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Wenn Arbeitgeber Lohn einbehaltenEin Fonds gegen Ausbeutung

Der Lohn unbequemer Mitarbeitender wird oft einbehalten. Der Fonds „Payday“ soll kämpferischen Ar­bei­te­r:in­nen und Be­triebs­rä­t:in­nen helfen.

Die Arbeitsbedingungen bei vielen Lieferdiensten sind alles andere als vorbildlich Foto: Michael Kappeler/dpa

Berlin taz | Auf den Lieferdienst Lieferando ist Moritz W. nicht gut zu sprechen. „Selbst wenn wir ausklammern, dass jedes Unternehmen Geld von Ar­bei­te­r:in­nen stehlen muss, um Profite erwirtschaften zu können, stellen wir fest: Bei Lieferando sind alle von Lohnrückständen betroffen“, berichtet er.

Moritz W. ist Mitglied des Betriebsrats von Lieferando und Teil der Betriebsgruppe Lieferando Workers Collective Berlin. Im Gespräch mit der taz zählen er und sein dort ebenfalls aktiver Kollege Dorian R., die beide nicht mit ihrem vollen Namen in der Zeitung stehen wollen, diverse Formen von „Lohndiebstahl“ auf.

Da sei die einfache Form, die auf der Lohnabrechnung oder dem Kontoauszug ablesbar sei. Außerdem gebe es indirekte Lohnkürzungen: fehlende Schichten inklusive ausbleibenden Trinkgelds, falsch berechnete Urlaubs- und Krankheitstage oder mangelhaftes Equipment, das am Ende durch brauchbarere Alternativen aus der eigenen Tasche ersetzt werden müsse. Jedes Element der Arbeitsbeziehung sei für Lieferando eine Gelegenheit, Geld zu verweigern.

„Würde all das bezahlt, was uns rein rechtlich zusteht, hätten wir 30 Prozent mehr Geld in der Tasche“, sagt Dorian R. Die Verbreitung und Bedeutung von Lohnrückstand in der Arbeitswelt ist kaum erforscht. Gleiches gilt für Union Busting oder Angriffe auf Betriebsräte und aktive Beschäftigte allgemein. Doch mit den Problemen, die die beiden Lieferfahrer schildern, beschäftigt sich in Berlin eine Gruppe von Ge­werk­schaf­te­r:in­nen und Be­triebs­rä­t:in­nen intensiv.

Konkurrenz für Gewerkschaften?

Neben Moritz W. sind auch Ruth Kreuzer und Jona Schapira Teil eines kleinen Kreises, der sich über den jahrelangen Arbeitskampf bei dem inzwischen geschlossenen Berliner Ableger der Hostelkette Wombat’s kennengelernt hatte. Sie sind überzeugt: Lohnentzug ist ein bedeutendes Phänomen. „Man hört das aus Katar – und alle sind schockiert, aber es ist auch in Deutschland eine sehr verbreitete Strategie“, meint Kreuzer, die sich als Schulsozialarbeiterin im Betriebsrat engagiert.

Lohnraub werde strategisch eingesetzt, um aktive Beschäftigte in ihrer Organisierung zu stören oder Arbeitskämpfe lahmzulegen, erklärt Jona Schapira. Sie arbeitet als Bildungsreferentin am Anne Frank Zentrum in Berlin und ist dort in der Verdi-Betriebsgruppe aktiv. Besonders in prekären Berufen führe der Lohnentzug dazu, dass engagierte Ar­bei­te­r:in­nen sich nach einem neuen Arbeitsplatz umsähen. „Damit sind die Aktiven, die Solidarität leben und sich für Rechte einsetzen, weg vom Arbeitsplatz“, so Schapira.

„Wenn alle mit ihren einzelnen Repressionen zu tun haben, ist keine Zeit für kollektives Organisieren“, sagt Kreuzer. „Wir wollen stattdessen unsere Kol­le­g:in­nen darin unterstützen, ihre Konflikte führen zu können.“ Um dies zu ermöglichen, hat die Gruppe mit „Payday“ einen Fonds eingerichtet, der den Lohnrückstand bei kämpfenden Kol­le­g:in­nen ausgleichen soll. Per mehrsprachigem Online-Formular kann mit der Gruppe Kontakt aufgenommen werden. Nach einem ersten persönlichen Treffen wird über die Freigabe der Gelder entschieden.

Payday befindet sich im Aufbau und wirbt um Spenden. Zudem beschränkt sich der Fonds derzeit noch auf Arbeiter:innen, deren Monatseinkommen 1.800 Euro brutto nicht überschreitet und die in Berlin wohnen. Die Initiative hofft aber, dass sich im Laufe der Zeit andernorts weitere Ableger von Payday gründen. Sie versteht sich nicht als Konkurrenz zu den Gewerkschaften. Stattdessen soll mit dem Vorteil der Handlungsschnelligkeit einer kleinen Gruppe deren Arbeit ergänzt werden. Mit dem Fonds könne im besten Falle aus einzelnen erfolgreichen Geschichten eine kollektive Erzählung vom Gewinnen erwachsen, ist Schapira überzeugt.

„Ein Abschreckungsinstrument“

Eigentlich sind die Arbeitsgerichte für die Feststellung von unrechtmäßigem Lohnrückbehalt zuständig. Ein Prozess zieht sich jedoch nicht selten über zwei Jahre hin. Wenn Betroffene materiell von ihrem monatlichen Lohn abhängig sind, kommen diese Entscheidungen zu spät. Und ein weiteres Problem benennt Schapira: „Wenn der Fall dem Gericht vorgelegt wird, kommt es nicht zur Prüfung, ob eine gewerkschaftsfeindliche Strategie dahintersteht.“

An der Technischen Universität Chemnitz befasst sich der Arbeitssoziologe Oliver Thünken mit Gewerkschaften und Betriebsräten. Er ist Mitautor einer aktuellen Studie, die Angriffe gegen aktive Ar­bei­te­r:in­nen genauer untersuchte.

Solche Attacken hätten auch eine Dimension jenseits des angegriffenen Individuums, sagt er: „Der strategische Gehalt liegt darin, Einzelne, die sich engagieren, exemplarisch abzustrafen.“ Das führe der Belegschaft vor, dass bei entsprechendem Handeln Konsequenzen zu befürchten seien. „Es ist ein Abschreckungsinstrument“, so Thünken.

Für den Wissenschaftler hat sich gezeigt: „Trotz aller Angriffe auf Einzelne ist es wichtig, deren Abwehr in eine eigenständige betriebspolitische Strategie einzubinden.“ Das bestätigt auch Lieferando-Betriebsrat Moritz W.: „Kleine Dinge verbessern sich, aber nur solange wir Druck machen. Ohne den bekommen wir nichts oder Alibilösungen wie Winterhandschuhe im Wert von 50 Cent.“

Auch Dorian R. begrüßt die Idee von Payday. „Aber wenn wir bestimmte Dinge verändern wollen, gibt es keine Alternative, als dass wir uns als Ar­beit:in­nen leidenschaftlich zusammentun“, sagt er. Die Payday-Initiative will dafür in den Erstgesprächen die kollektiven Handlungsmöglichkeiten der Angegriffenen ausloten. Denn, so Verdi-Aktivistin Schapira: „Eine organisierte Belegschaft mit einer gemeinsamen Strategie ist die beste Prävention vor künftigen Angriffen auf Arbeiter:innen, ob diese nun durch Lohnklau oder in anderer Form erfolgen.“

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5 Kommentare

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  • Für mehr Infos über Payday: www.payday-ev.de

  • „Selbst wenn wir ausklammern, dass jedes Unternehmen Geld von Arbeiter:innen stehlen muss, um Profite erwirtschaften zu können, stellen wir fest: Bei Lieferando sind alle von Lohnrückständen betroffen“

    Kann mir bitte jemand erklären, was die alternative sein soll? Und kommt mir bitte nicht mit einer abstrakten Erklärung wie Kommunismus. Ich verstehe, dass mein Arbeitgeber einen grossen Anteil meiner Arbeit für sich erhält. Nennen wir es mal das „Mehr“ an meiner Arbeit. Da mein Arbeitgeber eine private Firma ist, können sich die Besitzer einen Gewinn auszahlen – was nicht ok ist. Aber wenn ich für den Staat arbeite, kriegt der Staat dieses „Mehr“– was meiner Meinung nach nicht unbedingt besser ist. Das haben ja die Sowjets probiert und es war eine Katastrophe (jetzt bezeichnen das gewisse als „Staatskapitalismus“ was meiner Meinung nach ein Witz ist). Wenn ich aber in einer Genossenschaft arbeite, dann wird im Idealfall demokratisch entschieden, wie dieses „Mehr“ verwendet wird. Für mich die beste Lösung, die ich kenne. Aber es bleibt immer ein „Mehr“ übrig. Bitte belehrt mich des besseren, ich versuche hier nicht ironisch zu sein oder so.

    • @__tester:

      Du hast Recht mit der (Produktiv)Genossenschaft, die Überschüsse werden hier verteilt, Arbeitgeber u Arbeitnehmer sind identisch, es gibt keine Ausbeutung (das Mehr, oder klassisch: der Mehrwert, verbleibt in der Hand der Arbeitenden). Damit wäre der im Artikel zitierte Kollege sicher auch glücklich.

      Inwiefern die öffentliche Hand Lohnarbeit ausbeutet, ist schwieriger zu beantworten. Sicher umso weniger, je weniger Überschüsse im jeweiligen Bereich erzielt werden (in der öfftl. Daseinsvorsorge fallen die ja regelmäßig gering bis negativ aus). Das würde ich aber nicht vermischen mit dem sowjetischen System, wo die Produktionsmittel (d.h. alle unternehmerische Tätigkeit) verstaatlicht sind. Dort tritt der Staat und die Funktionäre an die Stelle der Kapitalisten. Dieser Zustand ist mit Staatsmonopolkapotalismus eigentlich ganz gut beschrieben.

      • @Clemsinger:

        Vielen Dank für die Erläuterung.



        Ich stimme vollkommen zu, dass eine Genossenschaft die beste Form ist um die Arbeitenden zu schützen. In der Schweiz haben wir viele Genossenschaften, vor allem im Lebensmittel und Versicherugnsbereich. Die bieten sehr gute Arbeitsbedingungen an und sind auch sehr beliebt bei den Kudnen.



        Mein Problem liegt aber wo andres. Prof. Richard Wolff verteidigt immer Genossenschaften und sagt auch, dass die Sowjetunion Staatskapitalismus war etc. Aber diese Aussage trifft man immer nur ex-post. Bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts war man sich sicher, dass sowas wie die Sowjetunion die beste Form sei. Siehe auch Marx. In vielen Bereichen in seinem Buch schreibt er davon, dass Genossenschaften nutzlos sind, weil sich die Genossenschaften dann wie Kapitalisten verhalten würden. Deshalb kann ich das nicht ganz ernst nehmen. Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, dass wenn nur noch Genossenschaften erlaubt wären (somit meiner Meinung nach auch vieles besser wäre) Marxisten doch wieder zentrale Planwirtschaft verlangen werden. Deshalb bin ich kein Freund von solchen Analysen, da wenn man sie zu Ende denkt, man immer in einer Form von zentraler Planwirtschaft enden wird. Dies ist hingegen viel schlimmer als was wir jetzt haben.

  • „Selbst wenn wir ausklammern, dass jedes Unternehmen Geld von Ar­bei­te­r:in­nen stehlen muss, um Profite erwirtschaften zu können,(...). Wie darf man diese Aussage verstehen? Mein Arbeitgeber hat mir noch nie Geld gestohlen. Ich leiste meine vertraglich festgelegten 37,5 Arbeitsstunden und bekomme dafür eine vertraglich festgelegte monetäre Vergütung. Überstunden kann ich entsprechend vertraglich festgelegt abfeiern. Ich sehe nicht wo bei diesem Konzept der Tatbestand des Diebstahls erfüllt ist?



    Natürlich gibt es wie oben beschrieben Unternehmen die gegen die vertraglichen Bestimmungen verstoßen. In diesen Fällen darf man von Stehlen sprechen. Aber das auf alle Unternehmen auszudehnen halte ich für ein reichlich unausgegorenes Konstrukt.