Was für ein beschissenes Jahr: Am besten, Sie ertränken den Dry January in trockenem Sekt
Jeder Fünfte will eine rechtsextreme Partei wählen, der mächtigste Mann der Welt macht Jagd auf Minderheiten. Wie soll man diesen Horror verkraften?
W enn ich Leser dieser Kolumne wäre und nicht Autor, würde ich an dieser Stelle aufhören. Legen Sie mich weg, schauen Sie aus dem Fenster, schauen Sie Ihre Liebsten an, vielleicht sitzen die gerade neben Ihnen. Ich schreibe hier weiter, bis die Spalte voll ist, so wie alle nun schon drei Wochen lang einfach immer weitermachen in diesem beschissenen Jahr, jeden Tag.
Meine letzte Kolumne wagte einen optimistischen Jahresausblick, und eine Kollegin sagte, ich solle doch wieder was Lustiges schreiben, aber lustig ist gerade aus, wird hoffentlich bald wieder geliefert. In Deutschland will laut Umfragen jeder Fünfte eine rechtsextreme Partei wählen. Der mächtigste Mann der Welt macht Jagd auf Minderheiten und begnadigt Menschen, die den demokratischen Staat kaputt machen wollen, dem er vorsteht. In Deutschland ersticht ein psychisch kranker Geflüchteter ein Kind im Park.
Wie soll man diesen Horror verkraften? In der Redaktion sprechen KollegInnen darüber, weniger Nachrichten konsumieren zu wollen – außer natürlich tolle Texte in der taz. Guter Journalismus ist immer noch die beste Medizin und macht die Welt etwas erträglicher. Was noch? Mut hilft. Wie die Bischöfin von Washington ihn gezeigt hat, die Trump in ihrem Gottesdienst ins Gewissen redete. Und Zusammentun hilft. In ganz Deutschland wird wieder für eine offene Gesellschaft demonstriert. An diesem Wochenende finden überall Demos statt, auf taz.de steht, wo und wann.
Ansonsten kann ich empfehlen, alle guten Vorsätze über Bord zu werfen, den Dry January in trockenem Sekt zu ertränken, mit Freunden zu tanzen und Schokolade zu essen. In der Redaktion ist keine Tafel vor mir sicher.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Die Linksliberalen sind traurig und hilflos
Das Einzige, was sich wirklich zu fasten lohnt, ist das Internet. Seit auch Mark Zuckerberg offiziell zu den Bösen gehört, kann man sich dabei sogar moralisch überlegen fühlen. Mir reicht die Weltlage, ich muss mir nicht auch noch schöne Fotos von erfolgreichen KollegInnen anschauen, wenn ich schlechte Laune haben will.
Da ich das Internet weitgehend faste, besteht die einzige Politik, die ich ungefiltert in kleinen Happen zu mir nehmen muss, aus den Wahlplakaten am Straßenrand auf meinem Weg zur Arbeit. Hier ist Augenverschließen vor der Wirklichkeit keine Option, sonst Fahrradunfall.
Kein Plakat dieses Wahlkampfs fasst dabei die Traurigkeit und strategische Hilflosigkeit der Linksliberalen so gut zusammen wie das von Bundeskanzler Olaf Scholz, der vor einer wehenden Deutschlandfahne steht und uns stumm zuruft: „Mehr für dich. Besser für Deutschland.“ Präziser kann man den nationalen Egoismus, der die Sozialdemokratie nach drei Jahren Ampel und Zeitenwende ersetzt hat, nicht zusammenfassen.
Empfohlener externer Inhalt
Im letzten Wahlkampf, so schien es, hatte Olaf Scholz noch seine Kritische Theorie der Anerkennung gelesen. „Respekt“ war das Stichwort, das ihn ins Kanzleramt trug. Heute bekommen wir von der SPD nur eine billige, patriotische Kopie des liberalen Mantras: Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht. Man fragt sich, ob Lars Klingbeil, der ja als Mastermind des SPD-Wahlsiegs von 2021 gilt, eine extraschlechte Kampagne in Auftrag gegeben hat, um Olaf Scholz endlich los zu sein.
Auch Robert Habeck guckt gequält
Das andere Plakat, das in diesem dunklen Januar noch eine Weile hängen bleibt, wenn man längst daran vorbeigefahren ist, kommt von den Grünen. „Zuversicht“ steht darauf. Dazu schaut einen Robert Habeck an. Er guckt nicht besonders zuversichtlich. Und dieses leicht Gequälte in seinem Blick, das trifft mich irgendwie durch die dicke Winterjacke. Mit Habecks Pathos kann ich nichts anfangen, aber mit jemandem, der gequält lächeln muss, wenn alles beschissen ist, schon.
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