Wert von Fotos: Mach dir ein Bild!
Die Lücke zwischen Beobachtung und Beobachter: Theodor M. Bardmann fragt in einem monumentalen Werk nach dem strukturellen Wert von Fotografien.
Kann man über Fotografien schreiben, ohne ein einziges Foto zu zeigen, ein einziges Foto zu diskutieren, mit einem einzigen Foto den Beweis für die eigenen Thesen anzutreten oder auch nur mit einem einzigen Foto deutlich zu machen, dass man auf Fotos immer auch sieht, was der Blick der Fotograf:innen nicht ausgewählt hat?
Man kann. Theodor M. Bardmann, Professor für Medienkommunikation an der Hochschule Niederrhein, hat ein vierbändiges Mammutwerk über „Die Bilder der Gesellschaft. Fotografie und funktionale Differenzierung“ vorgelegt, in dem nicht nur kein einziges Foto zu finden ist, sondern, wenn ich nichts übersehen habe, dieser Umstand noch nicht einmal einen Hinweis oder eine Erläuterung wert ist.
Stattdessen 2.700 Seiten bilderloser Text, ein Literaturverzeichnis von 200 Seiten, ein Sachregister von knapp 100 Seiten und kein Personenregister, obwohl in dem Werk eine Fülle von Autor:innen und Fotograf:innen verhandelt wird. Folgt Bardmann einem radikalen Bilderverbot? Ist die Enttäuschung einer selbstverständlich scheinenden Erwartung die erste und vielleicht auch eine der wichtigsten Botschaften der vier Bände (man traut sich kaum, von einem Buch zu sprechen)?
Titel und Untertitel des Buches machen im Gegensatz zu diesem Bilderverzicht deutlich, worum es stattdessen geht. Bardmann orientiert sich an Niklas Luhmanns Gesellschaftstheorie und fragt nach dem strukturellen Wert von Fotografien für die Reproduktion der Gesellschaft und ihrer Teilsysteme. Er hält sich an jene Version der Theorie, die von der funktional differenzierten Moderne spricht, und belegt für jedes Teilsystem dieser Gesellschaft die Bedeutung und den Stellenwert von Fotografien.
Theodor M. Bardmann: „Die Bilder der Gesellschaft. Fotografie und funktionale Differenzierung“. Vier Bände, Verlag Brill Fink, Paderborn 2023, 3.080 Seiten, 279 Euro
Funktionale Differenzierung
Die Funktion von Fotografien besteht in deren Beitrag zu Strukturen, mit deren Hilfe sich die Systeme jeweils hoch selektiv reproduzieren. Fotos sind zum einen selbst Kommunikation, das heißt, sie teilen etwas mit, enthalten Information und sind unter diesen beiden Gesichtspunkten verständlich. Und sie unterstützen zum anderen die Kommunikation, indem sie Akzente setzen, Wertigkeiten unterstreichen und Unerwünschtes weglassen.
Man könnte auch von einer Feldtheorie der Fotografie, mit Pierre Bourdieu, und einer Diskurstheorie der Fotografie, mit Michel Foucault, sprechen, würde dann aber der wichtigsten These des Buches, dem Beitrag des Fotos zur funktionalen Differenzierung, nicht gerecht.
Fotos reproduzieren die (oft binären) Unterscheidungen dieser Funktionssysteme, indem sie eingrenzen und ausgrenzen, bewerten und abwerten. Fotos bebildern die Programme der Organisationen in diesen Funktionssystemen, indem sie sichtbar machen, worin die wichtigsten Leistungen ihrer Akteure und die typischen Eigenschaften ihrer Klienten bestehen.
Und wie nebenbei repräsentieren Fotos jene Wirklichkeit, die vorausgesetzt wird und mitläuft, während sich ein System inszeniert. Kein Foto kann so umfassend kontrolliert werden, dass es nicht auch etwas zeigt, was nicht gesehen werden soll. Fotos sind verräterisch, entsprechen aber auch darin einem gesellschaftlich eingeübten, zur Reproduktion des Ganzen beitragenden Blick.
Luhmanns Lücke ausfüllen
Enzyklopädisch würdigt Bardmann alle bekannten und auch weniger bekannte Funktionssysteme unter dem Gesichtspunkt ihres Gebrauchs von Fotos. Immer wieder lässt er sich auf Details ein, die keinem vorab entschiedenen Schema genügen, etwa wenn Modefotos Fetischismen bedienen, Familienfotos sich mit Sterblichkeit auseinandersetzen oder die Unergründlichkeit von Wissenschaftsfotos den Anspruch empirischer Evidenz unterläuft.
Ein Opus-Magnum-Stipendium der Volkswagenstiftung hat es dem Autor ermöglicht, viele Jahre darauf zu verwenden, ein Manko zu korrigieren, das er im Werk von Luhmann entdeckte. Bei Luhmann gibt es keine Fotografien. Luhmann entwickelt eine Kommunikationstheorie, die über die Macht der Bilder keine Auskunft gibt.
Auch darin liegt eine Pointe des hier geübten Bilderverzichts. Bardmanns Werk ist eine Textwüste, wie Luhmanns Bücher Textwüsten sind, aber wenn Luhmanns Leistung darin besteht, die Komplexität gesellschaftlicher Operation und Strukturen zu veranschaulichen, indem deutlich wird, dass es von ihnen keine Anschauung gibt, besteht Bardmanns Leistung darin, der Leserin vor Augen zu führen, wie bildhaft unser Verständnis gesellschaftlicher Wirklichkeit immer schon ist.
Es genügen knappe Bemerkungen im Text, zuweilen ausführlichere Beschreibungen in den Fußnoten, um Erinnerungen an Fotos aufzurufen, die man entweder schon gesehen hat oder sich auf eine erstaunlich, vielleicht sogar erschreckend leichte Weise vorstellen kann.
Ein Bild dieser Gesellschaft
Bardmanns Arbeit ist Luhmanns Werk darin kongenial, dass man sich unwillkürlich fragt, mit welchen Sinnen man eine Vorstellung von der Gesellschaft und ihrer kommunikativen Komplexität gewinnen zu können glaubt. Ein Bild dieser Gesellschaft, ein Gehör für ihren Tonfall, ein Geschmack ihrer Faszination, der Geruch ihrer Erregung, sogar die Berührung ihrer neuralgischen Punkte sind Metaphern. Aber auch diese Metaphern beteiligen sich an ihrer Kommunikation.
Ganz nebenbei wird eine Bildtheorie entwickelt, die sich von der Kunsttheorie ebenso wie von der Technikgeschichte der Fotografie bis zur Digitalisierung inspirieren lässt, um dennoch auf dem soziologisch entscheidenden Punkt zu beharren, dass es darauf ankommt zu fragen, wie und was Bilder kommunizieren.
Sie sind eine Beobachtung, und sie rechnen mit Beobachtern. In die Lücke zwischen beidem fällt eine Wirklichkeit, die schlicht und ergreifend da ist, gleichgültig, wer welchen Anspruch auf sie erhebt. Sie kann studiert werden, wie Roland Barthes gezeigt hat, sie kann den Beobachter aber auch überraschen (Barthes’ punctum).
Bilder testen die sozialen Systeme, die sich mit ihnen zu behaupten versuchen. Sie sind umso aufregender, wenn sie sich diesen Systemen nicht etwa romantisch entziehen, sondern Aspekte aufzeigen, die jeder anderen Wahrnehmung, der Sprache, der Formel, der Musik oder dem Film, verschlossen sind.
Bardmann berücksichtigt Gebrauchsfotos ebenso wie künstlerische Fotos, doch in beiden Fällen geht es ihm um das Foto auf der Kippe zwischen System und Umwelt, um das riskante Bild, dem es wie im letzten Moment gerade eben noch gelingt, seinem Thema treu zu bleiben.
Weitere Forschungsfelder
Es bleibt nicht aus, dass eine so umfassende Theoriefolie, wie sie Luhmanns Arbeiten bieten, nicht in jeder Hinsicht ausgenutzt werden kann. Man könnte Fotografien auch zeittheoretisch, konflikttheoretisch, medientheoretisch, mit Fritz Heider, oder formtheoretisch, mit George Spencer-Brown, lesen, und nicht zuletzt könnte man sich fragen, ob Fotografien nicht ein guter Beleg dafür sind, dass wir es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr mit der modernen Gesellschaft und ihren Funktionssystemen, sondern mit einer nächsten Gesellschaft und deren elektronischen Medien und Netzwerken zu tun haben.
Immerhin ist jedes Foto abgesehen von seiner thematischen Engführung immer auch das Dokument einer Konstellation strikt heterogener Sachverhalte. Und immerhin steht kaum etwas riskanter und prekärer auf der Schwelle zwischen analogem Bild und digitaler Bearbeitung als die Fotografie. Aber auch zu diesen Aspekten finden sich Fußnoten und Querverweise, mit denen Bardmann jenen Spuren nachgeht, die nicht unbedingt ins Schema der funktionalen Differenzierung passen.
Die vier Bände sind ein beeindruckendes Nachschlagewerk zum Verständnis der Funktionssysteme und des fotografischen Niederschlags, den sie erzeugen, wie auch ein Lehrbuch zur Frage, wie zu fotografieren ist, was sich in der Verkettung von Kommunikation nach wie vor nicht zeigt.
Immer wieder muss man sich fragen, ob unser fotografisches Verständnis der Gesellschaft und ihrer Funktionssystemen voraus- oder hinterhereilt. In jedem Fall jedoch fasziniert, dass sich dem theoretisch informierten Blick zeigt, wie gesellschaftlich befangen jedes Foto ist. Dazu muss ich kein einziges Foto gesehen haben, werde mir aber in Zukunft jedes anders anschauen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben