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Wirtschaftswissenschaftler über Hartz IV„Milde Form der Reziprozität“

Holger Schäfer vom arbeitgebernahen IW-Institut ist gegen einen höheren Mindestlohn. Auch von einem bedingungslosen Grundeinkommen hält er nichts.

Mehr ­Mindestlohn wäre schon was: Lieferando-Fahrer in Stuttgart Foto: Arnulf Hettrich/imago
Barbara Dribbusch
Interview von Barbara Dribbusch

taz: Herr Schäfer, die SPD, die Grünen und die Linkspartei wollen den Mindestlohn auf mindestens zwölf Euro in der Stunde erhöhen. Würde das die Armutslagen verbessern und die Zahl der Hartz-IV-EmpfängerInnen verringern?

Holger Schäfer: Es kommt darauf an, wie die Reaktionen auf die Mindestlohnerhöhung ausfallen. Sicher werden mit der Erhöhung des Mindestlohnes einige Menschen ein höheres Monatseinkommen haben und damit über die Grenze rutschen, bis zu der ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II besteht. Aber es gibt auch das Risiko, dass Arbeitsplätze verloren gehen, weil sie sich durch den höheren Mindestlohn nicht mehr rechnen und dann wegfallen. Dann müssten Erwerbstätige, die heute zum Mindestlohn arbeiten, wieder ausschließlich von Arbeitslosengeld II leben, weil es ihre Jobs nicht mehr gibt. Das kann niemand wollen.

Vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes im Jahre 2015 wurde davor gewarnt, dass Hunderttausende Arbeitsplätze durch die Lohnerhöhung wegfallen könnten. Dies ist nicht passiert. Und heute haben wir Arbeitskräftemangel. Also stehen die Chancen doch gut für eine Erhöhung.

Der Mindestlohn ist nur ein Faktor von vielen für die Beschäftigung. Bei der Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes im Jahre 2015 waren die Rahmenbedingungen sehr günstig. Damals ist durch die Einführung des Mindestlohns übrigens die Zahl der sogenannten Aufstocker, die ergänzende Hartz-IV-Leistungen zum Erwerbseinkommen in Anspruch nehmen müssen, nicht gesunken.

Wie lässt sich das denn erklären?

Das liegt einmal daran, dass viele der Aufstocker nur eine geringe Stundenzahl arbeiten, also etwa einen Minijob oder eine Teilzeitbeschäftigung haben. Außerdem spielt die Größe des Haushalts eine wichtige Rolle. Wenn man als Alleinverdiener in Vollzeit beschäftigt ist und eine Familie mit vier Personen, zwei Erwachsene und zwei Kinder, zu versorgen hat, dann muss man um die 15, 16 Euro in der Stunde verdienen, um auf den Satz zu kommen, der in Hartz IV als Bedarf für eine vierköpfige Familie definiert ist.

Wäre es nicht sinnvoll, wenn Erwerbstätige, die ergänzende Hartz-IV-Leistungen beziehen, mehr vom Selbstverdienten behalten könnten, so wie die Grünen das etwa fordern?

Ich finde es gut, wenn die Hinzuverdienstgrenzen zum Thema gemacht werden. Bei der Status-quo-Regelung haben wir nämlich das Problem, dass wir starke Anreize haben, als Empfänger von Arbeitslosengeld II nur einen Minijob oder eine Teilzeitbeschäftigung anzunehmen. Es gibt einen Grundfreibetrag von 100 Euro, dann bleiben noch 20 Prozent vom Gehalt bis 1.000 Euro anrechnungsfrei, darüber hinaus noch weniger. Mehr Geld zu verdienen wird also unattraktiv.

Bild: IW
Im Interview: Holger Schäfer

52, ist Wirtschafts­wissen­schaftler und Senior Economist für Beschäftigung und ­Arbeitslosigkeit beim ­arbeitgebernahen Institut der deutschen ­Wirtschaft (IW).

Was ist denn Ihr Vorschlag?

Unser Vorschlag lautet, das Erwerbseinkommen bis zur Minijobgrenze oder etwa in diesem Bereich zu 100 Prozent auf die Transferleistung anzurechnen und bei den darüber hinaus gehenden Erwerbseinkommen erheblich höhere Freibeträge zu gewähren. Damit würde mehr Anreiz geschaffen, statt einem Minijob etwa eine Stelle mit 30 Wochenstunden oder mehr anzutreten.

Es gibt aber Hartz-IV-EmpfängerInnen, die schaffen nur noch ein paar Stunden Arbeit in der Woche, um dann vielleicht 150 Euro mehr an Einkommen im Monat zu erreichen. Diese Möglichkeit des kleinen Hinzuverdiensts wäre dann weg.

Ich glaube, man betrügt sich selbst, wenn man sagt, alle, die in Teilzeit oder mit geringfügiger Beschäftigung die Hartz-IV-Leistung aufstocken, machen das, weil sie gesundheitlich angeschlagen und zu nichts anderem in der Lage sind. Dafür gibt es keine Belege.

Man könnte auch die Erwerbsfreibeträge grundsätzlich für alle erhöhen, ohne bei den kleinsten HinzuverdienerInnen zu kürzen.

Das hätte den Nachteil, dass dann, wenn ich den Erwerbsfreibetrag nach oben schraube, auch die Einkommensgrenzen für die Erwerbstätigen, die Anspruch auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen haben, steigen. Heute hat ein Alleinstehender, der 1.600 Euro brutto verdient, unter Berücksichtigung des geltenden Freibetrags noch einen kleinen Anspruch auf ergänzende Leistungen nach Hartz IV.

Steigen die Freibeträge, komme ich in Einkommensbereiche, wo vielleicht auch noch Leute mit 2.000 Euro oder mehr Bruttogehalt im Monat Anspruch auf ergänzende Leistungen hätten. Erst recht dann, wenn ich auch noch die Regelsätze erhöhe, was die Grünen und die Linkspartei fordern. Es kann aber doch nicht das Ziel sein, einen so großen Teil der Erwerbstätigen zu Empfängern von Hartz-IV-Leistungen, die aus Steuergeldern bezahlt werden, zu machen.

Es gibt politische Initiativen, die ein bedingungsloses Grundeinkommen fordern. Die Grünen, die Linkspartei und mit Einschränkung auch die SPD sind zumindest für eine Aufhebung von Sanktionen von Hartz-IV-EmpfängerInnen. Was halten Sie von diesem Weg?

Ohne Sanktionen würden Elemente eines bedingungslosen Grundeinkommens in die Leistung des Arbeitslosengeldes II einfließen. Unsere Gesellschaft ist aber so konzipiert, dass jeder erst mal für sich selbst verantwortlich ist. Diejenigen, die das nicht können, die haben den Anspruch auf solidarische Unterstützung. Was die Empfänger dieser Leistung schulden, ist im Wesentlichen das erkennbare Bemühen, künftig ohne diese Leistung auszukommen.

Diese Gegenleistung ist eine eher milde Form der Reziprozität, die, so glaube ich, von den meisten Menschen als gerecht empfunden wird. Die Menschen sind schon altruistisch, das können wir durch Experimente feststellen. Aber sie lassen sich eben ungern ausnutzen, wenn sie feststellen, hier ist eine Sache völlig einseitig. Eine Abschaffung der Sanktionen würde den Jobcentern jede Handhabe nehmen, eine Aktivierung der Leistungsempfänger voranzubringen.

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5 Kommentare

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  • Es könnte hier der Eindruck entstehen, dass Mindestlohn und Grundeinkommen irgendwas miteinander zu tun haben. Der ist falsch: www.grundeinkommen...tzenswert-ist.html

    Ansonsten: Wer sich für's Bedingungslose Grundeinkommen interessiert, dem sei dieser Kabarettist empfohlen www.youtube.com/wa...nel=JakobFriedrich

  • Ein wie ich meine gut geführtes, entsprechend inhaltsreiches Interview, dass sich nicht scheut, "tiefer" einzusteigen. Da gilt es, vieles zu überdenken. Sehr gern gelesen.

    *Eine Abschaffung der Sanktionen würde den Jobcentern jede Handhabe nehmen, eine Aktivierung der Leistungsempfänger voranzubringen.*

    Wirklich? Stellen die Sanktionsregelungen nicht vielleicht eine "Kapitulation" des Gesetzgebers und der Administration dar, vor der Aufgabe, andere sog. "Anreize" zu finden, Menschen zu motivieren? Sind sie also eher Ausdruck von entweder mangelndem Interesse, solche Motivationen zu finden, um statt dessen den autoritäreren Weg der Sanktionen zu wählen, weil die staatlicherseits bequemer sind und die "bessere" Kontrolle über die Gruppe der Erwerbslosen zu behalten? Ich denke, da ist was drann und das sollte thematisiert werden.

  • Wirtschaftswissenschaften sind keine Naturwissenschaften und auch keine Philosophie oder Mathematik. In den genannten Fächern braucht man Logik und/oder analytischen Denken, um Professor zu werden. In den WiWischa muss man das offensichtlich nicht. Wie soll der Job der Putzmenschen wegfallen, wenn die mehr Geld bekommen? Und bei der aktuellen Produktivität ist der Lohn auch nicht mehr der große Faktor. Soll das auch das Argument für die Hungerlöhne in Indien und Banghladesh sein, wo die Frauen unter einem $ täglich verdienen und die Marken T-Shirts hier 29€ kosten. DAvon machen die 20 Stück am Tag. Die Stückkosten müsste man jetzt berechnen, dsa tun Wirtschaftswissenschaftler wieder nicht. Für mich sind seine Argumente, vorsichtig ausgedrückt, nicht nachvollziehbar, schlichtweg falsch.

    • @Peter Hansen:

      "Wie soll der Job der Putzmenschen wegfallen, wenn die mehr Geld bekommen?" - ganz einfach: Man lässt nicht mehr so oft putzen. So gerade geschehen in den Behörden von MeckPomm, wo eine Frau Schwesig aus Kostengründen die Büroreinigung hat halbieren lassen (außer bei sich selbst natürlich).



      Und tatsächlich ist der Arbeitslohn in den meisten Bereichen der mit Abstand größte Faktor.

  • Oh mann!, dass der Herr Wirtschaftsprofessor solche Schoten unhinterfragt hier loslassen kann...

    Zur 1. und vorletzten Frage: Genau, geben wir den Menschen lieber keinen menschenwürdigen Mindestlohn, damit die "Jobs" nicht wegfallen. Und, genau, lassen wir nicht zu, dass Menschen durch Erhöhung des Erwerbsfreibetrags ein menschenwürdiges Einkommen haben. Denn dann würde ja auffallen, wieviele eigentlich wirklich menschenunwürdig leben müssen...

    Sie verwechseln Ursache und Symptom!

    Die Lösung dafür, dass Menschen von ihrer Arbeit nicht menschenwürdig leben können, kann doch niemals sein die Löhne niedrig zu lassen, "weil sonst Jobs wegbrechen könnten". Wie kommt man auf so eine Idee? Welches Menschenbild muss man dazu haben?

    Mindestlöhne rauf und in einer Firma den Mindestlohn an den Maximalverdienst koppeln (inlusive aller Sonderleistungen wie Boni, Aktien, Firmenfinka, fette Karre etc.).

    Es gibt überhaupt keinen Grund für eine Gesellschaft Superreiche zu tolerieren. Wer nicht erkennt, dass Superreiche die größten Sozialschmarotzer sind, hat die letzten 100 Jahre unter einem Stein gelebt.