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Zerrieben zwischen den Fronten

In „We the People“ zeichnet die Historikerin Jill Lepore die Aushöhlung der amerikanischen Verfassung bis zu ihrem jetzigen Schwächezustand nach. Für diesen gibt sie vor allem einer bestimmten Rechtsphilosophie die Schuld

BU Foto: xy

Von Sebastian Moll

Wenn man einst im Rückblick rekonstruieren wird, wie Donald Trump in den USA die Macht auf seine Person konzentriert hat, dann wird der 1. Juli 2024 ein zentrales Datum sein. An diesem Tag beschloss der Oberste Gerichtshof der USA, der Supreme Court, dass Trump für Straftaten, die er im Amt begeht, nicht belangt werden kann. Zur Diskussion standen seine Versuche, im Nachhinein das Ergebnis der Wahl von 2020 zu manipulieren. Im Ergebnis bedeutet das Urteil, dass Trump, so lange er im Amt ist, einem Monarchen gleich, tun kann, was er will.

Das Urteil war ein neuer Tiefpunkt bei der Aushöhlung der US-Verfassung, welche die Historikerin Jill Lepore in ihrem neuen, gründlich recherchierten Buch „We the People“ nachzeichnet. „Die Verfassung ist nur noch ein humpelnder Schatten“, resümiert sie nach 700 dichten Seiten. Ein Verfallsprozess, der ihrer Argumentation zufolge, schon lange vor Trump angefangen hat. Trump versetzt laut Lepore der ohnehin am Boden liegenden Verfassung und ihrer Prinzipien nur den Gnadenstoß.

Schuld am Niedergang der ältesten und einflussreichsten demokratischen Verfassung der Welt ist laut Lepore eine Rechtsphilosophie, die sich konservative Politiker und Juristen seit der Ära Ronald Reagans zu eigen gemacht haben. Sie nennt sich Originalismus und fordert, dass die Verfassung stets nur in dem Sinne gelesen und angewendet werden darf, in dem sie im Jahr 1787 aufgeschrieben wurde.

So berief sich das Oberste Gericht, das seit Trumps erster Amtszeit eine Mehrheit von sechs zu drei konservativen Richtern besitzt, bei seinem Immunitätsurteil auf den umstrittenen Artikel II der Verfassung, der ihrer Meinung nach alle Macht der Exekutive in die Hand des Präsidenten legt. Der oberste Beamte des Landes, so die Richter, müsse in Ausübung seiner Funktion einen maximalen Handlungsspielraum haben.

So sei Trump von der Verfassung gedeckt gewesen, als er den Staatssekretär von Georgia angerufen habe, um ihn unter Druck zu setzen, das Wahlergebnis zu korrigieren. Er habe dabei genauso in seiner Funktion als Präsident gehandelt, wie bei dem Gespräch, bei dem er Vizepräsident Pence dazu bringen wollte, Bidens Wahl nicht zu ­ratifizieren.

Die liberale Minderheit im Gericht, die dem Präsidenten wesentlich weniger Macht zugesteht, war von dieser Argumentation freilich nicht überzeugt. „Die Konservativen legen sich die Geschichte gerade so zurecht, wie sie das brauchen“, kritisierte die liberale oberste Richterin Sonja Sotomayor in ihrem abweichenden Gutachten den Beschluss.

Für Jill Lepore ist, wie für ­Sotomayor, diese Art und Weise, die Geschichte zu instrumentalisieren, der Feind des Rechtsstaats. Entgegen der Originalismus-These, welche die Verfassung zum Zeitpunkt ihrer Ratifizierung als Gott gegeben und unantastbar ansieht, beschreibt Lepore das amerikanische Grundrecht als unfertigen Entwurf, der zur ständigen Überarbeitung und Anpassung einlädt. „It was intended to be amended“ lautet das Epigraph des Werkes, ein Zitat aus einem Bugs-Bunny-Cartoon, der Kindern die Verfassung erklären soll. Entsprechende Belege findet sie in den Papieren der Gründerväter. Sie wussten, dass die Verfassung unvollkommen ist und wenn diese eine Chance haben sollte, die Zeiten zu überdauern, dann musste es die Möglichkeit geben, sie immer wieder den Gegebenheiten anzupassen. Die Verfassung, so Lepore, sei ein lebendes Dokument.

Um zu zeigen, dass eine demokratische Verfassung flexibel und unfertig bleiben muss, hat Lepore eine umfassende Wirkungsgeschichte der Verfassung der Vereinigten Staaten vorgelegt, die sich trotz des trockenen Themas gerade vor dem Hintergrund unserer Gegenwart überaus spannend liest. Dabei bietet sie eine ebenso große Materialfülle, wie in ihrem voran gegangenen Buch, „These Truths“, das unter Konservativen und MAGA-Typen gleichermaßen unbeliebt war: Sie hatte damit die erste umfassende Geschichte der USA geschrieben, die diese als fortgesetzten Kampf um Inklusion erzählte.

Es war nicht eben das Material, das Trump und seine ­Anhänger in Schulen und Colleges sehen möchten, wo nur noch Narrative geduldet werden, die den Glanz und die Größe Amerikas lobpreisen. Mit ihrem neuen Buch bekräftigt Lepore nun ihre Auffassung der US-Geschichte als endlosen, harten Kampf um die Verwirklichung der amerikanischen Ideale. Amerika ist für sie alles andere als „great“, darf aber gleichzeitig niemals aufhören, danach zu streben.

Jill Lepore: „We the People: A History of the U.S. Constitution“. Boni & Liveright, New York 2025, 720 Seiten, ca. 30 Euro. Erscheint auf Deutsch im März 2026 bei C. H. Beck

Der Selbsterneuerungsprozess der US-Verfassung wurde im Artikel V der Verfassung vorgegeben, der die Verabschiedung von Verfassungszusätzen regelt. Doch der Artikel wurde in der Geschichte der USA erstaunlich selten genutzt. Noch vor Ende des 18. Jahrhunderts wurden 11 Verfassungszusätze verabschiedet, in den 225 Jahren seither gerade einmal 16. Darunter befanden sich allerdings so bahnbrechende Artikel wie die Garantie des Frauenwahlrechts und die Garantie des Wahlrechts ungeachtet der Rasse und ­Ethnizität.

Der letzte Verfassungszusatz, der das Alter für das Wahlrecht auf 18 Jahre senkte, wurde 1971 beschlossen. Kurz darauf begann, im Sog der kulturellen Umwälzungen der 1960er Jahre, die extreme Polarisierung der amerikanischen Politik. Supermehrheiten, wie sie im Kongress für die Verabschiedung von Verfassungszusätzen nötig sind, waren nicht mehr zu bekommen.

So hatte die Geschichte des Originalismus, laut Lepore, „alles mit Abtreibung und alles andere mit Waffen zu tun“. Es waren die beiden Themen, zu denen in jener Ära alle Amerikaner eine leidenschaftliche Meinung hatten – jeder dritte Amerikaner hat eine Waffe, jede vierte Frau nimmt eine Abtreibung in Anspruch. Für die Konservativen, so Lepore, bedeutete Abtreibung Mord und Waffen Freiheit. Für die Liberalen war es genau ­umgekehrt. Die Kulturkämpfer auf beiden Seiten hatten sich seit Beginn der Siebzigerjahre in ihren Schützengräben ­eingebuddelt.

Das frustrierte zu jener Zeit insbesondere die Konservativen, die gerne einen Verfassungszusatz zum Verbot der Abtreibung erlassen hätten. Im Angesicht dieser Unmöglichkeit, so argumentiert Lepore, wurde die Rechtsphilosophie des Originalismus erfunden. „Originalismus entstand aus dem Scheitern der Konservativen an der demokratischen Verfassungsänderung.“

Zu Waffen und Abtreibung hatten Anfang der 1970er alle eine starke Meinung

Die Doktrin wurde vom damaligen Rechtsgelehrten und späteren obersten Bundesrichter Antonin Scalia ausformuliert, den Lepore als charismatischen konservativen Gentleman der alten Schule beschreibt: Pfeifenraucher, Truthahnjäger und kultivierter Opernliebhaber. Für ihn sei die Verfassung dazu da gewesen, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind. Lepore setzt dem entgegen, dass die Verfassung dazu da sei, Wandel ohne Gewalt zu ermöglichen.

Wenn schon keine Verfassungsänderungen mehr möglich sind, um traditionelle Werte zu schützen, so Scalias Hoffnung, dann sollte die Umsetzung der Philosophie des Originalismus wenigstens garantieren, dass die Entscheidungen im Supreme Court die für Konservative wünschenswerten Ergebnisse bringen. So vor allem die Revision des Urteils Roe versus Wade, welches das Recht auf Abtreibung garantierte.

Im Text der Verfassung, so das Argument der Originalisten, sei nichts von einem Recht auf Abtreibung zu lesen, deshalb sei das Roe-Urteil verfassungswidrig. Um das Urteil revidieren zu können, machte es Ronald ­Reagan, der die christlichen Wähler des Südens umgarnte, daraufhin zum Kriterium für eine Nominierung zum Supreme Court, dass der Richter Originalist ist. Gleichzeitig erklärte sein Justizminister Edwin Meese den Originalismus zur ­offiziellen Staatsdoktrin.

Intended to be amended: Besucher*innen bestaunen die originalen vier Seiten der amerikanischen Verfassung und ihre 27 Zusätze / Foto: Bonnie CashUPI/laif

Um die Oberhand für die konservative Fraktion zu gewinnen nominierte Reagan zwei Originalisten: Scalia und William Rehnquist. Doch es gelang nicht, das Recht auf Abtreibung zurück zu nehmen. Der erste ganz große Triumph für die Originalisten musste auf sich warten lassen. Erst nachdem die beiden Bush- Präsidenten insgesamt vier weitere Originalisten nominierten, konnte Scalia mit einem Urteil eine folgenschwere politische Wende in den USA herbei führen. Im Jahr 2007 urteilte der ­Supreme Court aufgrund sorgsam ausgewählter historischer Dokumente, dass das Recht auf Waffenbesitz schon immer zur individuellen Selbstverteidigung gedacht war und nicht bloß im Zusammenhang einer wohl reglementierten Miliz. Der Markt für Schusswaffen wurde dereguliert, der Waffenbesitz in den USA explodierte. Wirkungsvolle Gesetzgebung zur Waffenregulierung ist seither praktisch nicht mehr möglich.

Nachdem Trump in seiner ersten Amtszeit dann gleich drei Originalisten für den Supreme Court benennen konnte, ist das Gericht fest und auf lange Zeit in originalistischer Hand. Dabei sind bisher Urteile wie die lange ersehnte Revision von Roe versus Wade heraus gekommen, die Immunität für Trump oder etwa die Erlaubnis, den mehr als 200 Jahre alten Paragraphen zur Internierung „fremder Feinde“ ohne Rechtsschutz, eigentlich für den Kriegsfall gedacht, auf Einwanderer anzuwenden. In immer mehr Fällen macht sich der Supreme Court gar nicht mehr die Mühe, seine Entscheidungen zugunsten von Trump ausführlich zu begründen. Seine Exekutivbeschlüsse werden mit einem Absatz durchgewunken – so zuletzt das Recht, Menschen nur aufgrund ihrer Hautfarbe zu internieren.

Lepore zieht in ihrem Buch das Fazit, dass die Verfassung aus dem letzten Loch pfeift. Um überleben zu können, braucht sie ihre Flexibilität zurück, und die Fähigkeit, sich den Zeiten anzupassen. Diese Kraft hat sie jedoch schon lange eingebüßt. Und Trump ist dabei, ihr den Rest zu geben.

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