Wandel in der Willkommenskultur: Kraft für die großen Aufgaben unserer Zeit
2015 war Deutschland offen, 2022 schienen plötzlich nur noch Ukrainer:innen willkommen. Was lernen wir als Gesellschaft daraus?

A ls ich 2015 in der Erstaufnahmeeinrichtung in der Hamburger Schnackenburgallee ankam, war ich zunächst enttäuscht. Nach der langen Flucht aus Syrien über die Türkei hatte ich andere Vorstellungen von Deutschland. Doch in den folgenden Monaten erfasste eine beispiellose Welle der Solidarität das Land.
In der Unterkunft im Stadtteil Schnelsen, wo schätzungsweise über 2.000 Menschen aus verschiedenen Ländern lebten, sah ich täglich, wie Ehrenamtliche kamen – um mit Kindern zu spielen, Deutschunterricht zu geben oder einfach da zu sein.
Diese persönlichen Begegnungen führten zu nachhaltigen Verbindungen. Über Facebook-Gruppen wie „Refugee Help“ entstanden nicht nur virtuelle, sondern auch reale Freundschaften. Programme wie Tandem-Partnerschaften brachten mich mit Menschen wie Babette zusammen, einer Journalistin, die später das Medienprojekt Kohero mitgründete.

Studien belegen, dass damals über sechs Millionen Menschen ehrenamtlich aktiv waren. Diese Bewegung durchdrang alle Gesellschaftsschichten und Regionen Deutschlands. Über 6.000 syrische Ärzte arbeiten heute in deutschen Krankenhäusern, 2.000 Apotheker haben ihren Platz im deutschen Gesundheitssystem gefunden, und Tausende haben Ausbildungen absolviert oder Unternehmen gegründet. Menschen mit Fluchtgeschichte sind heute in allen Bereichen der Gesellschaft präsent.

In der Kolumne ankommen schreiben im zweiwöchentlichen Rhythmus Journalist:innen, die 2015 nach Deutschland geflüchtet sind, zum 10. Jahrestag des „Summer of Migration“. Begleitend zu den Kolumnen gibt es außerdem die Podcastreihe „Geschafft?! Zehn Jahre nach der Ankunft“ zu hören, die im Rahmen der Freie Rede Podcasts der taz Panter Stiftung erscheint.
Die selektive Willkommenskultur von 2022
Doch die Stimmung in Deutschland hat sich gewandelt. Spätestens 2022, als ukrainische Geflüchtete aufgenommen wurden, zeigte sich eine problematische Doppelmoral: Die Willkommenskultur schien plötzlich selektiv zu werden – verfügbar für europäische, weiße Geflüchtete, aber nicht mehr für Menschen aus anderen Regionen.
Diese Entwicklung offenbarte die Grenzen einer Willkommenskultur, die nicht auf universellen humanitären Prinzipien, sondern auf kultureller Nähe und rassistischen Kategorien basierte.
Hat in Syrien als Journalist gearbeitet und floh 2015 nach Deutschland. Heute ist er Kolumnist der taz Nord, sowie Chefredakteur und Herausgeber von „kohero – Das Magazin für interkulturellen Zusammenhalt“, dessen 13. Ausgabe zum Thema Willkommenskultur gerade erschien.
Gleichzeitig veränderte sich der öffentliche Diskurs dramatisch. Themen wie „Grenzen schließen“, „Abschiebungen“ und „kommunale Belastung“ dominierten die Medienlandschaft. Erfolgsgeschichten der Integration verschwanden aus der öffentlichen Wahrnehmung, Probleme und Herausforderungen wurden überbetont.
Doch bei einer Vereinsfeier in Hamburg erlebte ich kürzlich etwas Überraschendes: Die Atmosphäre von 2015 war noch da. Junge Menschen engagierten sich weiterhin, Ehrenamtliche arbeiteten nach wie vor mit Geflüchteten, und neue Initiativen entstanden ständig. Ich verstand: Es gibt eine große Diskrepanz zwischen der medialen Darstellung und der gesellschaftlichen Realität.
Die fehlende politische Vision
Während die öffentliche Diskussion von Abschottung und Ablehnung geprägt ist, existiert parallel dazu eine lebendige Zivilgesellschaft, die weiterhin die Werte der Willkommenskultur lebt. Viele der 2015 gegründeten Initiativen sind noch aktiv, neue kommen hinzu, und auch ehemalige Geflüchtete engagieren sich nun selbst für Neuankommende.
Der Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung hat verschiedene Ursachen. Die Corona-Pandemie, die Inflation, steigende Energiepreise nach dem Ukraine-Krieg und das Vertrauen in politische Institutionen haben zu einer allgemeinen Verunsicherung geführt.
Ein weiteres Problem ist das Fehlen einer einigenden politischen Vision. Während Merkels „Wir schaffen das“ 2015 Millionen mobilisierte, fehlt heute eine vergleichbare Vision, die die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen vereinen könnte. Die deutsche Gesellschaft ist fragmentiert – zwischen Ost und West, zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, zwischen verschiedenen Generationen und zwischen Online- und Offline-Welten.
Der öffentliche Diskurs wird zunehmend von extremen Positionen dominiert, während die differenzierten Stimmen der Mitte überhört werden. Migration wird von Politikern als Antwort auf alle gesellschaftlichen Probleme instrumentalisiert, anstatt konkrete Lösungen für komplexe Herausforderungen zu entwickeln.
Falsches Bild der Realität
Gleichzeitig schaffen es die positiven Geschichten der Integration und des gesellschaftlichen Zusammenhalts kaum in die Schlagzeilen. Diese Verzerrung führt zu einem falschen Bild der gesellschaftlichen Realität und verstärkt Ängste und Vorurteile.
Gemessen an den konkreten Erfolgen – der beruflichen Integration, der gesellschaftlichen Teilhabe und dem kulturellen Austausch – wurde seit 2015 vieles erreicht. Doch die eigentliche Herausforderung liegt heute woanders: Wie kann eine diverse, pluralistische Gesellschaft zusammengehalten werden? Wie können Ängste abgebaut und Vertrauen aufgebaut werden? Wie kann verhindert werden, dass gesellschaftliche Spaltungen zu tiefen Rissen werden?
Die Willkommenskultur von 2015 hat gezeigt, was möglich ist, wenn eine Gesellschaft bereit ist, Verantwortung zu übernehmen und gemeinsam an einer Vision zu arbeiten. Diese Ressource gilt es zu aktivieren – nicht nur für die Integration von Geflüchteten, sondern für die großen Aufgaben unserer Zeit: den Schutz der Demokratie, den Kampf gegen den Klimawandel, die Bewältigung sozialer Ungleichheit und die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts.
„Wir schaffen das“ war 2015 eine Selbstvergewisserung einer Gesellschaft über ihre eigenen Fähigkeiten. Diese Kraft ist nicht verschwunden, sie muss nur wieder aktiviert werden. Denn am Ende zeigt die Geschichte der Willkommenskultur eines: Wenn Menschen bereit sind, füreinander einzustehen und gemeinsam an einer besseren Zukunft zu arbeiten, dann schaffen wir das wirklich – in der Migration, im Klimaschutz, in der Demokratie und in allen anderen Bereichen, wo Zusammenhalt und Solidarität gefragt sind.
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