Wie sich Abwesenheit fassen lässt: Fast nichts zu sehen in Osnabrück
Der Kunstraum Hase 29 erkundet „Dimensionen von Abwesenheit“. Ihre Prämisse: Leere lässt sich nur von der Schwelle des Fast Nichts aus wahrnehmen.
Von Goedeke lebt hier. An einem Ort der Unsicherheit, an dem die Landkarte noch immer weiße Flecken hat. Die Zylinder mit ihrer DNA senkt sie in Bohrlöcher ab, die Klima-Wissenschaftler in Gletscher niedergebracht haben. Ist das Eis geschwunden, bleibt ein Abbild von ihr in der Wildnis zurück. Das hat Ewigkeits- und zugleich Mahncharakter. Vielleicht muss man so exponiert wohnen wie Lena von Goedeke, in einer wilden Welt radikalen Wandels, um auf den Gedanken zu kommen, „Aggregate“ zu erschaffen.
„Aggregate“ ist eine der stärksten Arbeiten der Ausstellung „Fast nichts. Dimensionen von Abwesenheit“, mit der es dem Osnabrücker Kunstraum Hase 29 erneut gelingt, unter Beweis zu stellen, dass zeitgenössische Kunst von Rang nicht nur in Metropolen stattfindet.
„Fast nichts“, ein Raum fast ganz in Weiß, bildet den Abschluss des Jahresprogramms „Nähe und Distanz“ der kleinen Galerie. Mit dem sei man „angetreten unsere Wahrnehmung zu hinterfragen“, sagt Kuratorin Elisabeth Lumme. Es macht sehr deutlich, dass zweite und dritte Blicke sich lohnen.
Modellliert wie von Rohstoffexploratoren
Auch bei Lena von Goedekes topografischer Gitternetzlandschaft, dem Hintergrund ihrer DNA-Zylinder. In monatelanger Skalpell-Arbeit so ausgeschnitten, dass ihre Bergkuppen und Schluchten dreidimensional wirken, obwohl sie es nicht sind, zeigt sie eine Menschenleere, die dennoch vom Menschen zeugt. Modelliert wie von Rohstoffexploratoren, warnt sie vor der Ausbeutung der Natur. Die ist auf Svalbard Alltag.
Alicja Kwades „Selbstporträt“ legt ähnliche Existenzspuren wie „Aggregate“: Eine weiße Leinwand hinter Glas, und auf ihr, in Ampullen, die Elemente, aus denen jeder Mensch besteht, vom Kohlenstoff bis zum Schwefel. „Aus Brom bestehen wir offenbar auch!“, stellt Lumme fest, während sie sich durch die toxikologischen Analysen der Sicherheitsdatenblätter wühlt, die Kwade mitgeliefert hat. Auch bei Kwade ist der Mensch abwesend und anwesend zugleich, als Individuum wie als Lebensform.
„Fast nichts“ erzeugt Leeren, die nie nur leer sind. Rückstände und Relikte begegnen uns, Abstraktionen und Andeutungen von Dasein. Die symbolistische Rätselkraft, die alldem innewohnt, öffnet Augen: Was ist der Mensch, so sehr er seine Umwelt prägt? Fast nichts, alles in allem. In „Sugar“, einem comichaft surrealen Apokalypse-Video von Bjørn Melhus, löscht er sich sogar völlig aus, durch einen selbstgewollten Alptraum an Gewalt und Zerstörung.
Der letzte Mensch lebt hier dysfunktional dem Tod entgegen, sozial deformiert, ein psychisches Wrack. Der titelgebende KI-Roboter, bemüht um die Nachahmung positiven menschlichen Verhaltens, machtlos gegen den Verfall seiner Erbauer, löst sich am Ende ebenfalls auf, vernetzt sich mit einer Lichtteilchen-Energie, aus der neues Dasein entsteht. Satzfetzen hämmern uns entgegen, Gedankenfragmente rauschen vorbei. Auch sie sind Leere. Klug ist das.
Die verblüffendste Halb-Unsichtbarkeit der Schau, schon rein optisch, ist Kati Gausmanns Siebdruck „Me moved“. Auch hier sind wir in Norwegen, nördlich des Polarkreises, in Andenes, und das ist Mitternachtssonnen-Land. Von ihr hat Gausmann sich bescheinen lassen, hat die Schatten nachgezeichnet, die sie warf, rund um die Uhr, an Tagen an denen die Sonne niemals unterging.
Je nach Beleuchtung sieht der Betrachter nur Weiß auf Weiß, erst beim zweiten oder dritten Blick gibt das Blatt sein Geheimnis preis. Hier geht es um den Zauber des inneren Lichts, denn auch das wirft Schatten.
Nicht alle der acht künstlerischen Positionen der Schau sind ähnlich spannende Funde. Die leeren Nachrichtenstudios, die Shigeru Takato fotografiert hat, von Königspalast- bis Raumschiff-Optik, laden zwar dazu ein, sich die Moderatoren hinzu zu imaginieren, die News aus aller Welt. Aber das fesselt nicht, dafür ist es in Idee und Ausführung zu nüchtern, zu dokumentarisch.
Und Christine Wamhofs und Tim Roßbergs meditatives Video, auf dem in Zeitlupe Gegenstände herabfallen, vom Einmalrasierer bis zum Kreppband, vor einem schwarzen Nichts, ist zwar ein starkes Bild von Vergänglichkeit und Verschwinden, krankt aber daran, dass es in Osnabrück schon einmal zu sehen war, noch gar nicht lange her, am Turm des Felix-Nussbaum-Hauses des Museumsquartiers MQ4, weit monumentaler.
Zauber des inneren Lichts
Aber das macht nichts, denn „Fast nichts“ gelingt sehr viel. Nicht am unwichtigsten: Ernst mit Witz zu paaren. Gleich am Eingang verstören Matthias Stuchteys „Schmarotzer erster Ordnung“, kleine Cluster leerer Architekturen aus Fundholz. Skurril wirken sie, an ihren raumhohen Vierkantstangen. Sind es Parasiten im Konkurrenzkampf? Sind es durch Krieg und Flucht verwaiste Wohnungen?
Apropos skurril: Wer im Melhus-Videoraum hinten links den Vorhang beiseite schiebt, gelangt in eine zweite Kunstzone – den Toilettentrakt. Auch hier finden sich, als inoffizielle Dauerschau, Spuren vergangenen Daseins. „Styx“ hat jemand rechts neben das Klo geschrieben. Hier fließt also der Unterwelt-Fluss der griechischen Mythologie, das Wasser des Grauens. Und über dem Spiegel steht „Fake“. Graffitohafte Botschaften hintersinniger Besucher.
„Fast nichts. Dimensionen von Abwesenheit“: Kunstraum Hase 29, Hasestr. 29/30, Osnabrück. Di, Mi, Fr, 14–18 Uhr; Do, 16–20 Uhr und Sa, 11–15 Uhr. Bis 28. Januar
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