Wieder Neuwahlen in Israel: Weimarer Wolken verdunkeln Tel Aviv

Israel sinkt nach der Knesset-Auflösung erneut in eine Phase der politischen Lähmung. Die Perspektiven für die Wahl im Herbst ist düster.

Portrait

Israels früherer Premierminister Benjamin Netanjahu am 30. Juni in der Knesset Foto: Ariel Schalit/ap

Der Vergleich dürfte in deutschen Ohren unangenehm tönen, aber hier in Tel Aviv wird er immer öfter laut: die aktuelle politische Lage in Israel und die Weimarer Republik. Israel leidet unter einer politischen Polarisierung, tiefer gegenseitiger Abneigung, Demagogie und kruder politischer Rhetorik, die sich kennzeichnet durch das komplette Abstreiten jeglicher Legitimation des gegnerischen Lagers und der Tendenz, die Geschichte zu verzerren und umzuschreiben.

Sie leidet unter mangelnder Toleranz und unter Politikern, die den Mob zur Gewalt aufhetzen. Die Rechte macht der Justiz offen jegliche Legitimität und Unabhängigkeit streitig. Sie begreift Demokratie als Herrschaft der Mehrheit und Umsetzung des „Volkswillens“, wobei in der rechten Rhetorik das „Volk“ nur die Juden meint und nicht die arabischen Staatsbürger. Wie Gewitterwolken im Hochsommer schweben Barbarei, Gewalt und Verrohung in der Luft.

Der Regierung von Naftali Bennett ist es nicht gelungen, die rechte Opposition zu konfrontieren, die mit Mafiamethoden die Koalition terrorisiert und die beteiligten Regierungsparteien mit hetzerischer Rhetorik in den sozialen Netzwerken als Kollaborateure mit dem Feind beschimpft. Der Staat sinkt erneut in eine Phase politischer Instabilität. Die Linke gibt sich geschlagen und hilflos. Kaum jemand ist noch bereit zum Machtkampf.

Ha’aretz, die nahezu einzige Zeitung, die noch eine liberale Haltung vertritt, verfällt in ein dauerndes Jammern der Letzten einer aussterbenden Minderheit. Obschon der Kampf noch nicht endgültig entschieden ist, macht sich in diesem Lager das Gefühl der Kapitulation breit.

Nötig wäre radikales Umdenken

Die Cafés von Tel Aviv erscheinen mir in diesen Tagen wie Naturschutzgebiete, die einzigen Orte, wo diese vom Aussterben bedrohte Art noch existiert, einen feinen Espresso schlürft, über Fitnesstudios redet, dänische Netflix-­Serien, Filmfestivals und Literaturpreise – ein eskapistisches Universum, das die Augen verschließt vor dem Tornado, der draußen sein Unwesen treibt.

Jetzt ist die Zeit für ein komplett neues Denken. Die Linke müsste aufwachen, eine jüdisch-arabische Partei gründen und die Möglichkeit einer echten Koexistenz in diesem Land auf die Agenda bringen. Ein Bündnis mit Mansour Abbas, einem pragmatischen Politiker, der den islamistischen Konservativismus seiner Partei (zumindest teilweise) überwunden hat und eine die Grenzen überwindende Vision schuf.

Was hingegen passiert, ist, dass ihn die arabische Öffentlichkeit fallen ließ. Die anderen arabischen Politiker sind Geiseln eines antagonistischen Nationalismus, und der Rest der israelischen Linken hält sich an der „Mitte“ fest, die nichts anderes ist als eine etwas moderatere Rechte, und nimmt sich damit ihre politische Existenzgrundlage.

Als Paul von Hindenburg im April 1925 zum Reichspräsidenten gewählt wurde, verfasste der Publizist Harry Graf Kessler eine Art Requiem für die Weimarer Republik. Kessler sah eins der „dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte“ voraus. Hindenburg sei das Idol all derer, die Bildung, Fortschritt und Frieden ablehnen. Die israelische Linke sieht Benjamin Netanjahu, der gute Chancen hat, die Wahlen zu gewinnen, in einem ähnlichen Licht.

Der israelische Autor Amos Kenan verfasste 1982 eine Dystopie mit dem Titel „Der Weg nach Ein Harod“. Der Staat, so schrieb er, werde von einer faschistischen Rechten regiert, die letzten Linken werden verfolgt und gejagt. Nur einem gelingt es, zum letzten Ort, der für das alte Israel steht, zu entkommen: dem Kibbuz Ein Harod. Doch als er den Kibbuz erreicht, findet er dort – nichts.

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lehrt Jüdisches Denken am Sapir College in Sderot und ist Autor vieler Sachbücher und Romane. Auf Englisch erschien im Mai sein Spionagethriller „The March Angel“.

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