Yael Ronen an der Berliner Schaubühne: Halluzinationen als kultureller Zustand
Yael Ronens „Sabotage“ an der Berliner Schaubühne ist eine überdrehte Gesellschaftsanalyse des deutschen Umgangs mit Juden, Israel und Gaza.
Nach dieser Aufführung dürften die Suchanfragen für „Steißbeinfisteln“ wohl in die Höhe gehen. Dimitrij Schaad eröffnet die Uraufführung von „Sabotage“ an der Berliner Schaubühne mit einem Holocaust-Witz, gefolgt von einem Slapstick-Monolog über eingewachsene Gesäßhaare, sich entzündende Haut und eiternde Abszesse.
Seine Figur Jona Lubnik, ein jüdischer Dokumentarfilmer, ist buchstäblich wie metaphorisch am Ende. Schon nach den ersten Minuten ist klar: Yael Ronen wird in ihrer dritten Inszenierung an der Berliner Schaubühne mit viel Komik in geopolitischen wie persönlichen Empfindlichkeiten herumpointieren. Trotz Fistel: Epistemologische Pathologien interessieren sie dabei mehr als medizinische.
Jona Lubnik, mit Hornbrille und krausem Haar eine Abwandlung von Woody Allens Stadtneurotiker, hat Politisches lange gemieden. Zu oft ist er als in Jerusalem geborener Künstler, Sohn eines russischen Vaters und einer neuerdings mit einem Palästinenser liierten ukrainischen Mutter, mit Identitätsfragen konfrontiert. Die Frage, wie es seiner Mutter gehe, macht Abendessen für ihn dadurch ebenso zu Hinterhalten wie jene nach dem deutschen Umgang mit Gaza.
Land mit riesigem blinden Fleck?
Eine Idee für ein provokantes Filmprojekt soll nun Abhilfe schaffen: Nach der Siegeseuphorie des Sechstagekrieges kritisierte der jüdische Philosoph Jeschajahu Leibowitz die israelischen Siedler als „Judeo-Nazis“, Juden faschistischer Mentalität. Jona Lubnik glaubt, in den Mahnungen des „Zornpropheten“ der 1960er Jahre einen Schlüssel für die Gegenwart zu finden. Was, wenn Deutschlands Lektionen aus der Geschichte heute auch einen „riesigen blinden Fleck“ entstehen lassen? Wenn Vergangenheit zum Vorwand wird, um über die Gegenwart zu schweigen?
Gleichermaßen will er die Deutschen einer Liebesprobe unterziehen. Wie steht es um die Toleranz gegenüber einem jüdischen Künstler, der sich nicht wie ein „guter Jude“ verhält? Was er mit dieser Bezeichnung meint, bleibt ungewiss. Seine Frau (Carolin Haupt), eine kühle Neurochirurgin, die auf eine Beförderung zur Leiterin der Charité hofft, sieht dahingegen vor allem das Risiko eines Shitstorms. Den Gedanken versucht sie argumentativ aus seinem Kopf zu entfernen, unterstellt ihm den Versuch der politischen Reinwaschung von seinem Herkunftsstaat Israel als wahres Motiv der Verfilmung.
Sie sieht darin auch einen Ausdruck seiner tief sitzenden Selbstverachtung, die ihn, wie sie ihm wütend entgegenschleudert, zu einem „antisemitischen, sich selbst hassenden Juden“ mache. Tatsächlich bedient sich Jona einer riskanten Begriffswahl, macht Witze über die Shoah, Anspielungen auf Israel als „ewiges Opfer“, spricht vom „Genozid in Gaza“. Aus anderen Mündern leicht als antisemitisch zu deuten, werfen diese Zuspitzungen bei ihm die unangenehme Frage auf, ob auch ein Jude antisemitisch sein kann.
Dabei droht ein womöglich antisemitisch gelesener Film auch die idealisierte Vorstellung ihrer aus der Geschichte lernenden „deutschen Vorzeigefamilie“ zu erschüttern. Wenn Israel plötzlich auch Täter sein könne – was bedeutet das für sie, für ihre Generation, für all jene, die nach jahrzehntelangem Wegschauen so sehr hofften, moralisch endlich auf der richtigen Seite zu stehen? Panik. Die Angst, dass das Gute ein so fragiles Konstrukt ist wie das aufgebaute Ikea-Regal zwischen ihnen, sitzt tief.
Die Therapeutin bräuchte Supervision
Zerbrechliches zusammenzufügen versucht auch Jonas Therapeutin (Eva Meckbach). Meistens ihre Vase, viermal die Woche ihn. Sie ist weniger die Stimme professioneller Distanz als eine Figur, die sich selbst in Deutungsspiralen verfängt. Dass sie seine Ängste als in Deutschland lebender Jude und ihre Empörung über Gaza nicht zusammendenken kann, wird zur metapsychologischen Parodie. Die Therapeutin bräuchte Supervision, um diese Therapie auszuhalten. Sie schreckt aber zu sehr davor zurück, als judenfeindlich und unprofessionell dazustehen.
Ihr Bruder (Konrad Singer) leidet an Sehstörungen nach einem Schlaganfall. Die medizinische Ursache: Ein „blinder Fleck“, den das Gehirn mit imaginären Bildern füllt. Was er zu sehen glaubt, ist ein übergewichtiger, ihn mit dem Handy filmender Jesus. Darin zeigen sich Variationen eines Motivs, das das ganze Stück durchzieht: Blindheit, die auf unhinterfragten Glaubenssätzen beruht. Wird an ihnen gerüttelt, ist der erste Reflex eine Überpsychologisierung. Oder die spiegelnde Selbstvergewisserung mit Chatty, der alles bejahenden KI. Beides verhindert eine sachliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, mit Lebenslügen, einem halluzinierten Jesus.
nächste Aufführungen: 8.12., 9.12, 16.1., 20 Uhr und 17./18.1., 17 Uhr, Berliner Schaubühne
Halluzinationen als kultureller Zustand scheinen in Yael Ronens Inszenierung förmlich in den Wänden zu stecken. Handflächen streichen über den weißen Hintergrund, raunende Münder sind zu erahnen, die das Publikum dieselbe paranoide Wachheit spüren lassen wie die Figuren. Schweigen sie? Oder wollen wir sie nicht hören?
Mit jazziger Leichtigkeit
Gleichzeitig durchzieht „Sabotage“ eine hibbelige Überdrehtheit. Kluge Pointen sitzen fast ausnahmslos und geben kontinuierlich Anlass zum Lachen. Die österreichisch-israelische Regisseurin beweist mit der Gesellschaftskomödie Gespür, sonst leicht überfordernde Diskurse mit einer jazzigen Leichtigkeit aufzugreifen, ohne zu moralisieren. Dass das gelingt, ist die wohl die größte Leistung der Inszenierung.
Die Charaktere hingegen bleiben bisweilen holzschnittartig, Karikaturen, die stellenweise eine Distanz schaffen, wo ein Mindestmaß an Identifikation Voraussetzung für selbstentlarvende Erkenntnisse gewesen wäre. So wird mehr gelacht als sich selbst ertappt. Auch dramaturgisch erlaubt sich Ronen manchmal Überschuss. In Nebensträngen aus Liebesdreiecken verfängt sich das Stück dadurch vereinzelt in den eigenen Fäden.
Mit Spiegelungen des immer selben Motivs eines blinden Fleckes produziert „Sabotage“ letztendlich seine eigene Echokammer, mündet in jener Überpsychologisierung und spiegelnder Selbstvergewisserung, die es eigentlich kritisieren will. Gewissermaßen sabotiert es sich damit selbst. Das kann man Yael Ronen als Manko vorhalten – oder als äußerst konsequente Inszenierung würdigen.
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