Weniger Pro-Kopf-Verbrauch: Wachsende Milchskepsis
Laut einer aktuellen Statistik verbrauchen die Menschen in Deutschland so wenig Milch wie zuletzt 1991. Auch die Milch-Produktion wird weniger.
![Ein Landwirt melkt eine Kuh Ein Landwirt melkt eine Kuh](https://taz.de/picture/5593064/14/Kuhmilch-1.jpg)
Im Jahr 1995 lag der Pro-Kopf-Verbrauch von Konsummilch (was Vollmilch, entrahmte, teilentrahmte sowie Vorzugsmilch umfasst) noch bei knapp 62 Kilogramm. Vor zehn Jahren waren es dann schon nur noch 52 Kilogramm.
Als möglicher Grund für den Abwärtstrend wird der verstärkte Konsum pflanzlicher Alternativprodukte genannt. Sprich: von Hafer-, Soja-, Mandel-, Cashew-, Erbsen-, Kokosnuss- oder Pistazien-Drinks. Allein 2021 wurden 296 Millionen Liter Milchersatzgetränke nach Deutschland importiert, 42 Prozent mehr als im Vorjahr, wie das Statistische Bundesamt am Dienstag berichtete. „Gegenüber 2017 haben sich die Importe mehr als verdreifacht.“
Der größte Teil der importierten Pflanzendrinks (35,4 Prozent) kommt demnach aus Belgien. Wichtige Lieferanten sind auch, Italien, Österreich und Frankreich. Milchersatz darf in der EU übrigens nicht mit der Bezeichnung „Milch“ in Verkehr gebracht werden, weshalb dann meist „Drink“ auf der Packung steht, aber eigentlich alle trotzdem „Milch“ sagen.
Pflanzliche Milchalternativen sind kein Nischenprodukt mehr
Vor allem Sojamilch galt vielen Leuten lange Zeit als verrückte Eigenheit von Veganern. Doch Produkte wie Hafermilch und Mandelmilch sind längst keine Nischenartikel mehr für Hardcore-Veganer oder Menschen mit Allergien oder Unverträglichkeiten.
„Kritik an der Milch ist mit Blick auf die Menschheitsgeschichte der letzten sieben- bis zehntausend Jahre ein sehr neues Phänomen“, sagt der Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfelder. Die Skepsis gegenüber Milch, die jahrtausendelang für Reichtum, gutes Leben und Gesundheit gestanden habe, gebe es verstärkt seit gut 30 Jahren und heute in erster Linie in der jüngeren Generation und in bestimmten Milieus, die oft fernab vom Land lebten, erläutert der Professor von der Uni Regensburg, der neben Geschichte auch Agrarwissenschaft studiert hat.
„Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde das Leitnarrativ bei vielen weg vom Rechts-/Links-Schema auf die Ernährung übertragen“, sagt Hirschfelder. „Essen und Trinken haben eine Stellvertreterfunktion übernommen – mit dem groben Schema „Müsli ist Weltrettung“ und „Steak steht für Selbstoptimierung“.“ Die Milch nehme dabei eine besondere Stellung ein und werde extrem aufgeladen. „Weiß sieht sie unschuldig aus, ist aber in den Augen vieler Leute schuldig. Milchviehbetriebe gelten manchen als reine Tierqualanstalten.“
Aus diesem Schuldkreislauf lasse sich dann aber recht bequem aussteigen. „Pfanzliche Milchalternativen tun nicht weh, lassen sich fast genauso wie Milch verwenden, sind hip und cool. Das Motto lautet dann oft „Ich verbessere die Welt und mich selber“.“
Milch war wichtiger Schritt in Zivilisationsgeschichte
Historisch gehörten Ackerbau, Viehhaltung und auch Milchproduktion zur Sesshaftwerdung und seien eine wichtige Entwicklung der Zivilisationsgeschichte, betont Hirschfelder. „Unsere Sprache ist voll von positiven Bildern über Milch, man denke etwa an die Metapher vom „Land, in dem Milch und Honig fließen“.“ Bis ins 19. Jahrhundert hatten die meisten Menschen auch in unseren Breiten viel Kontakt mit Vieh und Nutztieren, sahen das Melken, waren von klein auf Experten.
Die heutige Milchskepsis gebe es in anderen Teilen der Welt wie China oder in den arabischen Ländern weniger, sagt der Professor. Aus Historikersicht sei sie eine Modeerscheinung und global gesehen noch kein Massenphänomen. Und ökologisch und ökonomisch sei auch Skepsis gegenüber hochverarbeiteten industriellen Nahrungsmitteln wie Hafer- und Mandelmilch angebracht. „Ist heimische Milch mit einem Butterbrot nicht vielleicht sogar besser als der Handel etwa mit Sojaprodukten?“
Käse ist schlechter zu ersetzen
Eine besondere Beobachtung hat Hirschfelder bei einem wichtigen Milchprodukt gemacht. „Käse ist schlechter zu ersetzen als Milch. Dessen Fett, Protein, Geschmack und Eigenheit ist mit Tofuwürfelchen überm Salat oder auch bei Pizza und Auflauf kaum kopierbar.“
Die Statistik zeigt denn auch: Auch wenn es Imitate gibt (Stichwort: Analogkäse), echter Käse ist populärer geworden in den letzten Jahren. In den 80er Jahren lag der Pro-Kopf-Verbrauch im Jahr nur um die 14 Kilogramm, im Jahr 2000 bei rund 21 Kilogramm. Im letzten Jahr blieb der Käsekonsum konstant bei mehr als 25 Kilogramm.
Auch die Produktion sinkt
Die Produktion von Trinkmilch tierischen Ursprungs ist in Deutschland auch 2021 zurückgegangen. Im vergangenen Jahr wurden 7,6 Milliarden Liter Trinkmilch zum Absatz erzeugt, wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt. Das war der niedrigste Wert seit 2002. Allein gegenüber dem Vorjahr sank die zum Absatz bestimmte Produktion um 7,1 Prozent (von 8,2 Milliarden Litern). 2003 wurden noch 8,9 Milliarden Liter hergestellt.
Nach Angaben einer Sprecherin der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) in Bonn, einer beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft angesiedelten Behörde, nahm 1970 in der alten Bundesrepublik durchschnittlich jede und jeder noch mehr als 80 Kilogramm Trinkmilch im Jahr zu sich. „Daten aus der ehemaligen DDR liegen uns nicht vor.“
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