Wissenschaft und Aberglauben: Der Plural von Wahrheit
Es tut gut, mit Aberglauben aufzuwachsen, der nicht widerlegt werden muss. Gerade aktuell sollte die Vielfalt von Wahrheit geschützt werden.
A m Vorabend des Wassertigerjahres verwandelte ich mich in meine älteste Tante. Nicht komplett, mir blieben die schmerzenden Füße erspart und am Stock ging ich auch nicht. Aber ansonsten war es, als wäre sie mit all ihrem Aberglauben in mich hineingefahren. Darf man zum Jahreswechsel putzen, oder kehrt man sonst das Glück aus der Wohnung? Galt das nur für Kehrarbeiten am Boden, oder auch für den Abwasch? Für den Silvesterabend oder für den Neujahrstag? Dürfte ich Wäsche machen? Müsste ich Rot tragen? Oder war eh alles egal, weil ich mir am Morgen den Pony nachgeschnitten hatte und mein Glück somit längst mit den Haarspitzen im Abfluss heruntergespült?
Ich bin mit Aufklärung, Wissenschaften und Aberglauben aufgewachsen. Ich hatte immer mehrere Wahrheiten. Die älteste Tante kennt gefühlt tausend Sitten und Bräuche. Sie weiß, wo um die Zuckerrohrstangen ein rotes Band gebunden wird, welche Süßspeise das Brautpaar zuerst essen soll, wie man sich vor bösen Geistern schützt. Sie weiß detaillierte, komplizierte Dinge, die mir oft wahllos, aber immer schön und richtig erschienen.
Ich wollte das nie hinterfragen. Es tat gut, das nicht zu tun, eine zweite Wahrheit zu haben, die nicht bewiesen oder widerlegt werden musste. Weil sie sich ohnehin nicht logisch erklären ließ und sich zugleich niemandem aufdrängte, sich nie über andere Erkenntnis erhob oder jemanden verletzte. Weil sie friedlich neben der ersten lag.
Es ist schwer geworden, mehrere Wahrheiten zu behaupten, während Menschen Verschwörungstheorien verfallen und Desinformation Gesellschaften und Menschenleben gefährdet. Glaubensfragen sind schon lange ein anfälliges Narrativ für feindliche Übernahmen. Zu viele, auch hier, behaupten, alles sei gelogen: Wissenschaft, Politik, Medien. Sie sagen, sie seien die Einzigen, die nicht blind folgten, die gesund zweifelten, und die echte, „alternative Wahrheit“ gefunden hätten. Dass sie sich dabei selbst widersprechen, ist egal, weil das nicht der Zweck ihrer Erzählung ist. Der Zweck ist Umsturz, Aushöhlung, „Widerstand“ (auch so ein gekaperter Begriff) gegen „die da oben“.
Schützend vor den Zweifel werfen
Gerade jetzt will ich mich schützend vor den Zweifel werfen. Und vor meinen evidenzfreien Aberglauben. Vor Akkupressurpunkte gegen Magenschmerzen, vor den Glauben an Geister und unbedingt auch stellenweise vor den Zweifel an staatlichen Institutionen und Machtverteilung in diesem Land. Zumindest Letzteres brauchen wir, unbedingt.
Das Infragestellen, die gedankliche (Über-)Dehnung, die Rumträumerei – sie sind nicht das Gegenteil wissenschaftlicher Erkenntnis und Rationalität. Auch wenn es sich heute oft so anfühlt. Aber wenn verantwortungsbewusst und präzise angewandt, erinnern sie uns bestenfalls daran, dass wir nicht alles wissen können, und gehören so zu den wichtigsten Mitteln, die wir zum Wachsen haben. Gerade deshalb sollten wir Wege finden, sie uns nicht nehmen zu lassen.
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