Welttag gegen Gewalt an Frauen: Die Schuldfrage
Ziel war, den Opfern von Gewalttaten besser zu helfen. Deshalb beschloss der Bundestag das Gesetz über ein neues Soziales Entschädigungsrecht.
Im Sommer 2016, erzählt Liane Lange*, habe einfach alles gepasst. Sie hatte eine Wohnung in Berlin-Kreuzberg, einen Job in einer Sprachschule, und schließlich lernte sie einen Mann kennen, mit dem sie Radausflüge machte und den Sommer genoss. „Wir haben die ganze Zeit gelacht“, sagt die heute 37 Jahre alte Berlinerin.
Relativ nahtlos zog der Mann bei ihr ein, „das lief anfangs eher über ‚Kann ich noch mal bei dir übernachten?‘ “, sagt Lange. Nach und nach aber fiel ihr auf, dass er häufiger betrunken nach Hause kam. Sie sprach ihn auf seinen Drogenkonsum an, er hatte Ausreden. Doch die Stimmung veränderte sich, immer wieder gab es Streit.
Nach einigen Monaten rief er sie von unterwegs aus an, nannte sie „dumme Fotze“ und drohte ihr: Sie solle sich gut einschließen. „Und zugleich: eine Tür sei kein Hindernis für ihn“, sagt Lange. Sie rief die Polizei an und erzählte von der Drohung. „Aber die meinten wörtlich, sie könnten da gar nichts machen, sie seien ja schließlich kein privater Sicherheitsdienst.“
In einer Nacht im September trat ihr damaliger Freund um sechs Uhr früh ihre verschlossene Wohnungstür ein, drang in ihre Wohnung ein und ging auf sie los. Er zog sie an den Haaren, warf ihren Kopf gegen die Wand und sie aufs Bett. Sie versuchte, ihn wegzutreten, und konnte schließlich die Polizei rufen, die ihn mitnahm.
Der Gedenktag
Der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen ist ein jährlicher Gedenk- und Aktionstag zur Bekämpfung von Diskriminierung und Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen. Thematisiert werden unter anderem sexueller Missbrauch, Vergewaltigung, weibliche Genitalverstümmelung, häusliche Gewalt, Femizide und Zwangsheirat.
Die Initiative
Was der Initiative Anlass gab, den Tag zu begehen, war der „Fall Mirabal“. 1960 wurden zwei Schwestern, Regimegegnerinnen des damaligen Diktators Rafael Trujillo in der Dominikanischen Republik, von Angehörigen des Militärs verschleppt, vergewaltigt und ermordet. 1981 riefen lateinamerikanische und karibische Feministinnen den 25. November zum Gedenktag für die Opfer von Gewalt gegen Frauen aus, 1999 erklärten die Vereinten Nationen den Tag zum Internationalen Gedenktag. Patrica Hecht
Tage später bat er um ein Gespräch. „Ich wollte schon wissen, was da in ihm vorgegangen ist“, sagt Lange. „So kannte ich ihn ja gar nicht.“ Ihm sei klar gewesen, dass es nicht in Ordnung gewesen sei, was er gemacht habe. Als er sie bat, weiter bei ihr übernachten zu dürfen, stimmte sie zu. Die Beziehung sei zwar vorbei gewesen – aber „er hatte weder Geld noch Wohnung, und ich dachte, es ist konfliktfreier, wenn er bei mir im Wohnzimmer schläft, als wenn ich wieder Angst haben muss, dass er die Tür eintritt“, sagt Lange. „Ich habe da einen Menschen gesehen, der Hilfe braucht, wenn auch auf freundschaftlicher Basis.“
Ende Oktober aber wurde immer deutlicher, dass die Situation nicht tragbar war. Lange bat ihren Ex-Freund, endgültig nicht mehr wiederzukommen. „Dann ist er auf mich losgegangen“, sagt sie. Er beschimpfte sie, bespuckte sie und warf sie auf den Boden. Er presste sie gegen die Wand, boxte ihr ins Gesicht und schlug ihr schließlich einen mit Münzen gefüllten Metallbecher gegen die linke Schläfe. Lange konnte aus ihrer Wohnung fliehen.
Sie erstattete gegen ihren Ex-Freund Anzeige wegen Hausfriedensbruch, Beleidigung und gefährlicher Körperverletzung. Parallel beantragte sie über ihre Anwältin eine finanzielle Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz beim Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) – denn der Staat ist grundrechtlich dazu verpflichtet, sich für den Schutz von Gewaltopfern einzusetzen und diesen einen finanziellen Ausgleich zu zahlen. Das Lageso aber verweigerte die Entschädigung.
Knapp 140.000 Personen in Deutschland wurden 2017 laut polizeilicher Kriminalstatistik Opfer von Gewalt in Partnerschaften. Mehr als 80 Prozent davon waren Frauen. Dennoch schreibt das Amt in Langes Fall, dass sie eine „wesentliche Bedingung für den Eintritt des Schadensfalls“ selbst verschuldet habe: Sie habe sich der Gefahr durch den Täter und des eventuellen Übergriffs „freiwillig ausgesetzt“. Durch ein „Mindestmaß an Selbstverantwortung“ hätte sich Lange aus der Situation befreien können. Dem Antrag auf staatliche Entschädigung könne daher nicht entsprochen werden.
Dieser ablehnende Bescheid, kritisiert die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), sei kein Einzelfall – sondern beispielhaft für die diskriminierende Entscheidungspraxis von Behörden und Gerichten im Bereich der Opferentschädigung. Denn trotz der Verpflichtung, sich für Gewaltopfer einzusetzen, komme es in Fällen häuslicher Gewalt in der Praxis oft zu einer „Täter-Opfer-Umkehr“, so Lea Beckmann von der GFF. „Nach dem Motto: Die Opfer hätten sich aus der Beziehung lösen und so die Gewalttat verhindern können.“
Strukturelle Ursachen ignoriert
Das Gesetz, kritisiert Beckmann, ignoriere damit die strukturellen Ursachen von Partnerschaftsgewalt. In vielen Fällen schaffen Frauen es etwa aus Angst vor erneuter Gewalt, vor den Folgen für die gemeinsamen Kinder oder häufig auch wegen finanzieller Abhängigkeit nicht, sich endgültig zu trennen.
„Das heißt aber noch lange nicht, dass sich Frauen die ihnen widerfahrene Gewalt selbst zuschreiben müssen“, so Beckmann. „Opfern die Entschädigung zu versagen und ihnen die Verantwortung zuzuschreiben, ist Victim Blaming.“ Zudem treten Femizide häufig auch als Tötung der derzeitigen oder ehemaligen Partnerin infolge einer Trennung auf.
Das Opferentschädigungsgesetz, das Beckmann kritisiert und das der Hintergrund der Ablehnung des Lageso im Fall von Liane Lange ist, gilt seit Langem als reformbedürftig. Es basiert auf einem 1950 für Kriegsopfer und ihre Hinterbliebenen geschaffenen Versorgungsgesetz und gilt für alle Fälle von Gewalt, also zum Beispiel auch Körperverletzung im öffentlichen Raum oder Terror. Gezahlt werden können Versorgungsleistungen wie Heil- oder Krankenbehandlungen, je nach Grad der Schädigung ist auch eine Grundrente möglich.
Auswirkungen des Anschlags auf dem Breitscheidplatz
Anfang des Monats nun beschloss der Bundestag ein Gesetz, das das Opferentschädigungsgesetz ablösen und auf neue gesellschaftliche Entwicklungen reagieren soll: das Gesetz für ein Soziales Entschädigungsrecht. Ziel ist es, Opfern von Gewalttaten schneller und zielgerichteter zu helfen. Nach eigener Aussage reagiert die Bundesregierung damit vor allem auf die Auswirkungen des Anschlags auf dem Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016, nach dem Hinterbliebene ihr vorwarfen, nicht zügig genug geholfen zu haben. Am Freitag soll das neue Gesetz den Bundesrat passieren, dieser muss noch zustimmen.
Grundsätzlich findet das Gesetz viel Zustimmung: Entschädigungszahlungen sollen deutlich erhöht, der Zugang zu Hilfen soll erleichtert werden. Alle Opfer von Gewalttaten in Deutschland sollen unabhängig von Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsstatus gleichbehandelt werden. Der bisher verwendet Gewaltbegriff soll neu definiert werden: Erstmals sollen auch Opfer von psychischer Gewalt, zum Beispiel von schwerem Stalking, eine Entschädigung bekommen können. Und auch Sexualstraftaten wie Nötigung oder Vergewaltigung wurden aufgenommen.
Dass das Opfer Strafanzeige erstattet, wird zudem nicht mehr ausdrücklich verlangt – was für Betroffene sowohl von häuslicher als auch von sexualisierter Gewalt relevant ist. Das Gesetz sei „ein großer Schritt, um die Situation von Gewaltopfern zu verbessern“, so Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD): „Wir wollen erreichen, dass ein Antrag auf Opferentschädigung für Betroffene kein Kampf mehr ist.“
Dennoch kritisieren Frauenrechtsorganisationen wie der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) oder auch die GFF verschiedene Aspekte des Gesetzes. Denn etwa im Fall von Liane Lange würde das Lageso auch künftig die Entschädigung verweigern können.
Entscheidend ist, ob Entschädigungen gezahlt werden
„Zwar sind Betroffene häuslicher Gewalt vom neuen Gesetz nicht grundsätzlich von Leistungen ausgeschlossen, wenn sie beim Partner bleiben oder zu ihm zurückkehren“, sagt etwa Katharina Göpner vom bff. Doch weiterhin können Leistungen versagt werden. Die Folge: „Frauen werden strukturell von Entschädigungen ausgeschlossen“, so Lea Beckmann.
Entscheidend werde die Frage, ob Entschädigungen gezahlt werden oder nicht, wohl „von der Auslegung der Anträge durch die jeweiligen Ämter abhängen“, so Göpner. Der bff fordert deshalb Schulungen für die MitarbeiterInnen in den Ämtern, die die Anträge bearbeiten: „Das Personal muss über die Dynamiken häuslicher Gewalt Bescheid wissen.“
Die GFF ihrerseits will eine Klarstellung: Angesichts der Verpflichtungen Deutschlands durch die Istanbul-Konvention zum Gewaltschutz von Mädchen und Frauen „würde ich mir eine klare Anweisung der Sozialministerien der Länder an die zuständigen Behörden wünschen, dass Entschädigungen nicht mit der Begründung verweigert werden dürfen, dass eine Person in einer gewalttätigen Beziehung verblieben ist“, so Lea Beckmann. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass die weitaus meisten Regelungen des neuen Gesetzes erst 2024 in Kraft treten sollen. „Das ist absurd: Wenn in den nächsten vier Jahren zum Beispiel jemand gestalkt wird, greift das Gesetz noch nicht“, so Göpner. Und auch dann wird die Rechtslage zum Tatzeitpunkt herangezogen. „Das ist zum Nachteil der von Gewalt Betroffenen.“
Lea Beckmann
Bis es zum Prozess gegen Liane Langes Ex-Freund kam, dauerte es bis März 2019. Das ernüchternde Ergebnis: eine Bewährungsstrafe von fünf Monaten und 500 Euro, die der Mann ihr zahlen musste, obwohl er, wie sich herausstellte, wegen früherer Gewalttaten bereits polizeibekannt war. Doch Lange akzeptierte das Ergebnis – anders als die Ablehnung des Lageso. „Ich hätte damit leben können, wenn die einfach gesagt hätte, sie zahlen halt nicht“, sagt sie. „Aber sie geben mir die Schuld an dem, was passiert ist. Das geht nicht.“
Wann der Prozess ansteht, den Lange mit Unterstützung der GFF nun selbst gegen das Lageso anstrengt, ist noch nicht absehbar. Auf ein paar Wochen mehr oder weniger komme es nun aber auch nicht mehr an, sagt Lange: „Seit drei Jahren geht es in meinem Leben nur noch darum, was damals passiert ist.“
Ihren damaligen Job kündigte sie, um Zeit zu haben, sich zu erholen. Aus ihrer Wohnung ist sie ausgezogen. „Ich wollte nicht mehr an einem Ort leben, an dem ich mein eigenes Blut von der Wand gekratzt habe“, sagt sie. „Und sicher gefühlt habe ich mich auch nicht mehr.“ Eineinhalb Jahre wohnte sie zur Untermiete, bei FreundInnen oder in Airbnb-Wohnungen, seit Mai in einer WG. Eine neue eigene Wohnung hat sie noch nicht gefunden. Einen neuen Job immerhin schon.
Die Kosten, die ihr infolge der Gewalttaten entstanden sind, schätzt sie auf rund 18.000 Euro: Die Lagerung von Möbeln, die Kosten für ihre Anwältin und die verschiedenen Umzüge waren teuer. Ihr Ex-Freund hat zudem Schulden bei ihr. „Auch durch die finanziellen Folgen spielt er immer noch eine Rolle in meinem Leben“, sagt sie. „Ich will, dass das aufhört.“
* Name geändert
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