Ein großer Provokateur

■ Jeshayahu Leibowitz, der wichtigste Philosoph und Kritiker Israels, ist tot

„Es führt ein Weg von der Humanität durch die Nationalität in die Bestialität“ – dieses Zitat von Grillparzer hielt Yeshayahu Leibowitz nach dem Sechs-Tage- Krieg der israelischen Gesellschaft immer wieder vor. „Diesen Weg ist das deutsche Volk in diesem Jahrhundert tatsächlich bis zu Ende gegangen, und eben diesen Weg haben wir 1967 betreten.“ Der 1903 in Riga geborene grande provocateur Leibowitz, ein glühender Zionist seit frühester Kindheit, wurde nicht müde, den „jüdischen Machtapparat“ anzuprangern, die Siedler gar als „Judeo-Nazis“ zu bezeichnen. In den Jahren der Siegeseuphorie schützte ihn seine Position als Professor in fünf Fächern, darunter Biochemie, Medizin und Philosophie, vor allem aber sein Ruf als Religionsphilosoph vor der öffentlichen Meinung. Nachdem die ersten sauren Früchte der Besatzung, dazu der Libanon-Feldzug, zunehmend Kritik hervorriefen, fand der Wüstenprophet, der die Soldaten zur Militärdienstverweigerung im Libanon (live im Funk während eines Krieges!) um die besetzten Gebiete aufrief, immer mehr Widerhall.

Leibowitz war ein zutiefst religiöser Mensch, der alle 613 Gebote zu halten trachtete; dennoch pflegte er keine Kontakte zu der religiösen Führung des Landes, da er die Trennung von Staat und Religion forderte. Sein politisches Engagement und seine vielfältigen Interessen erforderten einen hohen Preis, wie er selbst fand, nämlich die fehlende wissenschaftliche Spezialisierung: er hatte nichts erfunden und keine neue Lehre hinterlassen. Gerade darin liegt der Schlüssel zum Wert des Yeshayahu Leibowitz: Sein Werk wie auch sein wichtigstes Forschungsgebiet war die Lehre von Maimonides (1138–1204), der schon zu Lebzeiten größten Autorität in allen Fragen der Halacha, der Bibelexegese und der Philosophie, der sein Leben lang gleichzeitig praktizierender Arzt für arme Menschen wie für den ägyptischen Herrscher war – Wissenschaft und Ethik, Religion und Aufklärung.

Yeshayahu Leibowitz ist der letzte große Vertreter eines Schlages von Menschen, die in Zentral- und Osteuropa im Lichte der Aufklärung aufwuchsen. Er beherrschte ein Dutzend Sprachen: zu Hause, in Riga, deutsch, auf der Straße jiddisch und in der Schule russisch; in Israel war er Herausgeber der renommierten „Hebräischen Enzyklopädie“. Die kosmopolitischen Ideen eines erwachsenen Humanismus verband er mit der Spezifik der eigenen Kultur – ohne an Strenge zu verlieren.

In seiner kleinen Synagoge in Jerusalem, der Stadt, in der er seit seiner Auswanderung aus Deutschland 1933 lebte, und im spaßbessenenen Tel Aviv wird man ihn bitter vermissen. Tsafrir Cohen