Herausforderungen an uns stellen“, sagt Deutsch- und Politiklehrer Paul Kirschmann.
Obwohl sich die meisten Kolleg*innen zur Entlastung weniger Unterrichtsstunden wünschten, hätten sie dennoch gerne die 300-Euro-Zulage bekommen. Man könnte für das gleiche Gehalt zumindest zwei, drei Unterrichtstunden reduzieren. „Dass ausgerechnet wir jetzt nicht von der Zulage profitieren, fühlt sich an wie eine Bestrafung“, sagt auch Jakob Köbner, Mathe- und Physiklehrer.
Auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) kritisiert die Zulage. Problematisch sei vor allem die Schaffung neuer Ungerechtigkeiten, weil Quereinsteiger, die häufig an diesen Schulen arbeiteten, nicht profitierten und auch bei Erzieher*innen die Zulage tariflich problematisch sei. Laut GEW ist die Regelung nicht zu Ende gedacht – die Senatsverwaltung scheine sich über die praktischen Konsequenzen dieser Zulage völlig unklar gewesen zu sein.
Harsche Antwort des Senats
Die Antworten der Senatsverwaltung für Bildung auf die Kritik klingen harsch. „Egal für welche Grenze man sich entscheidet, es wird vermutlich immer jemanden geben, der damit nicht einverstanden ist“, teilte die Sprecherin von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD), Iris Brennberger, mit.
Warum man überhaupt diese Quote zum Maßstab mache und nicht zusätzlich genauere Kriterien heranziehe? „Man geht bei einem hohen Anteil von Lernmittelbefreiten davon aus, dass diese Schülerinnen und Schüler herausfordernder zu unterrichten und zu betreuen sind als andere.“ Ob man die Grenze dann bei 75, 80 oder 85 ziehe, sei letztlich eine politische Festsetzung.
Geld für eine niedrigere Quote sei zudem ohnehin nicht da: Weil die „bereitgestellten Mittel nur für Lehrkräfte an Schulen mit dieser Quote auskömmlich sind“, habe man die „Lernmittelbefreiungsquote bei ,mindestens 80 Prozent'“ angelegt.
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