Wissenschaftler über Islamisten-Demo: „Das Vertrauen erodiert“
Patrick Möller ist Experte für die „Hizb ut-Tahrir“-Bewegung, zu der „Muslim Interaktiv“ gehört. Deren Demos hält er nicht für die größte Gefahr.
taz: Patrick Möller, am Wochenende marschierten 1.100 Menschen – nach Geschlechtern getrennt – durch Hamburg-St. Georg und riefen nach dem Kalifat. Jetzt sind alle überrascht und entsetzt. Sie auch?
Patrick Möller: Mich nervt und entsetzt eher die Überraschung. Die Veranstalter von „Muslim Interaktiv“ aus dem Umfeld der Hizb ut-Tahrir treten seit 2020 mit solchen Demonstrationen in Erscheinung. Das Phänomen ist also nicht neu und es ist kein halbes Jahr her, dass die Hizb ut-Tahrir in Essen 3.000 Demonstranten mobilisieren konnte. Wer jetzt überrascht ist, hat das offensichtlich schon wieder vergessen.
Warum ist es so schwer, das zu verhindern?
Es gilt das deutsche Versammlungsrecht und die Polizei Hamburg hat ja betont, dass sie juristisch keine Handhabe für ein Verbot der Kundgebung gesehen hat, da – auch gestützt durch die Erfahrung der Vergangenheit – weder Straftaten zu befürchten waren noch, nach jetzigem Stand, es zu Straftaten auf der Demo gekommen ist. Die Veranstalter bewegen sich im Rahmen der Rechtsordnung und damit darf der Staat nicht einschreiten – so unerträglich die Bilder und Reden von der Demo auch sind. Die Führungsleute in der Hizb ut-Tahrir wissen genau, wie weit sie gehen können.
Was ist das für eine Bewegung?
Patrick Möller, 35, ist Islamwissenschaftler. 2022 erschien von ihm im Sammelband „Der islamische Fundamentalismus im 21. Jahrhundert“ der Beitrag „Hizb ut-Tahrir – Comeback einer verbotenen Organisation“. Bis 2021 arbeitete er in der Islamismus-Prävention für das „Violence Prevention Network“ in Frankfurt und Berlin.
Die Hizb ut-Tahrir ist eine Splittergruppe des Islamismus, gegründet 1953 in Ostjerusalem. Sie strebt ein globales Kalifat an und lehnt jede andere Staatsform als „Unglaube“ ab. Sie ist derart dogmatisch, dass sie – anders als etwa die Muslimbrüder – sich auch nie in politische Systeme in der muslimischen Welt einbinden ließ und dort fast überall verboten ist. In Deutschland gilt seit 2003 ein Betätigungsverbot, doch ist es der Hizb ut-Tahrir in den 2010ern gelungen, durch Tarnorganisationen neu zu erstarken. In der Gesamtbetrachtung sind sie eine kleine, aber lautstarke Gruppe von Sektierern, die auch in der islamistischen Szene kaum ernst genommen werden.
Das sind also keine Salafisten?
Nein, ihre Ideologie ist aber extremistisch und auch gewaltlegitimierend. Allerdings ist die Gewalt auf unbestimmte Zeit – bis das Kalifat in Reichweite ist – vertagt. Bis dahin bereiten sie die Gesellschaft auf ihr Kalifat vor und agitieren gegen den Staat und gegen Integration. Seit 2013 agieren mehrere Organisationen, die wir ideologisch klar der Hizb ut-Tahrir zuordnen können, vor allem im Bereich der sozialen Netzwerke. Man verschleiert die ideologische Haltung und versucht die muslimischen Communitys zu unterwandern und für ihre Botschaften empfänglich zu machen.
Mit welchem Erfolg?
Ihr größter politischer Erfolg war die Petition „Nicht ohne mein Kopftuch“ 2018. Damals hatte die damalige nordrhein-westfälische Staatssekretärin für Integration, Serap Güler (CDU), ein Kopftuchverbot für Mädchen unter 14 Jahren in Kitas und Schulen gefordert, worüber monatelang debattiert wurde. Das Gesetz kam aber nie und wäre wohl auch verfassungswidrig gewesen. Für viele Muslime war die Debatte aber ausgrenzend und verletzend. Mehr als 170.000 Menschen unterschrieben die Petition – die meisten wahrscheinlich ohne zu wissen, von wem sie kommt. Die Hizb ut-Tahrir musste relativ wenig tun, die Politik hat ihr die Menschen in die Arme getrieben.
Sehen wir eine neue Radikalisierungswelle, die damit zu tun hat, wie die Debatte über den Gaza-Krieg geführt wird?
Das befürchten viele, die in der Islamismus-Prävention arbeiten und jetzt wachsende Anfragen von Angehörigen und Lehrern zu verzeichnen haben. Wobei die Hizb ut-Tahrir noch immer ein Randphänomen des Islamismus in Deutschland ausmacht. Zudem ist sie ideologisch derart erstarrt, dass sie ihre Anhängerschaft oft nicht dauerhaft binden kann.
Wozu dienen dann diese öffentlichen Auftritte?
Zu einer Gegendemo aufgerufen haben die Kulturbrücke Hamburg, der Verein „Säkularer Islam“ und die Kurdische Gemeinde Deutschland. Sie fordern ein Verbot von Gruppierungen wie „Muslim Interaktiv“ und ihren Aufmärschen: 4. Mai, 13 bis 15 Uhr auf dem Steindamm in Hamburg.
In seiner nächsten Sitzung wird sich der Innenausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft, voraussichtlich am 6. Juni, mit dem Thema befassen.
Man kann über die Motive nur spekulieren. Diese öffentlichen Auftritte sind etwas, das wir vor 2020 von der deutschen Hizb ut-Tahrir nicht kannten. Es zeugt von beachtlichem Selbstbewusstsein. Und natürlich kann man durch die Aufmerksamkeit neue, potenzielle Anhänger gewinnen. Andererseits ist diese Öffentlichkeit hoch riskant, weil die Politik damit unter Druck gesetzt wird, gegen sie vorzugehen. Nie waren die Rufe nach neuen Verboten lauter. Ich glaube aber nicht, dass wir einen Zuwachs bei der Hizb ut-Tahrir zu einer großen Bewegung sehen werden wie vor 10 bis 15 Jahren bei den Salafisten. Sorgen macht mir an dieser Stelle etwas anderes.
Was?
Ich sehe infolge des Gaza-Krieges gerade unter gebildeten und gut integrierten Muslimen einen massiven Vertrauensverlust: Keiner bezweifelt mehr, dass seitens Israels im Kampf gegen die Terrororganisation Hamas Kriegsverbrechen begangen werden, aber viele haben den Eindruck, dass darüber in deutschen Medien kaum oder nicht angemessen berichtet wird. Am 9. Oktober verkündete Israel eine totale Blockade des Gaza-Streifens – kein Strom, kein Wasser, keine Nahrung – und heute sehen wir die Auswirkungen, auch wenn die Blockade später gelockert wurde: neben mehr als 30.000 Toten auch eine humanitäre Katastrophe. Noch immer kommen von Deutschland lediglich mahnende Worte und die mutmaßlichen Kriegsverbrechen werden in den deutschen Medien kaum thematisiert, über die sozialen Netzwerke kann sie aber jeder sehen.
Diese Diskrepanz ist für viele kaum auszuhalten?
Genau. Es dauerte in den deutschen Medien lange, bis über mutmaßliche Kriegsverbrechen berichtet wurde, etwa über Videos, die zeigen, wie israelische Soldaten Wohnungen plündern und feixend mit Damenunterwäsche posieren und Palästinenser verhöhnen. Wer den Gaza-Krieg in den sozialen Medien verfolgt, kennt diese Berichte und die Videos aber seit Monaten. In meinem – akademisch geprägten – Umfeld informiert man sich längst nicht mehr über deutsche, sondern vor allem über britische und amerikanische Medien oder die israelische Zeitung Haaretz. Aus meiner Sicht erodiert seit Oktober 2023 das Vertrauen in die deutsche Politik in erschreckendem Ausmaß – und viele wenden sich ab. Das ist der wahre gesellschaftliche Sprengstoff. Und dann wird es manche Muslime geben, die auf die einfachen Botschaften der Hizb ut-Tahrir und anderer Extremisten hören werden.
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