: Wo Aufrüstung kein Selbstläufer ist
Beim Nato-Gipfel in Den Haag setzt Generalsekretär Mark Rutte auf Zustimmung für mehr Verteidigungsausgaben in den Mitgliedstaaten. Von Geschlossenheit ist das Militärbündnis weit entfernt
Aus Berlin und Warschau Anastasia Zejneli und Gabriele Lesser
Es gibt derzeit kaum einen Diplomaten, der so viel unterwegs ist wie Mark Rutte. Seit mehr als neun Monaten reist der niederländische Ex-Premierminister durch Europa und über den Atlantik. Seine Mission: Die Nato-Mitgliedstaaten zu einer halbwegs gemeinsamen Linie bewegen.
Als Rutte im Oktober das Amt des Nato-Generalsekretärs von Jens Stoltenberg übernahm, befand sich die Ukraine kurz vor dem dritten Kriegswinter. Soldaten fehlten an der Front, der Krieg zog sich zäh ohne Aussicht auf ein Ende hin. Dass Rutte drei Tage nach seinem Amtsantritt nach Kyjiw reiste, sollte ein starkes Signal der Solidarität sein. Wenige Monate zuvor, beim Jubiläumsgipfel des Militärbündnisses in Washington im Juli 2024, hatten die Staaten die Weichen gestellt und der Ukraine rund 40 Milliarden Euro jährlich zugesagt. Anfang des Jahres kündigte Rutte dann an, dass sogar mehr als 50 Milliarden zur Verfügung gestellt würden. Mehr als die Hälfte kämen aus Europa und Kanada, der Rest aus den USA.
Während man 2024 die Stärke des Bündnisses feierte, sieht die Lage jetzt vor dem Nato-Gipfel in Den Haag gänzlich anders aus. Die Erwartungen an Rutte sind hoch, manche Analysten meinen gar, dass die Zukunft der Nato vom kommenden Gipfel abhängt.
US-Präsident Donald Trump will sich aus der Verantwortung ziehen und hat eigene geopolitische Pläne. Grund für den Rückzug sind vor allem die hohen US-amerikanischen Nato-Ausgaben. Trump-exklusiv sind diese Forderungen allerdings nicht. Dass die USA nicht mehr den Großteil des Verteidigungsbudgets tragen wollen, haben bereits die demokratischen Präsidenten Obama und Biden angedeutet. Als Trump Anfang Januar eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben von den Nato-Ländern forderte, war die Überraschung dennoch groß. „Sie können es sich alle leisten, sie sollten bei 5 Prozent und nicht bei 2 Prozent liegen“, sagte Trump damals in seinem Luxusanwesen Mar-a-Lago. Für viele Nato-Mitgliedstaaten war zu dem Zeitpunkt eine Erhöhung unvorstellbar. Hatten doch erst zehn Mitglieder 2023 die „2-Prozent-Vorgabe, also 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Rüstungsausgaben, erreicht.
Rutte trommelt seitdem bei den Mitgliedstaaten für mehr Investitionen in die Verteidigung. In seiner Vorstellung folgt daraus eine „bessere Nato“. So skizzierte es der Niederländer jüngst in einer Rede beim sicherheitspolitischen Thinktank Chatham House. Mehr Abschreckung und Aufrüstung sollen vor allem ein Signal an China und Russland sein. Russland profitiert von chinesischer Technologie und produziert Waffen schneller als gedacht, warnt Rutte. Was Munition angeht, produziert Russland in drei Monaten, was die Nato in einem Jahr produziert. Also braucht es mehr Rüstungsprogramme und mehr Geld. 3,5 Prozent sollen rein für Militärausgaben beschlossen werden, weitere 1,5 Prozent für verteidigungsrelevante Investitionen, etwa für Infrastruktur. Denn was bringen die gekauften Panzer ohne eine Brücke, über die sie fahren können. Für welche Bereiche genau die 1,5 Prozent ausgegeben werden, ist unklar, der Begriff ist weit gefasst.
Doch besonders die südeuropäischen Staaten wehren sich. Rutte reiste also nach Portugal und Spanien, versuchte zu schlichten. Spaniens Premier Pedro Sánchez muss einerseits die Interessen der eigenen linken Regierung und andererseits die der Nato zusammenbringen. Historisch bedingter Pazifismus und innenpolitische Widerstände machen höhere Militärausgaben in Spanien schwer durchsetzbar. Seine Verteidigungsministerin Margarita Robles kündigte an, erst 2029 das 2-Prozent-Ziel zu erreichen. Eine Zustimmung für ein gemeinsames 5-Prozent-Ziel in der Nato wird es mit Spanien also nicht geben.
Rutte gilt als bodenständiger Typ, andere Staatschefs umarmt er auch gern mal fest. Man sagt ihm nach, dass er mit so ziemlich allen Staats- und Regierungschefs gut kann. Auch mit Donald Trump. Nicht umsonst wird Rutte gern als „Trump-Flüsterer“ bezeichnet. Noch bevor Trump ins Weiße Haus zog, bevor er mit einem Austritt aus der Nato drohte und aus dem 2-Prozent-Ziel ein 5-Prozent-Ziel machen wollte, traf Rutte ihn in Washington. Weitere Besuche folgten im März und April.
Leichtes Spiel in seiner Mission, die Nato zu einen, hatte der 59-Jährige dagegen in Finnland, Lettland, Schweden, Litauen oder Estland. Die baltischen Staaten und Skandinavier engagieren sich aufgrund ihrer geografischen Lage stark im Bündnis und stecken enorm viel Geld in ihre Aufrüstung. Und auch in Polen gibt es keinen Widerstand. Stattdessen will Premier Donald Tusk Polen mit der „stärksten Armee Europas“ ausstatten. Die Gefahr, die von den kriegstreibenden Nachbarn Russland und Belarus ausgeht, wird in Warschau viel stärker wahrgenommen als etwa in Deutschland oder Österreich. Seit Kriegsbeginn 2022 sind in Polen auch mehrere fehlgesteuerte russische Raketen niedergegangen, zwei Bauern kamen dabei ums Leben. Im polnischen Budget für das Jahr 2025 sind umgerechnet 44 Milliarden Euro für Rüstung und Verteidigung vorgesehen. Dies entspricht rund 4,7 Prozent des polnischen Bruttoinlandsprodukts und stellt einen neuen Rekord da. Aber um bei einem Angriff verteidigungsfähig zu sein, benötigt Polen nicht nur moderne Waffen, sondern vor allem gut ausgebildete Soldaten und Soldatinnen. Am Rande des G7-Gipfels in den kanadischen Rocky Mountains konnte Rutte – aus seiner Sicht – wirklich „großartige Neuigkeiten“ verkündigen: Die gesamte Nato gibt 2025 mindestens 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Vor gut zehn Jahren hatten sich die Mitglieder auf dieses Ziel geeinigt, nun haben es alle Staaten geschafft. Haben sich Ruttes diplomatische Mühen also gelohnt? Fürs Erste wohl schon. Doch die nächste Attacke auf die Geschlossenheit des Bündnisses läuft bereits: Der slowakische Premier Robert Fico droht nun eine Woche vor dem Gipfel mit dem Austritt.
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