Wenn Journalist:innen streiken: Bundesweit die Nachrichten kappen
Journalismus ist unterbezahlt und wird nicht genügend wertgeschätzt. Was wäre, wenn wir deswegen streiken? Ein Gedankenspiel.
Mal angenommen, Putin zieht seine Truppen aus der Ukraine ab, aber niemand in Deutschland kriegt Wind davon. Warum? Weil der Journalismus streikt – bundesweit.
Medien berichten ständig über Streiks. In der einen Woche ist es das Gesundheitspersonal, in der anderen das deutsche Verkehrswesen. Aber der Journalismus streikt nicht mit, zumindest nicht medienübergreifend und nicht bundesweit.
Warum eigentlich nicht? Schließlich fehlt es Journalist:innen an Geld. Und zwar so richtig. Es fehlt so viel, dass manche junge Journalist:innen, die über Kita-Streiks berichten, sich die bestehenden Löhne der Kita-Mitarbeitenden anschauen und seufzen, weil sie von einem solchen Gehalt nur träumen können.
Jährlich sinken die Zeitungs- und Zeitschriftenauflagen. Große Medienhäuser entlassen massenweise Angestellte oder stellen langjährige Magazine ein. Selbst bei den wenigen Medien, die dicke Gewinne machen, kommt bei den Journalist:innen wenig davon an. Freie teilen auf Twitter Fotos ihrer Honorare, um andere zu warnen: Wollt ihr wirklich eure Zeit in diese Zeilen investieren, für die paar Münzen, die sie euch anbieten?
Wer berichtet, wenn nicht wir?
Immer wieder wird durchaus auch gestreikt, bei Gruner+Jahr, beim RBB, beim Tagesspiegel und bei vielen anderen. Erst im November riefen Gewerkschaften beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk zum Streik auf. Prompt redete der Chefkorrespondent des Deutschlandradios seinen Kolleg:innen ins schlechte Gewissen: Hier der Krieg, da die Klimakonferenz, wer soll darüber berichten, wenn nicht wir?
Ja, wer? Drei Tage ohne Printzeitung, „Tagesschau“, Podcasts am frühen Morgen, ohne Radio, digitale Artikel, journalistische Instagram-Kacheln – viele Menschen besorgen sich ihre Informationen dann aus englischsprachigen, österreichischen oder Schweizer Medien. Die Eröffnung eines neuen Theaters in der Stadt oder ein heranziehendes monströses Gewitter in Norddeutschland bleiben aber im Verborgenen – wie das Fußballspiel ausgeht übrigens auch. Journalist:innen wissen das zwar alles. Aber sie beißen ihre Zähne zusammen und behalten alle Informationen ein paar Tage lang für sich.
Was sind die Folgen, wenn das Korrektiv Berichterstattung in der Politik nicht mehr greift? Verabschiedet die Ampelkoalition Gesetze, ohne Rücksicht auf die Meinung der Bevölkerung zu nehmen, jetzt, wo sie ihre Entscheidung nicht mehr vor einer Pressekonferenz rechtfertigen muss? Das tun sie ja schon, ohne dass der Journalismus streikt.
Aber der Ausfall von Informationsverfügbarkeit schlägt Wunden in der Gesellschaft. Gerüchte und gezielte Falschinformationen kursieren und lösen Angst aus. Warum fährt die Bahn nicht? Ist es Streik? Stromknappheit? Ein Unfall? Oder gar ein terroristischer Angriff?
Der Wert von Journalismus
Nach drei Tagen Leere warten Menschen, die nicht pseudojournalistischen Seiten aufgesessen sind, gierig vor dem Fernseher auf Nachrichten, plündern Zeitungsständer und treiben die Klickzahlen auf Nachrichtenseiten in Rekordhöhen. Und hoffentlich sind sie ein bisschen froh darüber, dass es ihn doch noch gibt, diesen Journalismus, der den Tag mit Informationen füllt.
Aber Journalismus lebt nicht nur von Klicks. Irgendjemand muss ein Abo abschließen, damit sich Journalist:innen ihr Frühstück leisten können. In einer Gesellschaft, in der Nachrichten per Smartphone auf Knopfdruck gratis abrufbar sind, ist der Anreiz aber gering, Arbeit noch zu entlohnen. Gleichzeitig regen sich Menschen auf, sobald ein Artikel hinter einer Paywall steht. Wie frech, Geld für einen Text zu verlangen, in den jemand Arbeit reingesteckt hat.
Wir gewöhnen uns sehr schnell daran, dass etwas funktioniert. Der ÖPNV zum Beispiel oder eine Kita. Wenn es mal nicht klappt, stehen viele völlig hilflos da – warum also sollte es beim Journalismus anders sein? Ein bundesweiter Streik, ein Protest, könnte etwas mehr Wertschätzung von der Bevölkerung einbringen und die Notwendigkeit der Lohnerhöhung auf die Tagesordnung der Arbeitgeber setzen. Aber weil Gewerkschaften unmöglich zu einem bundesweiten Medienstreik aufrufen würden, Journalismus zu großen Teilen auch von freien Journalist:innen lebt und Journalist:innen mancher Medien aktuell gar nicht streiken dürfen, bleibt er Wunschdenken.
Mit diesem Widerspruch im Kopf sitzen junge Medienmacher:innen nach der Arbeit zusammen und rätseln mit ihrem Feierabendbier in der Hand: Was muss geschehen, damit ihre Wochenzeitung auf den Klos studentischer Wohngemeinschaften ausliegt? Braucht es mehr Außenwerbung? Vielleicht doch eine Paywall für Online? Die Bierflaschen sind übrigens aus dem Supermarkt und nicht vom Späti. Die sind dann nicht gekühlt, aber kosten immerhin 50 Cent weniger.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen