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Nach dem Massaker

Butscha wurde im März 2022 zum Inbegriff russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine. Zwei Jahre später ist bis auf die täglichen Luftsirenen Ruhe eingekehrt. Doch die russische Besatzung hinterlässt tiefe Wunden. Ein Besuch

Von oben links nach unten rechts: „Stadtschild“ Butscha, Ärztin Oksana Dzham, Journalistin Iryna Levchenko, von der russischen Besatzung zerstörtes Gebäude Foto: Fo­tos: Nicholas Potter

Aus Butscha Nicholas Potter

Wer heute die Vokzalna-Straße Richtung Butscha entlangfährt, sieht die Narben der russischen Besatzung zunächst nicht. Statt der Bilder von verkohltem Asphalt, ausgebrannten Panzern und eingestürzten Familienhäusern, die im Frühjahr 2022 um die Welt gingen, begegnet einem wieder der unscheinbare Kyjiwer Vorort, der Butscha einmal war: grün, ruhig, man könnte sogar langweilig sagen und das positiv meinen.

Nur eine Werbetafel erinnert an die Verwüstung der Stadt vor zweieinhalb Jahren durch die russischen Besatzer. Über Fotos vom Wiederaufbau der Verkehrsader steht „Hope for Bucha“: Hoffnung für Butscha.

„Alles erinnert mich an das, was hier geschehen ist“, sagt Oksana Dzham. Die Ärztin leitet das Butscha-Zentrum für medizinische Grundversorgung, sie empfängt die taz in ihrem Praxisbüro. Auf der Fensterbank: ein blaugelbes Porträt von Präsident Wolodymyr Selenskyj, das man als „Fan-Kunst“ beschreiben könnte.

Die 50-Jährige mit kastanienbraunem Haar und blaukariertem Anzug tritt selbstbewusst und gefasst auf. Aber als sie beginnt, über „das, was hier geschehen ist“, zu sprechen, über das Massaker von Butscha, das sie hautnah erlebte, über die Folgen für die Community, werden ihre Augen rot.

Der Name Butscha ist inzwischen weltweit bekannt, er steht für russische Kriegsverbrechen – für Folter, Vergewaltigungen und Massengräber. Nachdem Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine überfallen hatte, erreichten Kremltruppen drei Tage später Butscha – 25 Kilometer vom Zentrum der ukrainischen Hauptstadt entfernt.

Erst als ukrainische Streitkräfte Butscha am 31. März befreiten, wurde das Ausmaß des Horrors bekannt: Mindestens 458 Tote, darunter neun Minderjährige; Verstümmelte und verbrannte Leichen mit Kopfschusswunden und gefesselten Händen; ein blutgetränkter Folterkeller an einem Zeltlager für Jugendliche; Berichte von Vergewaltigungen von ukrainischen Frauen zwischen 14 und 24 Jahren – und neun dadurch entstandene Schwangerschaften.

Diesen Horror erlebte Dzham selbst. Sie war eine von rund 5.000 Menschen, die während der Besatzung in Butscha blieben. Mit Hilfe von lokalen Freiwilligen brach sie in Apotheken ein, um Medikamente zu beschaffen. Mobile Teams behandelten Pa­ti­en­t*in­nen vor Ort, die sich nicht mehr fortbewegen konnten. In einer Grundschule eröffneten Dzham und ihr Mann ein provisorisches Militärkrankenhaus: In der Sporthalle wurde operiert, in den Klassenzimmern geschlafen. Sie zeigt Fotos davon auf ihrem Handy davon.

„Ich sah es als meine Pflicht an, zu helfen“, sagt Dzham. Für ihr Engagement wurden sie und ihre Kol­le­g*in­nen im Juli 2024 vom ukrainischen Ministerpräsidenten Denys Schmyhal ausgezeichnet. „Erst als mir klar wurde, dass ich niemandem mehr helfen konnte, bin ich selbst geflohen.“ Das war am 17. März 2022, zwei Wochen, bevor ukrainische Streitkräfte die Stadt zurückerobern konnten. Nur Tage nach der Befreiung kehrte Dzham mit einer Mission zurück: die Gesundheitsinfrastruktur wieder aufzubauen.

Heute wirkt ihr Büro zunächst wie eine typische Arztpraxis in einer ruhigen Kleinstadt. Eine Mutter parkt ihren Kinderwagen vor der weißen Backsteinfassade des Wohnblocks, in dessen Erdgeschoss die Klinik liegt, und geht mit ihrer kleinen Tochter hinein. Am Empfang plaudern Assistentinnen auf Ukrainisch und trinken Kaffee.

Bis heute ist Dzham mit den Folgen der Wochen im März 2022 fast täglich konfrontiert. Manche Be­woh­ne­r*in­nen würden an körperlichen Langzeitfolgen der Besatzung leiden:

„Sie hatten zum Beispiel Lungenentzündungen, weil sie in feuchten Kellern ausharren mussten.“ Soldaten kehrten mit Verletzungen oder fehlenden Gliedmaßen aus dem Krieg nach Butscha zurück. Hinzu kämen diverse Traumata: Ihr Team habe sich weitergebildet, um Pa­ti­en­t*in­nen auch psychologisch besser behandeln zu können, sagt sie.

In einer Grundschule eröffneten Dzham und ihr Mann ein provisorisches Militär­krankenhaus: In der Sporthalle wurde operiert, in den Klassenzimmern geschlafen

Und wie geht es ihr persönlich, zwei Jahre später? Dzham hält inne und schaut nach oben. Ein paar Tränen laufen eine Wange herunter. Sie sagt nichts und winkt mit einer Hand ab, weil die Worte einfach nicht herauskommen. Die Frage ist auch so beantwortet.

Im Zentrum von Butscha stehen Tafeln mit den Fotos und Namen gefallener ukrainischer Soldaten. Hinter der St.-Andreas-Kirche, wo ein Massengrab gefunden wurde, liegt ein Denkmal mit den Namen der 116 Ermordeten – darunter 30 Frauen und zwei Kinder. Die meisten wurden per Kopfschuss hingerichtet. Die Fassade der Kirche ist immer noch mit Schuss­löchern übersät.

Iryna Levchenko hat die Gräueltaten der russischen Truppen journalistisch mitverfolgt. Die 51-Jährige mit blonden Haaren und roten Lippen ist seit fünf Jahren Redakteurin bei der Lokalzeitung Buchanski Novyny (Butscha-Nachrichten). Levchenko steht vor dem Redaktionsbüro und zeigt Fotos von dessen Zerstörung auf ihrem Handy. Nach der russischen Besatzung war das Gebäude nur noch eine bröckelnde Ruine. Inzwischen wurde es saniert, außer der löchrigen Betontreppe am Eingang, die aussieht, als würde sie gleich einstürzen.

Bevor das Interview beginnen kann, wird es von Raketenalarm unterbrochen. Levchenko zuckt die Schultern, die Sirenen gehören für sie längst zum Alltag. Ob man jetzt in den Luftschutzbunker müsste? „Wir behalten die Situation im Blick“, sagt sie unbeeindruckt und redet weiter.

Levchenko kümmerte sich während der Besatzung um ihre Mutter, die sich nicht evakuieren lassen wollte. „Wir harrten zu Hause ohne Strom und Gas aus“, sagt sie. Ohne Internet konnte die Journalistin nicht mehr berichten. Fotos und Videos von der Besatzung zu machen sei lebensgefährlich gewesen, erklärt sie. „Sie haben Leute deswegen erschossen.“ Dass sie ihren Beruf nicht ausüben konnte, habe zu „Entzugserscheinungen“ geführt.

„Stattdessen habe ich ehrenamtlich Brot ausgeliefert“, sagt Levchenko. „Und Brot ist zwar gut, aber die Community braucht auch die Nachrichten.“ Manche Geschichten kursierten trotzdem. Levchenko erzählt von dem Schicksal der Freundin einer Freundin, die auf der Suche nach Medikamenten gewesen und nie wieder gekommen sei. „Zwei Wochen später wurde sie in einem anderen Stadtteil aufgefunden, tot, vergewaltigt und gefoltert.“

Vor der Besatzung hatte die kleine Zeitung große Pläne: „Wir hatten in neue Computer investiert und das Büro ausgestattet.“ Levchenko kehrte zu einer zerstörten, ausgebrannten Redaktion zurück. „Nur ein Rechner hat noch funktioniert. Ich habe erst mal auf Facebook geschrieben, dass ich noch lebe.“ Einer ihrer ersten Artikel ging um eine Frau, die Wasser holen wollte und von russischen Truppen erschossen wurde.

Für die erschütterte Community scheint das Lokalblatt eine wichtige Rolle zu spielen. Die Zeitung behandelt nach wie vor die typischen Themen der Lokalpresse: Schulkonzerte, Baupläne, Nachrufe. „Aber wir widmen uns auch den starken Menschen, die Butscha nach dem Massaker wieder aufbauen“, sagt Levchenko. Das mache Hoffnung.

Menschen wie Oleksandr Zaplatynskyy und Artem Franhulov: Die beiden haben die NGO „Butscha Nezlamna“ gegründet – übersetzt „Butscha ist unzerbrechlich“. „Butscha ist eine Stadt, die die russische Besatzung überlebt hat. Unser Name steht deshalb für die Menschen, die daran arbeiten, sie wiederaufzubauen“, erklärt Franhulov. Der kräftige 41-Jährige mit Bart trägt ein T-Shirt der Organisation: Ihr Name prangt auf einer blau-gelben Landkarte der Ukraine, als stünde die Resi­lienz Butschas für die des ganzen Landes.

Zaplatynskyy, ein Jahr jünger, und der kleinere, ruhigere der beiden, ergänzt: „Man hat seit dem russischen Überfall drei Optionen: arbeiten, dienen oder sich ehrenamtlich engagieren“. Er und Franhulov entschieden sich für Letzteres. Sie beliefern auch ukrainische Einheiten an der Front mit Medikamenten, Schutzausrüstung und Fahrzeugen.

Die beiden Männer geben eine Führung durch die Erdgeschossräume der Organisation in der Yablunska-Straße. „Wir nennen sie die Straße des Todes, weil die Russen hier die meisten Menschen erschossen haben“, sagt Franhulov. Auch Freunde gehören zu den Toten, sie selber konnten fliehen.

Kartons voll mit Lebensmitteln, Windeln und Medikamenten ragen bis zur Decke, an der Wand stehen Schuhregale und Kleiderstangen. Eine Mutter und ihre Tochter suchen in einer Ecke nach Pullovern. Die Organisation führt akribisch eine Excel-Tabelle mit einer Liste der Familien und Personen, die noch Sachen benötigen. „Wir haben schon rund 40 Tonnen Sachspenden verteilt“, sagt Zaplatynskyy stolz.

Seit der Befreiung ist Butscha auch ein Zufluchtsort für Geflohene aus dem Osten des Landes. „Sie kommen an mit ­höchstens zwei Koffern und brauchen alles von Kleidung bis Medikamente und Kinder­nahrung“, erzählt Zaplatynskyy. Das weiß er aus erster Hand: Aus seiner Heimatstadt Luhansk, heute von russischen Separatisten mit Unterstützung des Kremls kontrolliert, mussten er und seine Familie bereits 2014 fliehen. Inzwischen fühle sich Butscha an wie zu Hause, sagt er. Er will Neuankömmlingen helfen, wie ihm selbst damals geholfen wurde.

Auch wenn die ukrainische Offensive in der russischen Region Kursk derzeit vielen im Land wieder Hoffnung macht, scheint ein Ende des Kriegs in weiter Ferne zu sein.

Für Menschen wie Zaplatynskyy und Franhulov bedeutet zivilgesellschaftliches Engagement, einen Weg aus der Ohnmacht zu bieten. Sie sind angetrieben von den Gräueltaten der Besatzung: „Erst die Generation, die das hier in Butscha nicht selbst erleben musste, wird frei von diesem Horror sein“, sagt Zaplatynskyy.

Die Heilung hat begonnen. Die Narben bleiben.

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