Was ist Wahrheit?: Die berechtigte Frage nach den Fakten
Fake News sind zur Floskel geworden. Dabei wäre es ganz einfach, Tatsache von Meinung zu unterscheiden. Experten erklären, wie das geht.
Das größte Publikum bei einer Amtseinführung eines US-amerikanischen Präsidenten hatte Donald Trump. So sah es zumindest Trumps Präsidialamtssprecher Sean Spicer. Luftaufnahmen der Zuschauer*innen auf der National Mall in Washington, D.C. zeigen, dass wesentlich mehr Menschen bei der Amtseinführung Barack Obamas 2009 anwesend waren als bei Donald Trump.
Er habe auch die weltweit per Fernsehen und Internet zugeschalteten Zuschauer*innen mitgezählt, sagte Spicer später bei einer Pressekonferenz im Weißen Haus: „Es ist unsere Absicht, Sie niemals anzulügen. Ich glaube, wir können bei den Fakten manchmal unterschiedlicher Meinung sein.“
„Alternative Fakten“, wie Trumps Beraterin Kellyanne Conway die Darstellung Spicers bezeichnete, gab es schon vor dem neuen US-Präsidenten. Sie sind durch Trumps Präsidentschaft stärker in den Vordergrund gerückt. Viele seiner Aussagen kleidet er in einen Superlativ. Er misstraut den Medien und verlässt sich lieber auf Twitter. Komplexe, aber inzwischen weitgehend akzeptierte Fakten wie den menschengemachten Klimawandel stellt er in Frage.
Aber was ist das überhaupt, ein Fakt? „In der DDR gab es die Redewendung ‚Das ist Fakt‘, was nichts anderes bedeutete als ,Das ist eine Tatsache'. Tatsachen sind dasjenige in der Welt, was unseren wahren Aussagen entspricht“, sagt Geert Keil, Professor für philosophische Anthropologie an der Berliner Humboldt-Universität. In einfachen Fällen kann eine wahre Tatsache gefunden werden, indem man sich auf die Wahrnehmungen seiner fünf Sinne verlässt, so Keil. „Die Menge der alltäglichen Tatsachen, über die Menschen sich einig sind, übersteigt die Menge der umstrittenen um ein Vielfaches.“
2. Juni 1967: Ein Schuss tötet den Demonstranten Benno Ohnesorg. Dieses Datum markiert den Beginn einer bis heute geführten Debatte über Gegenöffentlichkeit, über die Medien, über Wahrheit und Lüge, oder, wie man heute formulieren würde, über Fake News und alternative Fakten, über Verschwörungstheorien, bürgerliche Zeitungen und alternative (auch rechte) Blätter, über die „Wahrheit“ und die Deutungshoheit gesellschaftlicher Entwicklungen. Nachdenken über 50 Jahre Gegenöffentlichkeit: taz.gegen den stromDie Sonderausgabe taz.gegen den strom – jetzt im taz Shop und auf www.taz.de/gegenoeffentlichkeit
Fakten und Meinungen vermischen sich in der politischen Debatte zunehmend. Das zeigt gerade Trump, der oft anderer Meinung ist und Nachrichten auch mal als Fake News bezeichnet. „Im Alltag wird der Ausdruck ‚Wahrnehmung‘ auch im weiteren Sinn verwendet, der persönliche oder politische Einschätzungen einschließt“, sagt Keil. Während eine Person zum Inhalt ihrer Wahrnehmungen in der Regel einen direkteren Zugang habe als andere, gelte das für die Wahrheit ihrer Einschätzungen nicht. Im Gegensatz zu reinen Sinneswahrnehmungen sind diese Beurteilungen also nicht einfach wahr, weil es sie gibt.
Bei der Frage, ob bei Trumps Amtseinführung mehr Menschen anwesend waren als bei Obama, müsste es eine einfache Antwort geben. Dennoch zeigt die anschließende Debatte, dass sich vermeintlich einfach nachzuweisende Tatsachen verschieden deuten lassen.
„Sprachliche Aussagen fixieren die Wirklichkeit nicht so eindeutig, dass keine Uminterpretation des Gemeinten möglich wäre“, sagt Keil. Sean Spicer konnte seine Behauptung anpassen, nachdem sie durch die Luftaufnahmen widerlegt war.
Nicht nur im politischen Diskurs wird vielfach umgedeutet. Im Internet treffen ganz verschiedene persönliche und politische Einschätzungen aufeinander. Inhalte werden vielfach wiedergegeben, Fake News und „alternative Fakten“ potenzieren sich dadurch. Insbesondere in den sozialen Netzwerken wird geklickt, kommentiert und geteilt, um die eigenen Ansichten zu verbreiten. „Jeder hat seine eigene Wahrheit und wirft anderen vor, etwas Falsches zu sagen“, sagt Andre Wolf, der sich für den Verein Mimikama mit Internetbetrug, Falschmeldungen und Computersicherheit beschäftigt.
Kritische Haltung
In vielen Fällen, die an Mimikama herangetragen werden, geht es darum, Fakt von Meinung zu trennen. Mithilfe verschiedener Suchmaschinen sucht der Verein Texte, die auf den gleichen Sachverhalt eingehen, und versucht die unverfälschte Information zu finden. „Wir suchen nach den gemeinsamen Aussagen. Wo decken sich auch konträre Artikel?“ Damit kommen sie der Wahrheit am nächsten, so Wolf.
Über Falschdarstellungen hinaus sieht er auch die „Überschriftenscheißerei“ mancher Medien als Problem. „Das sind Überschriften, die sind dahingeschissen. Du klickst den Artikel an und da steht nicht viel drin“, sagt Wolf. Dadurch werde das Thema selbst oftmals auch verfälscht, weil viele Menschen gar nicht mehr den Artikel lesen. „Es wird eine Stimmung erzeugt, die manipulativ wirkt.“ Wolf nennt in dem Zusammenhang ein Medium, das früher mit „Fakten, Fakten, Fakten“ warb. Unter Artikeln mit solchen Überschriften fänden die meisten Interaktionen statt.
Die Arbeit von Mimikama kann das eigene Denken dennoch nicht ersetzen. In Zukunft werden Nutzer*innen verstärkt selbst die Inhalte prüfen müssen, denn mit dem Internet gibt es ein völlig verändertes Sender-Empfänger-Bild. Gab es früher nur eine Handvoll Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsender, ist die Zahl an Internetseiten schier unendlich. „Es gibt eine Vielzahl von Informationsquellen, die frei zugänglich sind. Wir stehen jetzt an der Stelle, wo wir selbst lernen müssen, wie wir diese Informationen zu bewerten haben“, sagt Wolf.
Egal ob Nachrichten, Kommentare, Reportagen, Fake News oder alternative Fakten – es gilt, sich kritisch mit dem Gelesenen und Gesehenen auseinanderzusetzen. Schon allein, weil Menschen nicht unfehlbar sind. „Nicht alle falschen Tatsachenbehauptungen sind Lügen. Manche sind schlicht Irrtümer, von denen wiederum manche leicht vermeidbar sein mögen, andere nur schwer“, sagt Keil. Umso wichtiger ist es, aufmerksam zu sein und zuerst die Fakten zu überprüfen, bevor man sich empört, Inhalte teilt und die eigene Meinung sich verfestigt.
Jahrgang 1989, arbeitet als freie Redakteurin und Journalistin u.a. für taz.de und Correctiv.
Vielleicht ist Sean Spicer nur ein Fehler unterlaufen, den er nicht zugeben wollte. Vielleicht wollte er mit Absicht täuschen. Oder er meinte mit seiner Aussage tatsächlich auch alle Zuschauer*innen, die in den Medien die Amtseinführung mitverfolgt haben. Das ist reine Spekulation. Fakt ist aber: 2009 waren mehr Menschen auf der Washington Mall, um zu sehen, wie Barack Obama Präsident wird, als 2017 bei Donald Trump.
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