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Wissenschaft und AberglaubenDer Plural von Wahrheit

Es tut gut, mit Aberglauben aufzuwachsen, der nicht widerlegt werden muss. Gerade aktuell sollte die Vielfalt von Wahrheit geschützt werden.

Für eine Wahrheit, die friedlich neben der anderen liegt Foto: Violin/imago images

A m Vorabend des Wassertigerjahres verwandelte ich mich in meine älteste Tante. Nicht komplett, mir blieben die schmerzenden Füße erspart und am Stock ging ich auch nicht. Aber ansonsten war es, als wäre sie mit all ihrem Aberglauben in mich hineingefahren. Darf man zum Jahreswechsel putzen, oder kehrt man sonst das Glück aus der Wohnung? Galt das nur für Kehrarbeiten am Boden, oder auch für den Abwasch? Für den Silvesterabend oder für den Neujahrstag? Dürfte ich Wäsche machen? Müsste ich Rot tragen? Oder war eh alles egal, weil ich mir am Morgen den Pony nachgeschnitten hatte und mein Glück somit längst mit den Haarspitzen im Abfluss heruntergespült?

Ich bin mit Aufklärung, Wissenschaften und Aberglauben aufgewachsen. Ich hatte immer mehrere Wahrheiten. Die älteste Tante kennt gefühlt tausend Sitten und Bräuche. Sie weiß, wo um die Zuckerrohrstangen ein rotes Band gebunden wird, welche Süßspeise das Brautpaar zuerst essen soll, wie man sich vor bösen Geistern schützt. Sie weiß detaillierte, komplizierte Dinge, die mir oft wahllos, aber immer schön und richtig erschienen.

Ich wollte das nie hinterfragen. Es tat gut, das nicht zu tun, eine zweite Wahrheit zu haben, die nicht bewiesen oder widerlegt werden musste. Weil sie sich ohnehin nicht logisch erklären ließ und sich zugleich niemandem aufdrängte, sich nie über andere Erkenntnis erhob oder jemanden verletzte. Weil sie friedlich neben der ersten lag.

Es ist schwer geworden, mehrere Wahrheiten zu behaupten, während Menschen Verschwörungstheorien verfallen und Desinformation Gesellschaften und Menschenleben gefährdet. Glaubensfragen sind schon lange ein anfälliges Narrativ für feindliche Übernahmen. Zu viele, auch hier, behaupten, alles sei gelogen: Wissenschaft, Politik, Medien. Sie sagen, sie seien die Einzigen, die nicht blind folgten, die gesund zweifelten, und die echte, „alternative Wahrheit“ gefunden hätten. Dass sie sich dabei selbst widersprechen, ist egal, weil das nicht der Zweck ihrer Erzählung ist. Der Zweck ist Umsturz, Aushöhlung, „Widerstand“ (auch so ein gekaperter Begriff) gegen „die da oben“.

Schützend vor den Zweifel werfen

Gerade jetzt will ich mich schützend vor den Zweifel werfen. Und vor meinen evidenzfreien Aberglauben. Vor Akkupressurpunkte gegen Magenschmerzen, vor den Glauben an Geister und unbedingt auch stellenweise vor den Zweifel an staatlichen Institutionen und Machtverteilung in diesem Land. Zumindest Letzteres brauchen wir, unbedingt.

Das Infragestellen, die gedankliche (Über-)Dehnung, die Rumträumerei – sie sind nicht das Gegenteil wissenschaftlicher Erkenntnis und Rationalität. Auch wenn es sich heute oft so anfühlt. Aber wenn verantwortungsbewusst und präzise angewandt, erinnern sie uns bestenfalls daran, dass wir nicht alles wissen können, und gehören so zu den wichtigsten Mitteln, die wir zum Wachsen haben. Gerade deshalb sollten wir Wege finden, sie uns nicht nehmen zu lassen.

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Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag. Foto: Amelie Kahn-Ackermann
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5 Kommentare

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  • Ach Gottchen - leevs Lottchen.

    Naturellement haben wir nach Nichtfruchten der Hinweise auf die Stromleitungen weiland zu den Siedlungshäusken & gar die Überlandleitungen auf dem Dachboden Silvester schmunzelnd die Wäscheleinen abgenommen für Hera die Göttermutter - damit Wotan/Odins olle Gaul Sleipnir darin nicht verheddern konnte. So what!



    &



    Ollen Robert M. Pirsig* & “Zen & die Kunst ein Motorrad zu warten“ erledigen den Rest •



    Pirsig war beim Forschen über Qualität “wahnsinnig“ geworden & querte seinen 12/13jährigen Sohn auf den Sozius & einem befreundeten Ehepaar auf seinen Spuren - die 🇺🇸 gen Westen!



    Auf den Prärien Indianerland - nachdem er seinem Sohn erklärte hatte - was ne indianische “Volksschule“ eine Quaqurauqua (~?) sei - fragte dieser:



    “Ist das nicht doof - daß die indianischen Kinder dabei lernen: was es mit heiligen Bergen Quellen Regenzauber auf sich hat?!“



    “Naja. Kann man so sehen. Aber bedenke - daß es auf der Welt keine 20 Menschen gibt - die wirklich verstehen - was es mit der Quantenmechanik auf sich hat. Der Rest - glaubt das halt auch nur!“

    unterm——-



    de.wikipedia.org/wiki/Robert_M._Pirsig



    “… Kern von Pirsigs Werk ist die Metaphysik der Qualität. In dieser nichtdualistischen Metatheorie verwirft Pirsig die Subjekt-Objekt-Theorie und führt stattdessen die Eigenschaftswörter statisch und dynamisch ein. Der Hauptnutzen der Metatheorie der Qualität liegt in seiner Eigenschaft, moralische Fragen wissenschaftlich untersuchen und bewerten zu können. Sie funktioniert daher unabhängig vom Determinismus oder Positivismus und steht hierarchisch über der klassischen dualistischen Metaphysik. Als Folge daraus kann die Metatheorie nicht dualistisch untersucht werden, während die Metatheorie der Qualität durchaus in der Lage ist, dualistische Theorien zu erklären.…“



    (&für uns le petit cheflereporter servíce



    Pirsig ist später ooch wieder in Silicon Valley gelandet!;)(



    taz.de/Abschied-vo...m-liberalen-Traum/ albträume weiter -

  • "Gerade aktuell sollte die Vielfalt von Wahrheit geschützt werden."



    Ich behaupte, es gab noch nie eine so große Vielfalt an Wahrheiten auf so engem Raum. Ich kann nicht erkennen, dass hier ein Schutzbedarf besteht. Vielfalt schließt nicht aus, dass es Eindeutigkeit gibt. Und dass manche Wahrheiten als Irrweg gelten dürfen, sollte eigentlich auch mit Blick auf die Geschichte sinnvoll erscheinen.

  • 4G
    47360 (Profil gelöscht)

    UNO und management cybernetics + bionics arbeiten inkl. mit fuzzy logic, da das "Präzise" de facto nie präzise ist, es gehört dem linearen Denken an, nicht dem komplexen.

    Das "Präzise" produziert mehr Friktion als Flow.

    Zur Ordnungsfrage. Die ist beim Menschen evolutiv angeboren, noch die abstruseste Ordnung ist für den Menschen besser als gar keine Ordnung. Riten bewahren vor echter oder projizierter Unordnung.

    Der Begriff der Wahrheit gehört zur griechischen Philosophie (die UNO darf natürlich keinen kulturellen Bias haben).

    In Asien wird das Passende bevorzugt, nicht Wahrheit (the fitting ... das deckt sich mit der Evolution, fit im Sinne von passend, to fit und nicht bezogen auf physische Überlegenheit .. wie es von manchen gern missverstanden wird)

    Seltsam, dass der Begreiff "Weisheit" im Artikel fehlt, so westlich ist er bereits.

  • Da geht doch von der Logik her einiges durcheinander. Wahrheit sollte doch immer den Anspruch haben, nun ja - wahr zu sein, d.h. die Fakten der Realität entsprechend zu beschreiben. In vielen Fragen, die uns als Menschen alle gleich betreffen, kann es logischerweise nur eine Wahrheit geben.

    Wenn ich vor einem zugefrorenen See stehe und mich frage, ob das Eis halten wird, wenn ich da drüber gehe, dann ist diese Frage nach den echten Fakten elementar und lebensnotwendig. Und die Antwort hängt auch nicht von meinem subjektiven Wunschdenken ab, also nicht vom Subjekt, sondern vom Objekt: die Eisfläche ist wie sie ist, egal, was ich subjektiv glaube oder für wahr erkläre.

    Genauso ist es beim Glauben an einen Gott. Entweder es gibt ihn (objektiv), oder eben nicht. Die Wahrheit gilt für alle Menschen, egal ob Gläubige, Nicht-Gläubige ode Abergläubische, egal jemand es "wahr haben" will oder nicht. Das Ringen und die Debatte um die Wahrheit und die richtige Antwort in derart wichtigen Fragen kann gar nicht ernsthaft geführt werden, wenn man das Konzept echter Wahrheit und objektiver Fakten (die nicht vom Betrachter abhängen) ernst nimmt. Somit wird alles beliebig und dadurch aber auch belanglos. "Alternative Fakten" sind keine Fakten!

  • Schwieriges Thema.

    Da sich Aberglaube nicht klar definieren lässt.

    Aus atheistischer Sicht ist jede Religion Aberglaube. Ist aber auch völlig undifferenziert, da es glaubens- und erfahrungsorientierte Religionen gibt. Also christlicher, jüdischer und muslimischer Glaube. Als Atheist ist keines davon mein Ding. Interessanter wird es bei erfahrungsorientierten Religionen, die nicht an Gott glauben wie der Buddhismus oder Taoismus. Der Buddhismus ist reine Wissenschaft. Man glaubt z. B. nicht an einen Gott, sondern sieht Buddha als Beispiel eines normalen Menschen, der es geschafft hat, die "Natur des Geistes" zu verstehen. Und versteht man diese, ist man automatisch jenseits des Verstandes. Man wird zur reinen Bewusstheit. Kann man eigentlich nicht wirklich verstehen, sondern muss dieses erfahren. Ähnlich der Taoismus, die chinesische Variante, zeitgleich mit dem Buddhismus entstanden über Lao-Tse, Chuang-Tsu etc.

    Hier entstehen auch fließende Übergänge zur Mystik. Auch der originäre Sufismus geht in die Richtung, allerdings mit ganz anderen Instrumenten. Der Sufismus als das mystische Herz des Islam. Wunderschön, natürlich nur, wenn er noch nicht von Politikern oder Priestern gekapert und verdreht wurde. Der Sufismus entstand lange vor dem Islam und kommt ohne einen Gott aus auch wenn er von Allah spricht.

    Es gibt immer eine Vielzahl von Wahrheiten, und ist doch schön, wenn Sie sich ein wenig Magic oder Mystik in Ihrem Leben bewahren konnten, Frau Hierse.

    Wissenschaft ist toll. Mit Spannung erwarte ich im Sommer die ersten Bilder des James-Webb-Teleskops. Noch hundert Mal toller als Hubble. Und damit konnten wir schon so weit ins All sehen, mehr 50 Milliarden Galaxien beobachten.

    Methoden erfahrungsorientierter Religionen finden Sie auch in der modernen Wissenschaft. Transpersonale Psychologie oder überhaupt die humanistische Psychologie geht nicht ohne.

    Mit rein materialistischem Denken ist man verratzt.

    Für die Mystik!