Widersprüche im Tourismus: Am Ende der Reise
Verreisen ist unsere Passion, Nachhaltigkeit unser Wunsch. Wir essen vegan und fliegen billig. Paradoxien im touristischen Zeitalter.
Diese Lustlosigkeit! Es liegt einem die Welt zu Füßen und wir erfreuen uns nicht daran. „Es ist nicht so, dass ich ungern reise. Es ist viel schlimmer. Ich verstehe das ganze Konzept nicht.“ Warum, fragt der Autor Jürgen Kaube in der FAZ, soll man ganze Tage darauf verwenden und Hunderte von Kilometern zurücklegen, wenn man am Ende dort nichts zu suchen habe? Die Gegenrede wäre beispielsweise: Tapetenwechsel. Diesen betont Valentin Groebner im Contra zu Kaubes Text: Eine der wenigen Chancen für das Unvorhergesehene sei das Wegfahren. „Das ist anstrengend, aber die kleinen Fluchten und das lustvolle Verschnaufen sind sonst nirgendwo mehr zu haben.“
Groebner spricht vom Reisen, wie es idealtypisch sein könnte, wenn man Abstand nimmt von der Marktförmigkeit des Tourismus, von der konsumistischen Ausgestaltung des touristischen Universums. Aber vor allem hat er gut reden: er ist Historiker. Die Sehenswürdigkeiten, die er aufsucht, sind grundlegend für sein Forschungsinteresse über den Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen. Er hat dort, wo er hinfährt, etwas zu suchen.
Und all die Millionen anderen, die alljährlich verreisen, was ist mit uns? Wie fühlen wir uns? Tourismus ist die erfolgreichste Industrie der Neuzeit. Der italienische Autor Marco d’Eramo bezeichnet den Tourismus in seinem klugen Buch „Die Welt im Selfie“ als wichtiger als Sport und Werbung: „Man kann durchaus so weit gehen“, schreibt er, „unsere Epoche als die Epoche des Tourismus zu bezeichnen.“
Schätzungsweise 10 Prozent des weltweiten BIP werden inzwischen durch Tourismus generiert. Tourismus schafft 10 Prozent der weltweiten Arbeitsplätze. Er mobilisiert damit verbundene Wirtschaftszweige wie Automobilindustrie, Wohnungs-, Straßen-, Schiffs- und Flugzeugbau, die Verpflegungs-, Souvenir- und Landkartenindustrie. Die Zahl der Touristen weltweit ist im vergangenen Jahr um 7 Prozent gestiegen.
Wie die Welttourismusorganisation (UNWTO) erklärte, wurde der Anstieg vor allem von Europa und dort vom Mittelmeerraum angetrieben, wo 8 Prozent mehr Touristen hinreisten. Die Zahl der internationalen Besucher, die mindestens eine Nacht an ihrem Reiseziel verbringen, erreichte 2017 rund 1,3 Milliarden. Zum Vergleich: 1950 waren es 25 Millionen.
Die weltweiten Tourismuseinnahmen beliefen sich 2017 auf 1.340 Milliarden US-Dollar. Die Länder mit den höchsten internationalen Tourismusausgaben waren mit großem Abstand China, die USA und Deutschland. Die beliebtesten Reiseziele von Touristen aller Nationen sind Frankreich mit fast 90 Millionen Ankünften internationaler Touristen im Jahr 2017, Spanien und die USA. Bis zum Jahr 2030 – so schätzt die UNWTO – dürfte die Zahl der Touristen, die Auslandsreisen machen, weltweit auf 1,8 Milliarden ansteigen. Bei aller Lustlosigkeit und Kritik: Der Tourismus wächst sagenhaft.
Tourismus lebt von Paradoxien
Dabei ist das touristische Reisen stressig, teuer, absurd. Beispielsweise Studienreisende: Sie nehmen gewaltige Anstrengungen auf sich. Sie lassen sich von einem georgischen Kloster ins andere kutschieren, reihen sich ein in die internationale Menge anderer fotografierender Touristen, lassen sich anschließend kitschige Heiligenbilder an zahllosen Ständen vorführen, bevor sie zum nächsten Kloster in abgelegener Bergregion aufbrechen, dort das Gleiche erleben und am Ende eines langen Tages idealerweise sechs Klöster geschafft haben. Glaubt einer ernsthaft, dass er sich damit spirituell einen Gefallen tut?
Aber Unvereinbares zusammenzuschnüren, das war von jeher das Erfolgsmodell des Tourismus. Immer war die Fremde, die uns das Reiseprodukt präsentierte, die schöne Inszenierung einer nicht immer so schönen Wirklichkeit. Im gefälligen Produkt lösen sich Paradoxien wie von Zauberhand von selbst auf. Wir erwarten die Fremde, aber bekommen ein Programm. Wir lassen uns die Inszenierungen historischer Stätten als authentisch aufschwätzen, weil sie zum Welterbe der Unesco gehören.
Wir verfallen der Illusion, dass die Berber im Süden Tunesiens Wüstenfüchse sind, auch wenn sie sich vom Handy navigieren lassen. Tourismus lebt von Paradoxien und er produziert Paradoxien. Es ist sein Geschäft, unsere Reisewünsche nie völlig zu befriedigen. Er verkauft uns etwas als authentisch, was es so nie gegeben hat.
Und auch nicht mehr geben wird: denn die touristische Welt wird sich immer ähnlicher. Ein farbenfroher, ständig aufgehübschter Warenkorb. Inzwischen aber bekommen wir den Aufguss vom Aufguss vom Aufguss. Doch selbst die zehnte Inszenierung des unsterblichen Venedigs erweist sich mehr denn je als elbstläufer, der massenhaft Touristen anzieht.Hotspots.
Erstmals wird über Orte diskutiert, die unter Touristenströmen zusammenzubrechen drohen. Es sind touristische Highlights von gestern, Alhambra, Barcelona, Machu Picchu, Angkor Wat, Rom, deren längst verblasste Aura neuen touristischen Generationen als Ziel dient. Auch ein Paradox?
Die Kunst der Selbstdarstellung
Marco d’Eramo beschreibt den Boom auf klassische Sehenswürdigkeiten als eine sich selbst verstärkende Rückkoppelungsschleife, in der viele Touristen noch mehr Touristen anziehen. Das authentisch Historische würde durch seine touristische Nutzung nicht etwa weniger oder gar zerstört, sondern es würde mehr. Durch ein Mehr an Atmosphäre, an neu hinzukommender „alter“ Historie, an Inszenierungen. Und einem Mehr an Touristen – frei nach dem Motto: Was alle wichtig finden, muss auch das Richtige sein.
„Die Attraktion wird also sozial konstruiert“, so d’Eramo. Auf diese Weise entstehen „Marker“, an denen sich Touristen orientieren, die sie andererseits aber auch durch ihr Verhalten verstärken, wenn sie beispielsweise aller Welt kundtun, dort gewesen zu sein. „Ein Marker ist das, was der touristischen Aktivität das Siegel der Authentizität verleiht.“ Marco d’Eramo meint, dass der „Prozess des Einsammelns von Markern“ sogar die Oberhand über den „Prozess des Reisens“ gewinnen und zu dessen Hauptzweck werden kann. Authentizität als Sinn des Reisens.
Tatsächlich ist Authentizität das Thema der Stunde. Ohne Abstriche „man selber“ sein, das gilt inzwischen für alle Lebenslagen: im Privaten, im Öffentlichen, im Beruf, in der Kunst. Kein Mensch wie alle anderen zu sein, sondern ganz besonders. Seinen Wünschen ganz nahe, um sich zu einer einzigartigen Persönlichkeit zu entfalten. Sinn und Bestimmung zu finden und dafür lauter „likes“ einzusammeln, wird immer mehr zu einem zeitgenössischen Ideal. Gemeinhin wird unter „authentisch“ etwas Echtes, Originales, Ursprüngliches, Glaubwürdiges verstanden. Was ist das heute noch?
Mehr denn je ist authentisch sein heute von der Kunst der Selbstdarstellung abhängig. Oder – wie der ozialwissenschaftler Andreas Reckwitz dies bezeichnet – von der „Performance“. In seiner gewichtigen Studie „Gesellschaft der Singularitäten“ versteht er Authentizität sogar als „Schlüsselbegriff“ des mobilen, modernen, weltoffenen, kosmopolitisch orientierten, akademisch gebildeten spätmodernen Menschen.
Das entgrenzte Reisen der neuen Mittelklasse
Als ein Ideal also jener modernen Milieus, die eine globale „neue Mittelklasse“ bilden. In ihrer „Hyperkultur“ kann jede und jeder als authentisch gelten, wenn sie/er die postmodernen Selbstbilder überzeugend verkörpert und dabei jenes gewisse Etwas zu erkennen gibt, das einen im Spiegel der Mitmenschen als etwas Besonderes dastehen lässt.
Wer exzessiv reist, gilt automatisch als weltoffen, wer sich überall auf der Welt zu Hause wähnt, gilt selbstverständlich als Kosmopolit. Und wer bei diesen Aktivitäten als besonders originell gelten will, surft heute im Pazifik und speist morgen in einem pittoresken Lokal in Umbrien oder einer Wellblechbude in São Paulo, Hauptsache, es verheißt Anerkennung im modernen Lifestyleuniversum. „Die Subjekte lechzen danach, affiziert zu werden und andere affizieren zu können, um selbst als attraktiv und authentisch zu gelten“, schreibt Reckwitz.
Allerdings ist diese neue Authentizität nicht leicht zu haben: Sie erfordert ständige Arbeit am Ich, man muss lernen, sein Leben zu kuratieren, man muss ein Gespür dafür entwickeln, was auf dem Markt als attraktiv und interessant gelten könnte, man braucht kulturelles Kapital. Das intensive Arbeitsprogramm am Ich erfordert unter Umständen sogar die Hilfe von Coaches oder Beratern. Denn was als besonders gelten kann, unterliegt dem harten Wettbewerb.
Doch für alle postmodernen Milieus gilt: „Das Reisen in seiner entgrenzten Form ist ein Betätigungsfeld par excellence für die weltzugewandte Selbstverwirklichung, wie sie die Akademikerklasse kultiviert. Im Durchstreifen der Welt, in ihrer natürlichen kulturellen Fülle und Vielfalt reichert das Subjekt sich selbst mit Erlebnissen und Erfahrungen an. Globalität in all ihren Facetten wird zu einer Ressource für die Entwicklung des Ichs … Reisen ist eine Schlüsselpraxis in der Lebensführung der Akademikerklasse, die ihr kosmopolitisches Bewusstsein prägt“, schreibt Reckwitz.
Inzwischen gehört das „entgrenzte“ Reisen zum Habitus der neuen Mittelklasse. Aber Tourismus in seiner alten Form – der zweiwöchige Strandurlaub all-inclusive, die Bildungsreise mit einem Studienreiseanbieter nach Kerala – ist unattraktiv. Die klassische Form, Urlaub zu machen, um die Arbeitskraft zu regenerieren, ist überholt, sie ist Tourismus von gestern, der noch dem alten Industiekapitalismus verhaftet war.
Ausweitung der Warenzone
Dabei hat im Tourismus nichts und niemand größere Zuwachsraten als die durch und durch standardisierte Form des Massentourismus auf Kreuzfahrtschiffen. Die Ungereimtheit lässt sich leicht erklären: die Internationale der „Hyperkulturellen“ gibt der touristischen Wachstumsspirale den neuen, aber entscheidenden Innovationskick. Sie sorgt in dieser neuen Phase kapitalistischer Veredelung ihrer Lebensbereiche für die Ausweitung der Warenzone – vor allem in der Sphäre der Kultur.
Doch es gibt Ähnlichkeiten zwischen der individualistischen Suche nach dem Besonderen, Einzigartigen der von Reckwitz analysierten Avantgardisten aus der Mittelschicht und den klassischen Kreuzfahrern: Der Schrecken des Fremden, das Befremdende, bleibt draußen vor. Wir lassen uns nicht irritieren, allenfalls anregen. Wir konsumieren. Nichts kommt uns so nah, dass es bedrohlich wird, es soll uns emotional anrühren, aber nicht zu viel. Die Fremde dient dem eigenen Wohlbefinden, dem Ergötzen, Erbauen, als Ressource des Ich.
Wollte man möglicherweise früher noch Land und Leute und Orten begegnen, so interessiert uns heute allenfalls noch die historische Spur der anderen Kultur in kunstvollen Holzmasken afrikanischer Museen, deren Replikate wir kaufen und ins Wohnzimmer stellen können. Identitätssplitter des Fremden als Eckpunkt touristischen Interesses. Aber wo wir uns befinden, der Ort, das konkrete Leben der Menschen dort, das interessiert uns nur bedingt.
Das Ende des Reisens
Es ist das Ende des Reisens. Wenn uns der Ort nicht wirklich interessiert, könnten wir auch im Bali- Center nebenan entspannen, auf Arte die Serie „unsere Erde“ gucken, im vietnamesischen Restaurant zwei Straßen weiter lecker asiatisch essen oder die internationale Szenekneipe an der Ecke besuchen und dort Leila und Jane aus New York treffen. Das wäre ökologisch verantwortungsvoll, es würde das Klima schonen, die Ressourcen. Es wäre nachhaltig. Und würde Luft rausnehmen aus der Schnelllebigkeit, unter der in den hochindustrialisierten Ländern immer mehr Menschen leiden.
Die konsumorientierte Lebensweise empfinden immer mehr Menschen als krankmachend und die gesteigerte Mobilität als zu viel für ein einziges Leben. Gereiztheit, Langeweile, Gleichgültigkeit, Betäubung durch Konsum halten Einzug in die psychosoziale Befindlichkeit vieler Menschen. Aber ohne eine andere Reisepraxis gehen die Bedingungen für die lebenswichtige „Resonanz“ (Hartmut Rosa) verloren. Es braucht den nötigen Raum, um sich im Austausch mit anderen wirklich zu spüren und die Chancen auf das Unvorhergesehene auch zu erkennen.
Und es braucht Zeit. Um die Qualität des Reisens zu rehabilitieren, sollte man seltener, aber dafür länger und intensiver unterwegs sein. Oder sich bewusst für Einfachheit entscheiden. Etwa für die eigenen Kräfte der Fortbewegung. Sylvain Tesson, französischer Reiseschriftsteller, bezeichnet dies als Reisen „by fair means“. Darunter versteht er: zu Fuß, per Rad oder Kanu, zu Pferde und das Klettern mit den Händen. Sein Buch „Kurzer Bericht von der Unermesslichkeit der Welt“ gibt Auskunft über die Folgen anderen Reisens: Die Zeit dehne sich wieder und die Welt gewinne die Größe und Großartigkeit zurück, die ihr zusteht.
Fliegen, immer öfter, immer weiter
Dem modernen Touristen geht es – trotz vollmundiger Bekenntnisse – nicht um ein nachhaltiges Reisen. Es geht nicht um die Ressourcenfrage, die Umwelt, die ursprüngliche Natur, sonst würde er nicht immer mehr und mehr fliegen. Es geht ihm auch nicht um Erholung und das Fremde an sich: In diesem neuen schönen, authentischen Tourismus geht es vor allem um Wettbewerbsvorteile an der Spitze der globalen Nahrungskette. Es geht um die Steigerung des Ich in allen seiner Potenzen, um besser dazustehen und sich vermarkten zu können. Mobilität und Beschleunigung sind eine Grundessenz der modernen kapitalistischen Entwicklung.
Bewegung ist alles und Reisen die Eintrittskarte in die kosmopolitische Welt, es ist „die Schlüsselpraxis unseres modernen Lebensstils“ (Reckwitz). Tourismus ist unverzichtbar für unser gesellschaftliches Prestige. Bevor wir deshalb beim Zuhausebleiben ertappt werden, steigen wir lieber in den nächsten Billigflieger nach Amsterdam. Die Belohnung: Man darf sich als Avantgarde fühlen. Und im Bewusstsein sonnen, ökonomisch, ideologisch und auch im zwischenmenschlichen Bereich die Nase vorn zu haben.
Vielleicht sind die Selfies tatsächlich unsere einzige Selbstvergewisserung, dass wir fort waren. Selfie vor Dünen in der Wüste, dem World Trade Center oder den Ruinen von Machu Picchu.
Deshalb bitte unbedingt lächeln gegen den ganzen Stress.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs