Waldorfpädagogik und Maskenpflicht: Das Ringen um den Einzelnen
Freie Waldorfschulen hatten beim Umgang mit Corona oft Probleme mit ihrer Klientel und Lehrerschaft. Zwei Ulmer Schulen gehen unterschiedliche Wege.
E s war im Frühjahr 2020, die Welt wusste noch nicht viel über das Coronavirus. Wilfried K. glaubte genug zu wissen. Am 27. Mai tritt der Lehrer aus Ulm im baden-württembergischen Biberach an ein Rednerpult. Mit dem „Kunstgriff eines Virus“ sei ein „die Menschen bestimmender, bedrohlicher Raum geschaffen“ worden, ruft er den versammelten Gegnern der Pandemiepolitk zu. Mittels einer „gewaltigen Zensur, Hetz- und Diffamierungskampagne der Regierung und der Hofmedien (…)“ solle „jegliches eigenständige Denken“ ausgemerzt werden. Die Bundesregierung müsse deshalb vor Gericht gestellt werden – „national und international“.
K. ist Lehrer in Ulm. Wohl nirgendwo in Deutschland ist die Waldorfschulen-Dichte höher als im Süden der schwäbischen Stadt: Die Freie Waldorfschule an der Römerstraße und die Waldorfschule am Illerblick liegen keine 300 Meter voneinander entfernt. K. unterrichtete damals an beiden das Fach Theater in der Oberstufe.
An keiner Schule in Deutschland ging die Debatte um Sinnhaftigkeit der Coronamaßnahmen vorbei. In manchen der bundesweit 254 Waldorfschulen mit ihren rund 90.000 Schüler:innen aber fiel sie schärfer aus. Es gab Berichte über ungewöhnlich viele Covid-Ausbrüche, wie etwa in Müllheim, über falsche Maskenatteste wie in Freiburg, über Drohungen gegen die Schulleitung wegen der Maskenpflicht wie in Göppingen, eskalierte Coronaproteste wie in Rottweil, über Testverweigerung wie in Prien. Und über Querdenker-Lehrer – wie Wilfried K. aus Ulm.
Der Bund der Freien Waldorfschulen versuchte schon im Oktober 2020, all dem entgegenzutreten: „Wir distanzieren uns ausdrücklich von simplifizierenden, mystifizierenden, diskriminierenden sowie demokratie- und staatsfeindlichen Aussagen“, schrieb der Verband. Er verurteile, wenn diese unter Berufung auf die Waldorfpädagogik oder die Anthroposophie verbreitet werden.
Doch wie kommt es, dass sich die Coronakonflikte an Waldorfschulen oft stärker zugespitzt haben als anderswo? Der Illerblick-Schulleiter Roland Zeller aus Ulm drückt es so aus: An Waldorfschulen sei „im Gegensatz zu staatlichen Schulen eine wesentlich freiere und breitere Grundhaltung zu vielen Themen gegeben.“ Und manche Eltern, die eben das anziehe, „möchten auch ein anderes Gesundheitssystem für sich auswählen“.
Gerlinde Koch, vorstand der Waldorfschule Römerstraße
Doch das sind nicht alle. Andere Waldorf-Eltern ziehen Biontech Bachblüten vor und können auch sonst nicht viel mit Esoterik anfangen. Vor Corona fiel das oft nicht weiter ins Gewicht. Doch die Pandemie ließ die teils weit auseinander fallenden Weltsichten kollidieren. Der Fall des Lehrers K. ist dabei exemplarisch für die Konfliktlage. Er zeigt aber auch, wie unterschiedliche Wege die Schulen in diesem Konflikt gehen können.
Klar positioniert
Die Waldorfschule Römerstraße macht einen Schnitt: Sie führt einen Rechtsstreit, trennt sich von K., was den Abgang weiterer Lehrer nach sich zieht. Einige enttäuschte Eltern melden ihre Kinder ab. „Wir haben uns in der Coronafrage glasklar positioniert“, sagt Vorständin Gerlinde Koch heute. „Viele Diskussionen, die andere Schulen heute haben, haben wir nicht mehr.“
Bei der Waldorfschule am Illerblick ist K. hingegen bis heute weiter beschäftigt. „Die Gemeinschaft ringt um jeden Einzelnen und das ist etwas Schönes“, sagt der Schulleiter Zeller heute. K. habe zu Corona „seine Position und steht dazu. Und das darf auch so sein.“
Roland Zeller, Schulleiter der Walfdorfschule am Illerblick
Die „eigene Position“ tut K. nicht nur auf Demos wie in Biberach und auf anderen Querdenker-Veranstaltungen kund. Er hatte auch über den Schulverteiler der Römerstraße „Aufklärungsvideos“ des Querdenker-Arztes Wolfgang Wodarg geschickt – und kassiert dafür eine Abmahnung. Wenige Wochen später taucht ein von K. verfasstes Flugblatt auf. Darin rückt er die am 24. März 2020 verhängten Coronamaßnahmen in die Nähe von Hitlers Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933. Maskentragen nennt er darin „Freiheitsberaubung“, Menschen würden „sklavisch geknechtet“. K. schließt mit einem Zitat der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“: „Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique regieren zu lassen.“ Konsequenterweise weigert K. sich, eine Maske zu tragen – auch in der Schule.
„Für mich absolut indiskutabel“, sagt Gerlinde Koch, damals im Elternrat, heute im Vorstand der Waldorfschule.
Doch was tun?
Das ockergelbe Schulgebäude der Römerstraße liegt am Fuß des Unteren Kuhbergs, am Rand eines alten Forts des Deutschen Bundes. Geleitet wird sie von Hartmut Semar. An den Tag, an dem K.s Flugblatt auftauchte, kann er sich noch gut erinnern. „Ich hab die Nachricht an der Kasse gelesen und bin fast umgefallen“, sagt er. Er sei sofort an die Schule gegangen und habe nachgeschaut, ob das Flugblatt auch dort verteilt wurde. K. hatte das Pamphlet zwar nur außerhalb verteilt, unter anderem aber an Geschwisterkinder der Schule. „Da fing die Ebene an, wo wir sehr stark im Gespräch waren“, sagt Semar. Er habe vorher geahnt, wie K. Corona sehe. „Aber wir hätten nie gedacht, dass es so auf die Spitze läuft.“
Von K. selbst ist nicht zu erfahren, wie er heute über die Pandemie denkt. Seine Frau wehrt Fragen am Telefon ab. Man wolle nichts dazu sagen, sagt sie. Auch sie war, wie ihr Mann, an der Waldorfschule Römerstraße beschäftigt und zog ihren Ruhestand im vergangenen Sommer vor.
K. legt Semar ein Attest vor, laut dem er keine Maske tragen könne. Die Schule verlangt in solchen Fällen das Tragen eines Gesichts-Visiers. K. lehnt auch das ab. „Es macht einen Unterschied, ob er sagt, ‚ich kann das aus medizinischen Gründen nicht tragen, trage aber ansonsten die Maßnahmen mit‘,“ sagt die Eltern-Vorständin Gerlinde Koch. „Das ist etwas anderes, als wenn er als Lehrer auf Demos solche Flugblätter verteilt.“
Das Schulamt hatte zu jener Zeit längst beschlossen, dass jene, die ein Maskenattest vorlegen, stattdessen ein Gesichtsvisier tragen müssen. Doch K. kommt ohne Visier in die Schule. „Im Dezember haben wir gekündigt,“ sagt Semar. K.s öffentliche Auftritte seien dabei nicht entscheidend gewesen. „Wichtig ist, was im Inneren passiert. Letztendlich mussten wir den Schnitt machen, weil er die Hygienemaßnahmen nicht mitgemacht hat. Das geht nicht.“
K. spricht indes von „Mobbing“ – und klagt gegen die Kündigung. Vertreten wird er von Markus Haintz, einem Ulmer Rechtsanwalt und führenden Kopf der baden-württembergischen Querdenker-Szene, der gern berichtet, dass er „politische“ Mandate von Corona-Gegnern gratis übernimmt.
Im März 2021 steht ein Gütetermin am Arbeitsgericht an. K. lehnt eine Abfindung von 27.500 Euro plus unangetasteter Betriebsrente zunächst ab. „Wir hätten den Prozess durchziehen können, vielleicht hätten wir die Abfindung am Ende nicht zahlen müssen“, sagt der Schulleiter Semar. Aber das sei nicht im Sinne der Schule gewesen. „Wir sind ein Organismus von 600 Elternhäusern, mit den Kindern sind es 2.000 Menschen. Man braucht Ruhe. Wir wollten so schnell wie möglich aus der Nummer raus.“ Ein sich womöglich über zwei Jahre hinziehender Prozess wäre das Gegenteil davon. Und: „Der Kollege war 30 Jahre hier, der hat echt gute Sachen gemacht. Wir sehen auch die Verdienste von ihm.“ Im April 2021 stimmt K. schließlich dem Vergleich zu.
Jede:r Fünfte ging
Ruhe eingekehrt war damit nicht. Denn es gab drei weitere Lehrer:innen, die versuchten, sich der Maskenpflicht zu entziehen, wenn auch nicht so konsequent wie K. Und einige kündigten. „Sie sind dann mal weg: Zehn Lehrer verlassen die Waldorfschule“, schrieb die Südwestpresse im Juli 2021.
Freilich: Nicht alle gingen wegen der Corona-Maßnahmen. „Das war teils normale Fluktuation“, sagt der Schulleiter Semar. Eine Kollegin sei „dezidiert wegen des Umgangs mit Maßnahmen und mit Herrn K. gegangen, sie wollte das nicht mittragen.“ Andere hingegen hatten eine Stelle an einer staatlichen Schule angenommen, waren umgezogen oder früher in Rente gegangen. „Das gibt es jedes Jahr,“ sagt Semar. „Das hatte vielleicht damit zu tun, dass die unsere Coronalinie nicht gut fanden, es wurde aber nicht so formuliert.“ So oder so: Jede:r fünfte Lehrer:in verließ die Schule. „Wir legen keinen Wert darauf, das jedes Jahr machen zu müssen“, sagt Semar, der alle Mühe hatte, an Ausbildungsinstituten Ersatz zu beschaffen.
Doch es sind nicht nur Lehrer wie K., sondern auch manche Eltern, deren Ansichten zur Coronapandemie die Schule vor Probleme stellten. Drei Elternpaare der Römerstraße weigern sich, ihre Kinder in den Unterricht zu schicken, wenn diese dort eine Maske tragen sollen. Sie wollen weder ein ärztliches Attest bringen noch dass ihre Kinder Gesichtsvisier tragen, sagt Semar damals der Lokalzeitung Südwestpresse. Er habe versucht, mit ihnen zu reden. „Aber nur ein Elternpaar war bereit dazu.“
Im Oktober 2020 meldet sich das Ordnungsamt bei Semar: Eltern haben eine „Mahnwache gegen die Maskenpflicht“ angekündigt – vor der Schule. Die zieht daraufhin den Beginn der Herbstferien um einige Stunden vor – die Schüler sollen mit der Aktion möglichst nicht konfrontiert werden.
Einer der Protestierenden ist Martin F.. Er betreibt eine Lackiererei im Ulmer Umland. Für die Aktion hat er sich ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift „Maskenmahnwache“ angezogen. Er protestiere bereits „seit mehreren Wochen“, sagt der Vater von vier Söhnen damals einer Reporterin der Südwestpresse. Meist allein. Seine Kinder nähmen derzeit nicht am Unterricht teil, weil sie die Masken nicht tragen. Auch Plastikschilder als Alternative lehnt Färber ab: „Das ist diskriminierend für die Kinder, denn es zeichnet sie als Maskengegner aus.“ Er und die anderen Eltern hätten „Angst um die Gesundheit ihrer Kinder“, fürchten „neurologische und kardiologische Schäden bis zum Tod“ durch das Maskentragen.
Heute will K. mit der Sache nicht mehr in Verbindung gebracht werden. „Das war eine spontane Aktion, wir wollten unsere Kinder schützen“, sagt seine Frau der taz am Telefon. Mit der Schule habe die Familie nichts mehr zu tun. „Auf keinen Fall wollen wir unseren Namen in der Zeitung lesen.“
Groß war die Gruppe der protestierenden Eltern nicht. „Vier oder fünf Familien“, sagt Schulleiter Semar. Am Ende sei klar gewesen, dass „nicht alle Eltern unsern Weg mitgehen“, sagt Semar. Es habe drei oder vier Abmeldungen gegeben, die mit der Coronapolitik der Schule begründet worden seien. Er habe mit mehr gerechnet. Tatsächlich seien aber 30 neue Anmeldungen hinzugekommen. „Etliche haben gesagt, wir kommen zu Euch, weil ihr da so klar wart.“
Angelika Ott ist seit Jahrzehnten Förderlehrerin an der Römerstraße. Dass sich die Coronadebatte derartig zuspitzen würde, hat sie so nicht kommen sehen. „Im ersten Jahr war das ja auch alles neu.“ Das manche ein Attest vorlegen würden, „ist ja auch klar.“ Letztlich habe aber die Mehrheit an der Schule die Maßnahmen mitgetragen.
Entschieden hatte sich dies kurz vor den Sommerferien 2021, bei einer Mitgliederversammlung der Schule, am 13. Juli. Es war auch eine Abstimmung über den Kurs der Schulleitung pro Corona-Maßnahmen. Die Elternvertreterin Koch wurde als neuer Vorstand gewählt. „Es gab auch andere Kandidaten, aber man hat gemerkt, dass der Rückhalt für den Kurs die breite Mehrheit ist“, sagt die Lehrerin Ott. Bis dahin sei sie sich nicht so sicher gewesen. „Doch sonst wäre die Kollegin nicht wiedergewählt worden.“
Die Waldorfschule am Illerblick liegt nur wenige Meter den Berg hinauf, auf einem ummauerten Gelände voller Backsteingebäude. Bis 1990 waren darin Kasernen der Bundeswehr. Damals war die Nachfrage nach Waldorfplätzen unter Ulmer Eltern groß, auf dem Gelände an der Römerstraße aber kein Platz mehr. Eine Gruppe von Lehrer:innen gründete die neue Schule in einem Teil der verlassenen Kasernen. An der Römerstraße sah man das kritisch. „Es war immer die Frage: Ist Ulm groß genug für zwei Waldorfschulen?“ sagt Dietmar Schlecht-Nimrich, der seit der Schulgründung 1989 am Illerblick als Lehrer arbeitet und heute im Vorstand der Schule ist. „Eine zeitlang ging es ganz gut, dann mal wieder schwierig.“
Gut arrangiert
Heute sei in Ulm sogar noch Platz für zwei weitere Freie Schulen, sagt Schlecht-Nimrich. Auch in Zukunft wird es wohl genug Schüler:innen für beide geben: Das Bahnprojekt Stuttgart 21 verkürzt die Fahrzeit in die Landeshauptstadt auf 20 Minuten, schon jetzt sind Grundstückspreise und Mieten in Ulm deutlich gestiegen. Die Stadt erwartet die Ansiedlung vieler neuer Familien. „Man spürt, dass da was kommt“, sagt Roland Zeller, der Illerblick-Schulleiter, ein Verwaltungswirt. „Das wird auch ein Wandel. Die neuen Eltern, die wollen ja auch was.“ Mehr Digitalisierung zum Beispiel. Die Frage sei allerdings, inwieweit eine Waldorfschule „das einbringen will, muss und kann.“
Die beiden Schulen haben eine etwas unterschiedliche Zielgruppe: Am Illerblick ist man konservativer, was die Steinersche Lehre angeht. So oder so: „Mittlerweile sind wir ganz gut arrangiert“, sagt Schlecht-Nimrich über das Verhältnis der Nachbarn. „Es gibt punktuell ganz gute Zusammenarbeit. Wir benutzen deren Schmiede und die kommen zu uns zum Kupfertreiben.“
Sein Chef Zeller kam erst während der Pandemie an die Schule, ist aber schon seit seiner Kindheit begeisterter Antroposoph. „Mein Vetter hat vor über 40 Jahren den elterlichen Bauernhof in einen Demeter-Hof umgewandelt“, sagt er. „Die Leute im Ort haben gesagt, 'der bringt den Hof ‚runter‘, aber es ist einer der besten Höfe im Hohenlohischen geworden.“ Schon als Jugendlicher sei er, Zeller, „fasziniert von der Waldorfbewegung“ gewesen. „Was ist da mit dem Steiner, das wollte ich wissen, ich habe Bücher gekauft.“
Für Zeller ist es vor allem die Gemeinschaft, die die Waldorfschulen ausmacht. Früher hätten sich die Gründer dieser Schule „jedes Wochenende getroffen“, sagt er. Dieses „Ringen um den Einzelnen“, das sei noch spürbar, es ziehe sich durch „bis zu den Schülern“. Und daran will er festhalten.
Am 16. September 2021 verschärfte die Landesregierung von Baden-Württemberg die Coronaverordnung. Seitdem galt „2G“ – ein Test reichte nicht mehr, Veranstaltungen wie etwa Theateraufführungen durfte nur noch besuchen, wer geimpft oder genesen war. Am Illerblick entschied man sich dafür, sie lieber ausfallen als ohne die Ungeimpften stattfinden zu lassen. Man muss dazu wissen, dass die Theateraufführungen zu den wichtigsten Dingen an den Waldorfschulen überhaupt gehören. „Das ist ein ganz schöner Verlust. Da haben einige ganz schön geschluckt“, sagt der Lehrer Schlecht-Nimrich.
Solange Ungeimpfte nicht zuschauen dürfen, sollte es am Illerblick kein Theater mehr geben. „Die Gemeinschaft versucht immer, alle mitzunehmen“, so sieht Zeller das. „Das erfordert eine gewisse Anstrengung, das kostet Energie.“
Dabei seien es nur „einige wenige“, die etwa mit dem Impfen Schwierigkeiten hätten, sagt Zeller, wie in anderen Schulen und Behörden auch. „Impfskeptiker“ seien dies, keine Verweigerer. Es gebe „einen Prozentsatz, der andere Gesundheitsgrundsätze zur Immunisierung und eine andere Beziehung zum eigenen Körper definiert,“ das sei rechtens, das wolle er betonen. Freiheitsrechte dürften schließlich nicht einfach so eingeschränkt werden. Alles andere führe nicht dazu, dass die Gesellschaft „gesundet“, sondern dazu, dass sie radikaler wird.
Etwa die Randale in der Stuttgarter Innenstadt im Juli 2020, als Hunderte Jugendliche unter Missachtung der Corona-Auflagen feiern und die Polizei einschreitet. Solche „Anzeichen von Radikalität“ sehe er mit Sorge, sagt Zeller. An seiner Schule wolle er so etwas vermeiden. „Der Friedenswille ist einfach da. Jede Aggression würde einfach nur stören.“ Entsprechend unruhig sei man angesichts einer möglichen Impfpflicht gewesen. Ungeimpfte hätten sich gefragt, ob sie dann noch an der Schule arbeiten dürften. „Ich bin gottfroh, dass dieser Kelch der Impfpflicht an uns vorüber gegangen ist,“ sagt Zeller.
Man habe den Willen des Einzelnen zu respektieren, Impfskepsis inklusive, solange es rechtlich erlaubt ist, so sieht er das. Gewiss, auch am Illerblick hätten viele Mitarbeiter*innen hoch betagte Eltern, auch in Pflegeheimen, und entsprechend Angst, dass diese an Corona sterben, ohne begleitet werden zu dürfen. Es gebe Kinder „die mit dem Asthmaspray in der Tasche zur Schule kommen“, wie Zeller sagt. Oder Familien mit älteren Angehörigen in häuslicher Gemeinschaft – schließlich werde „Familientradition in Waldorfgemeinschaften gut gepflegt“.
All diese hätten natürlich Sorgen, dass die Ansteckung über „Außenkontakte in den Haushalt kommen kann“, sagt Zeller. Deshalb gehe die Schule, was das Testen angehe, heute über die staatlichen Vorgaben hinaus. Und gleichzeitig besteht er darauf, dass Mitarbeiter*innen und Eltern, die „zum Thema Impfen eine kritische Meinung haben“, respektiert werden müssen. „Eine Gesellschaft muss das tolerieren und Massnahmen ergreifen, damit es bei den Betroffenen keine Gefährdung für sich selbst und keine für andere gibt.“
Und für Zellers Schule hieß das eben: Keine Theateraufführungen mehr, „weil wir nicht wollten, dass eine Minderheit ausgegrenzt ist“.
Nun ist es so, dass einer der Hauptverantwortlichen für die Theateraufführungen der Lehrer Wilfried K. ist, den die Nachbarschule an der Römerstraße entlassen hatte. Am Illerblick durfte er bleiben. „Er ist eine wichtige Persönlichkeit in der Schule und ordnet sich bei uns dem unter, was wir an Spielregeln haben,“ sagt Zeller. Soll heißen: Hier trägt er Maske oder Visier. Zeller lobt ihn: „Er lebt für die Bühne, er brennt für die Kultur und macht mit den Schüler*innen eine tolle Arbeit“, sagt Zeller. Das sei bei seiner Darstellung in der Öffentlichkeit zu kurz gekommen.
Zeller verweist auf Länder wie China, in denen „keine Meinungsfreiheit“ herrsche. An seiner Schule sei das anders. Und deshalb darf K. auch nach seiner Flugblattaktion weiter in der Abiturklasse Theater unterrichten. Die habe er so weit gebracht, dass es die Aufführung hätte geben können. „Die Pandemiebestimmungen haben das verhindert.“
So fällt der Konsens in Sachen Corona am Illerblick sehr anders aus als nebenan in der Römerstraße. „Wir haben hier auch eine Bandbreite von denen, die sich Sorgen machen und denen, die das nicht so tun“, sagt der Lehrer Schlecht-Nimrich. Doch er findet gut, dass an seiner Schule auch jene integriert werden, die denken wie K. „Bei der Römerstraße hat man in der Zeitung gesehen, was dort passiert ist. Da war das Tischtuch dann zerschnitten.“
K.s Klasse, die ihre Abitur-Theateraufführung nicht machen konnte, schrieb im Mai 2021 ihre Klausuren. Eigentlich hätten alle vorher einen Coronatest machen sollen. Wer dabei positiv war, hätte in Isolation gemusst und entsprechend nicht mitschreiben können. „Es gab die Sorge, dass dann einige mit dem Nachholtermin schwierigere Aufgaben bekommen“, sagt Schlecht-Nimrich. „Also hat die Klasse beschlossen, dass sich niemand testet.“
Alle wollten gemeinsam zur Prüfung gehen, auch wenn sie sich gegenseitig dabei anstecken. Zeller wertet das als Beleg für den Erfolg der Erziehungsarbeit. „Es ist interessant, was in den Köpfen von Abiturienten passiert, die in der Pandemie Gewissensentscheidungen treffen müssen. Der Zusammenhalt in der Klasse, den sie hier 13 Jahre mitbekommen haben, zeigt sich dann in der gezeigten, gelebten Solidarität,“ sagt Zeller. „Umgedrehte Demokratie“ – die Mehrheit habe sich „der Minderheit gebeugt, um sie mitzunehmen.“
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