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Wiederholung der Wahl in BerlinEine mutige Entscheidung

Bert Schulz
Kommentar von Bert Schulz

Das Verfassungsgericht wagt sich mit seiner Bewertung des Wahlchaos' weit vor. Für die Politik ist das eine Chance, Vertrauen zurückzugewinnen.

Starker Auftritt: Die Rich­te­r*in­nen des Verfassungsgerichtshofs am Mittwoch Foto: dpa

W as fast niemand erwartet hat, ist eingetreten: Berlin bereitet sich auf eine komplette Wiederholung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirken vor. Grund ist die Einschätzung des Berliner Verfassungsgerichtshofs, dass diese Wahlen vom 21. September 2021 ungültig seien.

Zwar hat das Gericht noch kein Urteil gefällt, aber die Positionierung der neun Rich­te­r*in­nen bei der Anhörung am Mittwoch war deutlich. „Nur die vollständige Wiederholung der Wahlen kann deren Verfassungskonformität wieder herstellen“, erklärte Gerichtspräsidentin Ludgera Selting. Dass sie und ihre Kol­le­g*in­nen ihre Haltung noch grundlegend ändern, glaubt niemand mehr. Im Frühjahr dürfen die Ber­li­ne­r*in­nen also erneut in die Wahlkabinen, von denen dann hoffentlich genug vorhanden sind; der neue Landeswahlleiter muss den Termin festlegen.

Mit seiner Einordnung wagt sich das Gericht weit auf juristisches Neuland vor. Denn bisher hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sehr hohe Hürden für solche Wiederholungen vorgesehen. Die Fehler müssen nachweisbar Folgen für die Mandatsverteilung haben können. In Berlin gilt das vor allem für 3 Direktmandate in Pankow, Charlottenburg-Wilmersdorf und Marzahn-Hellersdorf, wo die Erstplatzierten keine 100 Stimmen auseinander lagen.

Doch die Analyse des Verfassungsgerichtshofs sieht anders aus. Es habe flächendeckende Probleme bei der Abstimmung gegeben; die bekannten Pannen seien nur „die Spitze des Eisbergs“. Und viele seien vorhersehbar gewesen – verantwortlich dafür: die damalige Landeswahlleiterin und der damalige Innensenator. Erstere trat kurz nach der Wahl zurück, Letzterer ist heute SPD-Bausenator. Die Frage ist: Wie lange noch?

Auch wenn die Position des höchsten Berliner Gerichts überraschte – bislang zweifelt niemand dessen Autorität an. Man werde nicht gegen ein entsprechendes Urteil versuchen vorzugehen, hieß es am Ende der Woche aus der Politik. Es gibt allerdings auch fast keine Möglichkeit, muss man hinzufügen.

Aber selbst öffentliche Kritik blieb aus. In der Anhörung am Mittwoch waren zwar einige Betroffene zutiefst empört über die Analyse. So legte zum Beispiel die Wahlleiterin des Bezirks Treptow-Köpenick noch mal umfassend dar, dass es in ihrem Wahlkreis zu so gut wie keinen Pannen gekommen war; warum auch dort nun die Wäh­le­r*in­nen noch mal abstimmen müssten, bleibe ihr unklar. Ein Vertreter der Wahlleitung in Charlottenburg-Wilmersdorf erklärte, dass viele Pannen schlicht nicht vorhersehbar gewesen seien. Und mehrere Ju­ris­t*in­nen äußerten ihre Unverständnis über die juristische Auslegung.

Aber letztlich fügten sich zumindest die betroffenen Abgeordneten in Land und Bezirken ihrem Schicksal. Der Verfassungsgerichtshof sei die eben dafür vorgesehene Instanz, sagte etwa der rechtspolitische Sprecher der Linksfraktion, Sebastian Schlüsselburg, der taz. Eine andere gebe es nicht.

In ihrer Analyse sind die Rich­te­r*in­nen nicht allein

Jenseits der Tatsache, dass Gerichtsschelte selten gut ankommt und noch seltener etwas bewirkt, folgte das Verfassungsgericht lediglich einer Analyse, die im Auftrag der Politik zustande gekommen war: Eine Ex­per­t*in­nen­kom­mis­si­on im Auftrag der Innenverwaltung hatte im Juni sehr ähnliche Schlussfolgerungen gezogen, was den Umfang der Pannen angeht. Diese seien strukturell bedingt; man werde nie klären können, wie viele Wäh­le­r*in­nen betroffen waren, hieß es damals. Eines der Mitglieder der Kommission war der Politikwissenschaftler Stephan Bröchler, seit 1. Oktober ist er neuer Landeswahlleiter in Berlin.

Vor diesem Hintergrund ist das absehbare Urteil des Gerichts, die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den zwölf Bezirksparlamenten wiederholen zu lassen, die folgerichtige und nachvollziehbare Entscheidung, um die Ber­li­ne­r*in­nen dieses äußerst peinliche Kapitel vergessen zu machen. Die erneute Wahl ist keine Strafe, weder für die Bür­ge­r*in­nen noch die Kandidat*innen. Sondern eine unverhoffte Chance für die Politik zu zeigen, dass sie es besser kann. Sie sollte dankbar sein, neun mutige Ver­fas­sungs­rich­te­r*in­nen zu haben, die ihr diese Gelegenheit verschaffen, auch wenn sie aufwändig ist – und diese Chance nutzen.

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Bert Schulz
Ex-Leiter taz.Berlin
Jahrgang 1974, war bis Juni 2023 Leiter der Berlin-Redaktion der taz. Zuvor war er viele Jahre Chef vom Dienst in dieser Redaktion. Er lebt seit 1998 in Berlin und hat Politikwissenschaft an der Freien Universität studiert.
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4 Kommentare

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  • Die komplette Neuwahl ist meiner Meinung auch deshalb erforderlich, weil nicht unverzüglich in den stark betroffenen Wahllokalen eine Ersatzwahl stattgefunden hatte.

    Hinzu kommt die Neuaufstellung der Wählerlisten nach 6 Monaten. Eine partielle Nachwahl nach mehr als sechs Monaten hätte in der Tendenz bedeutet, dass bei Umzug aus dem Einzugsbereich eines Wahllokals mit korrekter Abwicklung in den eines mit großen Problemen effektiv doppelt gewählt werden könnte; bei Umzug in umgekehrter Richtung gar nicht wegen verfallender Stimmen im ersten, keiner Teilnahme im zweiten Bezirk. Das hätte man irgendwie kompensieren können, es hätte dann aber garantiert weitere Pannen gegeben (z.B. bei Wegzug aus Berlin und neuem Zuzug in einen anderen Bezirk; zudem bei chronisch überlasteten Meldestellen/Bürgerämtern).

  • es war derart peinlich in unserer starken Demokratie ein solches Debakel erleben zu müssen das man nur aus Ländern wie Türkei, USA, oder aus Staaten kennt die mit freien, gleichen und geheimen Wahlen noch freizügiger umgehen. Es war peinlich für Deutschland das soetwas hier passieren konnte.



    Das die neue Wahl nur für Berlin gilt liegt auch daran das sie auf Bundesebene keinen Ausschlag geben würde. Berlin ist wichtig, so wichtig jedoch nicht.



    Es ist nur zu hoffen das für diese Wahl ausreichend demokratische Wähler mobilisiert werden. Denn die verpeilten Querdenker, von ganz rechts bis Qanon, werden alle an der Urne stehen

  • Müssten nicht auch die Bundestagssitze neugewählt werden? Wenn Menschen wieder nach Hause gingen weil sei nicht stundenlang anstehen wollten, haben die ja auch nicht für die Bundestagswahl gestimmt.

  • Nach einem Jahr kann man nicht mehr von einer Wahlwiederholung sprechen, sondern von einer Neuwahl. Eine Wahlwiederholung würde im Mindesten beinhalten, dass das Wählerverzeichnis gleich geblieben wäre. Das ist bei den Zu- und Wegzügen innerhalb der Berliner Bezirke und innerhalb und außerhalb der Landesgrenzen nicht anzunehmen.

    Wählte jemand bislang in Schöneberg, zog innerhalb des letzten Jahres nach Mitte um, wird er vermutlich in das neue Wählerverzeichnis aufgenommen, in einem Bezirk, in dem die "Wiederholungswahl" stattfinden soll. Er wählt damit mit zwei Stimmrechten.

    Jemand anderes verließ den Bezirk oder gar Berlin und kann nicht mehr teilnehmen. Die Stimme ist verloren.

    Nach einem Jahr haben sich die politischen Ereignisse verändert. Geradezu überschlagen von 2021-22.

    "Wiederholung" kann es aus diesen Gründen nicht sein.

    Wenn es zu Wahlen kommen soll, dann müsste es generell Neuwahlen geben.

    Zum Desaster:



    Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, für geordnete Wahlen Alles im Vorfeld zu unternehmen und nach einer verkorksten Wahl so schnell wie möglich die Verhältnisse zu klären, um eine Wahlwiederholung zeitnah stattfinden zu lassen.



    Gesetzlich Fristen gibt es bereits.

    Es fällt auf den Senat zurück, dass die Wahlen nicht geordnet abliefen; hauptsächlich weil Menschen nicht verstehen, wie die Macht- und Regulationsverhältnisse sind.

    Die Wahlleitung ein Ehrenamt, losgelöst von den bestehenden Amtsinhaberstrukturen und damit den regierenden Parteien.



    Sowohl in der Landeswahlleitung, als auch in den Bezirkswahlleitungen.

    Die Bezirkswahlleitungen agierten sehr unterschiedlich.

    In einigen Bezirken, die politisch alle unterschiedlich "regiert" werden, lief es gut, in anderen sehr schlecht oder mangelhaft.

    Wie schon erwähnt, die Wahlleitungen sind meist Beamte, die das neben ihren Aufgaben ehrenamtlich erledigten; und Helfer aus der Gesellschaft, die überfordert waren, vielleicht das Erste mal dabei.

    Deshalb: das Strukturelle sollte sich ändern.