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Was gibt Halt in den Zeiten des Virus?Das Denken wird immer schwieriger

Deutschland ist gegen die Folgen des Virus gut gewappnet. Wir haben daher eine staatsbürgerliche Verpflichtung, die weit übers Dauernörgeln hinausgeht.

Ankunft eines Bundeswehr-Flugzeugs in Köln. An Bord: Corona-Patienten aus Italien Foto: dpa

D as Denken ist schwierig geworden. Oder anders: In diesen Tagen der globalen Coronakrise wird einem klar, wie schwierig es ist, festen Boden zu finden. Man kann versuchen, das wegzuleitartikeln, indem man vom Feldherrnhügel das sagt, was man immer sagt – aber mit der Einleitung, dass jetzt „ganz neu gedacht“ werden müsse. Der „Neoliberalismus“ hat …, der Staat muss …, aber die Freiheit darf …

Oder man kann von „Entschleunigung“ brabbeln und dass man jetzt endlich wieder ein gutes Buch lesen müsse. Aber so läuft das nicht. Wer ein gutes Buch lesen kann, der liest es. Und wer sonst immer davon redet, der liest auch jetzt ein schlechtes oder buchstabiert bei Insta.

Die hektische Oberflächlichkeit eines „normalen“ Lebens in der liberalen Moderne – ein Gedanke von Armin Nassehi – ist anstrengend und löst romantische Sehnsüchte nach „tiefer“ und „entschleunigter“ aus, aber sie ist auch eine Grundbedingung unseres Mittelschichtlebens (ich rede hier nicht von der alleinerziehenden Mutter auf 48 Quadratmetern).

Wir kriegen zwar ständig „die Krise“, aber auf gehobenem Niveau. Beherrschbar und sogar kultivierbar. Schlimme Zeiten, aber vierzehntes Monatsgehalt. Es gehört zu diesem durchaus pragmatischen Politik- und Lebensmodus, die großen, miteinander verknüpften und eskalierenden Krisen weitgehend zu ignorieren oder auf eindimensionale Ereignisse zu verkürzen, das beste Beispiel dafür ist „Flüchtlingskrise von 2015 in Deutschland“.

Und jetzt ist also durch Corona alles anders, der Neoliberalismus erledigt, der Staat kommt wieder groß raus, Führung ist total angesagt, die CDU ist wieder wer, die CSU sowieso – und sogar Olaf Scholz ist rehabilitiert, obwohl er das macht, was er immer macht, nämlich ordentliche Arbeit?

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Ich sage mal leicht elitär: Nicht alles, aber manches von dem, was gerade so geredet wird, ist der Versuch, der Schwierigkeit des Denkens auszuweichen und den Leerraum ganz schnell zuzuschütten, der sich jetzt auftut. Kann man machen, muss man vielleicht sogar, wenn man sonst durchdreht.

Wer es sich leisten kann und will, der könnte es aber andersherum machen und den Leerraum erst mal ausdehnen, indem er ein paar der eigenen pragmatischen oder romantischen Vorstellungen aufspürt, wie alles besser wäre. Ich, zum Beispiel, müsste hier ja eigentlich durchdeklinieren, wie zwingend aus der Coronakrise die Notwendigkeit von globaler Klimapolitik folgt – und Winfried Kretschmann als Bundeskanzler. Das wäre zwar immer noch logischer als Markus Söder: Mach ich aber trotzdem nicht.

Ich weiß nicht, wie schlimm Corona wirklich ist. Ich hab auch schon Klopapier gehamstert! Ich weiß nicht, was sich in meinem Kopf und Leben noch ändern wird, bis 2021 gewählt wird.

Mündigkeit besteht jetzt darin, sich erst mal über die Grundlagen der eigenen Existenz klar zu werden. Die anderen sind potenziell eine Gefahr, aber Du bist es auch für sie. Man kann das nicht allein und auch nicht mit einer „Zivilgesellschaft“ der Guten hinkriegen. Sondern nur als Teil eines funktionierenden Staatenwesens. Durch die Steuerkraft von Politik, durch Infrastrukturen.

Diese Woche sprach ich mit einem Einwanderer, er fragte, in welches Land ich einwandern würde, wenn ich mir eines aussuchen könnte. In diesem Moment sah ich den Bundeswehr-Airbus vor mir, der italienische Coronakranke nach Köln eingeflogen hatte, und da wurde mir klar: Ich würde in die Bundesrepublik Deutschland einwandern. Aus dieser Erkenntnis folgt die Einsicht, ein privilegierter Mensch zu sein und deshalb eine staatsbürgerliche Verpflichtung zu haben, die weit über Dauernörgeln hinausgeht.

Das ist jetzt bestimmt kein Durchbruch des Denkens, aber es gibt neuen Halt und Struktur.

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Peter Unfried
Chefreporter der taz
Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried
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23 Kommentare

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  • Ich sach's mal so: Wer früher schon immer Schwierigkeiten mit dem Denken hatte, dem wird das Denken jetzt auch nicht gerade leichter fallen.

    • @Rainer B.:

      Schön formuliert.



      Für ganz schwierige Fälle gibt es aber noch betreutes Denken.

      • @patty:

        Scheint ein vielverspechendes Zukunftsprojekt zu werden (;-))

        • 7G
          76530 (Profil gelöscht)
          @Rainer B.:

          Wohl wahr.

          Doch nach welchem Personenschlüssel? 1:10? Einer denkt, 10 betreuen?

          Das Ü-Wort schenke ich mir mal.

          • @76530 (Profil gelöscht):

            Das wird wohl eine „dynamische Situation“ werden - Ende offen (:-))

  • Gut angefangen und argumentiert. Fehlt aber jetzt die zweite Hälfte wie mir scheint: Nämlich die staatsbürgerliceh Pflicht abseits des Nörgelns zu beschreiben, zu benennen, zu fordern? Oder bin ich jetzt ein "failed Leser"?

    • @Tom Farmer:

      Die Pflichten kennen wir doch. Ökonomisch kommt vermutlich hinzu, den Gürtel etwas enger zu schnallen.

      • @Monika Frommel :

        Gegenmittel aus der Apotheke: Für Vermögens- und Erbschaftsteuer eintreten.

      • 7G
        76530 (Profil gelöscht)
        @Monika Frommel :

        Was das Enger-Schnallen des Gürtels angeht: sicherlich nicht für alle, sondern selektiv.

        Deutsche Tradition: denen nehmen, die eh nichts haben. Söder fabuliert bereits von Steuersenkungen für die Zeit danach. Lindner wird auch nicht mehr lange schweigen. Am Besten progressiv gestaffelt: die hohen Einkommen bekommen die größten Boni.

        Apropos Geld: Wo kommt das ganze Geld her? Armutsrente und HartzIV reduzieren?

        • @76530 (Profil gelöscht):

          "Wo kommt das ganze Geld her? Armutsrente und HartzIV reduzieren?"

          Das hat zwar Tradition, soviel dürfte da aber nicht mehr zu holen sein.

          Ich tippe eher mal auf eine Aussetzung der Soli Abschaffung, den hätte ich teilweise weiterzahlen müssen ;-), eine Anhebung der Abgeltungssteuer von aktuell 27,82% auf einen Wert wie in der Schweiz mit 35% + Soli + Kultusabgabe, eine Anhebung der Erbschaftssteuer und da fällt mir noch einiges mehr ein, die Frage wird ja auch sein, wie hoch ist der Finanzbedarf überhaupt.

          Vielleicht schafft der Bund es auch mal, sich nicht jedes Jahr bei der Umsatzsteuer bescheißen zu lassen...

          • 7G
            76530 (Profil gelöscht)
            @Sven Günther:

            Auf geht's.

            Gute Berater braucht das Land.

            • @76530 (Profil gelöscht):

              Auch wenn das vielleicht etwas herzlos klingt, Corona hat unsere Auftragsbücher derart vollgeschwemmt, ich werde auf unabsehbare Zeit genug Arbeitsbespaßung haben, darum ist auch jetzt um 6 Uhr Arbeitszeitstart im Homeoffice.

              • 7G
                76530 (Profil gelöscht)
                @Sven Günther:

                In meinen Ohren klingt es nicht herzlos. Ich gönne Ihnen das. Nur schwanke ich, ob ich Sie eher bedauern oder beneiden soll.

                Lösen wir es so auf: der Hedonist in mir sagt "Armer schwarzer Kater". Der Preuße: "Sehr gut, Sven Günter, jetzt ist große Bewährungsprobe angesagt."

                Ich selbst habe solche Phasen mit Inbrunst gelebt. Und darüber gestaunt, zu was ich - wenigstens punktuell - fähig war. ;-)

                • @76530 (Profil gelöscht):

                  Das kann ich nur bestätigen, ich backe Geburtstagskuchen für Leute in Wetzlar, bring Blumen nach Pfungstadt, natürlich immer nur vor die Tür, man muss die Moral im Team hochhalten.

                  Aber meine Fresse, ich bin mit der Frau die ich Liebe, Alkohol, frischen Lebensmittel und Geld für jeden Boten in der Wohnung eingesperrt, was kann ich mir mehr wünschen?

                  • 7G
                    76530 (Profil gelöscht)
                    @Sven Günther:

                    Klingt in meinem Ohren sehr gut.

                    Eine "Isolation" unter solchen Rahmenbedingungen könnte auch ich sicherlich genießen. Je nach Zielgruppe sieht dies jedoch anders aus. Im Moment ist nicht gerade DIE Zeit für Stubenhocker - wo doch fast jeder drinnen hockt oder hocken sollte.

                    Das Maß zwischen Ver-Bindung und Alleinesein macht es.

                    Viel Kraft beim Moral-Hochhalten und dabei auf die Arm-, Nacken- und Schultermuckis achten. Und bei der nächsten Wetzlar-Fahrt in Hüttenberg etwas abstellen. :-)

  • „...und sogar Olaf Scholz ist rehabilitiert, obwohl er das macht, was er immer macht, nämlich ordentliche Arbeit?“

    Unter Weltrevolution machen es die Progressiven nicht. Egal wie viele sterben, oder wie vielen es besser geht, solange nicht alle leben und es allen besser geht, ist alles verloren. Helmut Schmidt oder Olaf Scholz sind bääh, weil sie ihren Karrieren Mehrheiten organisieren konnten? C‘mon?

    Kev*in wird eher in einem Kabinett Scholz - rot gelb grün - Gestaltungsmöglichkeiten erlangen als der Nörgler von der Seitenlinie.

    • 7G
      76530 (Profil gelöscht)
      @Citoyen Kane:

      Es soll Menschen geben, für die ist - gerade in diesem Land - die Frage von Mehrheiten nicht die ultima ratio. Siehe: 1933.

      Ein früherer Kanzler meinte einmal, es sei entscheidend, was hinten rauskommt. Wer nach Personen urteilt, kommt leicht in die Bredouille: er vergisst die Inhalte. Wie Sie.

      Nachbessern könnte helfen.

  • 7G
    76530 (Profil gelöscht)

    Lieber Herr Unfried,

    da empfehle ich die alte unbewährte Arbeitsteilung:

    Die 'staatsbürgerliche Verpflichtung' überlasse ich gerne Ihnen. Das können Sie viel besser. Ich für meinen Teil übernehme dann lieber das 'Dauernörgeln'. Auch wenn sich mir die jeweiligen Inhalte der Labels im Text nicht erschlossen haben.

    Aber ich vermute, darum geht es Ihnen auch nicht.

  • Na ja- ganz ehrlich: so Lange nicht JEDER EU Bürger getestet wurde, kann keiner eine so weitreichende Beschränkung rational begründen- insbesondere hinsichtlich der Aufhebung. Alles ist Luftgewurstel und nicht einmal eine "Schätzung aufgrund" ist statistisch vergleichbar; halte wir fest: Am hamburger Hafen werden minütlich Frachter auch auis China entladen- von ungetestetem, zum Teil fremden, Personal.

  • Was für eine schöne Erkenntnis. Als nächsten Schritt müsste der Autor dann doch bitte eine Dankesschrift an Herrn Gerhard Schröder und die SPD wegen der Agenda 2010 veröffntlichen. Diese ist eine wesentliche Basis für die Wirtschaftskraft und die Widerstandsfähigkeit in unserem Lande. Derzeit sehen wir tagtäglich, wie es unseren Nachbarn und Partnern ergeht, die es nicht geschafft haben, solche notwendigen Reformen umzusetzen.

    Bedauerlicherweise ist Herr Schröder in seiner eigenen Partei gerade wegen dieser Leistung zur persona non grata geworden und wird womöglich mit einem abolitio nominis (neulateinisch: damnatio memoriae) belegt werden.

    In diesem Sinne also, danke Herr Schröder.

  • Ich finde den Artikel total gut.

    • 7G
      76530 (Profil gelöscht)
      @rero:

      Meine Erfahrung: der Artikel war einfach zu finden. 'Gut' wäre eine qualitative Aussage.