Zeichner über das Nachtleben: Was zwischen den Händen zerrinnt
Wo seine Sprache endet, beginnt Felix Scheinberger das Zeichnen. Wie Tomi Ungerer hält er mit seiner künstlerischen Arbeit die Körper der Nacht fest.
Ein Bilderbuch voller nackter und halb bekleideter Körper, Maskierte, Pelzige und andere. Gezeichnet mit schnellem Tuschestrich und mit Flecken von Aquarellfarbe versehen. Viel Rot auf Nippeln, Lippen, Haaren, Nasen und als Hand auf dem Po. Küssen und Sex, aber für Porno nicht monofokussiert genug. Die Figuren sind keineswegs idealisiert, manche haben eine schlechte Haltung oder einen Speckbauch. Dann und wann ein atemberaubender Blick auf Dächer – von Rio bis Berlin.
Text gibt’s auch: etwa das Intro eines New Yorker Kollegen. Und Kommentare, notiert im Moment der Skizzierung. Namen fallen – ob sie stimmen? „Kinder der Nacht“ ist schließlich „geheimes Skizzenbuch“: Eine Sammlung von Impressionen, die Felix Scheinberger während jahrelanger nächtlicher Streifzüge durch Klubs und Partys eingefangen hat. Aus Freude an Zeichnen, Hedonismus und Humor.
Und in alter Tradition: Tomi Ungerer hielt in den 1970er Jahren Prostituierte in der Hamburger Herbertstraße zeichnerisch fest, „Schutzengel der Hölle“. Scheinberger, der bei Tag Studierende lehrt, zeigt eine Welt, die fast zwei Jahre fehlte.
taz: Herr Scheinberger, warum zeichnen Sie auf Partys?
„Felix Scheinbergers Geheimes Skizzenbuch – Kinder der Nacht“. Edition Michael Fischer, München 2021, 224 Seiten, 30 Euro
Felix Scheinberger: Es macht mir Spaß. Die Bilder sind nicht für das Buch entstanden, sondern weil ich beim Ausgehen nachts in Berlin gern ein Skizzenbuch dabei habe. Ich gehe mit Freunden aus, wenn ich Lust habe, zeichne ich etwas.
Wann haben Sie damit begonnen?
Anfang der Neunziger habe ich mit Skizzenbüchern begonnen. In Clubs zeichne ich seit circa 2011, besonders seit ich durch Wassertankpinsel unterwegs mit Farben arbeiten kann.
Wer sind Ihre Vorbilder?
Der Künstler Felix Scheinberger, geboren 1969, ist seit 2012 Professor für angewandtes Design an der FH Münster.
Ich liebe die Zeichnungen des Elsässers Tomi Ungerer, seine frühen Reportagen aus dem New York der 1960er.
Wie beschreiben Sie Ihren eigenen Stil?
Mein Stil kommt von selbst, ohne dass ich es merke. Vom Ausprobieren, und das hat mit Inhalt zu tun. Ich glaube, es ist eine Mischung aus Inspiration, Technik und neuen Kombinationen.
Wen oder was zeichnen Sie, was nicht?
Skizzen zeigen Momente. Ich muss etwas interessant finden, was eine Komposition rechtfertigt. Zeichnungen sind keine reinen Abbildungen. Ich krieche immer ein Stück weit mit ins Bild.
Welche Klubs und Partys bevorzugen Sie?
In Berlin vor allem das Kitti (Kit-Kat-Klub), das Berghain und private Partys.
Wodurch wurde Ihre Idee ausgelöst?
Ich zeichne fast überall. Meistens en passant und nicht für das Buch. Nach und nach habe ich festgestellt, wie spannend das Sujet ist, und dann habe ich die Idee zu dem Buch entwickelt.
Fehlte Ihnen etwas beim Partymachen?
Alles, was wir erleben, dauert nur einen Moment, der für immer verschwindet. Das treibt mich als Künstler um. Die Kunst ist mein Versuch, festzuhalten, was mir zwischen den Händen zerrinnt.
Welcher Aspekt ist Ihnen der wichtigste beim Zeichnen von Nachteulen?
Zeichnungen priorisieren. Und sie erzählen Geschichten anders als Fotos. Ein solches Thema würde auf Fotos schnell pornografisch, voyeuristisch wirken. Zeichnungen wahren die Würde der Protagonisten. Mein Medium lotet das richtige Maß zwischen Nähe und Distanz aus.
Wie bereiten Sie solche Nächte vor … und nach?
Ich male nur vor Ort. Ich korrigiere nicht. Auch Farben lege ich gleich an. Aus Faulheit – und um das Authentische zu wahren.Im Studio kann man klarer und perfekter arbeiten, aber es ist dann eine Inszenierung und keine Dokumentation. Vielleicht Qualität versus Magie.
Wie reagieren Gezeichnete?
Zeichnen dauert, und Menschen bemerken meist, wenn man sie anschaut. Fast alle „Gezeichneten“ haben positiv reagiert. Leute merken, wenn man wirkliches Interesse zeigt.
Sind Sie allein unterwegs?
Zeichnende KollegInnen sehe ich eher selten, das Sujet ist ja etwas speziell und es ist für Fremde nicht so leicht, in die Clubs zu kommen und beim Zeichnen akzeptiert zu werden. Solche Dokumentationen haben Tradition, wie Grosz und Toulouse-Lautrec etwa.
Woher kommt Ihr Impuls?
Ich schaffe Bilder da, wo ich mit Worten nicht weiterkomme. Ich zeichne, damit ich sehe, was ich denke und damit andere spüren, was Sprache vielleicht nicht ausreichend formulieren kann.
Was macht Ihnen Spaß?
Kein weisungsbefugter Auftragsmaler für die Ideen anderer Leute zu sein, sondern sie von A bis Z selbst durchzuführen. Das wird seltener in der Welt.
Wird Corona das Nachtleben stark verändern?
Wenn Berlin glaubt, auf Clubs verzichten zu können, weil Touristen wegen des Brandenburger Tors kämen, verliert es etwas, das die Stadt freier und offener gemacht hat. Die Nächte in den Clubs bedeuteten mir Freiheit, künstlerisch und persönlich, zu sein, wie man ist oder sein wollte.
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