Wahrnehmung der EM: Das hat mit Fußball nichts zu tun
Keine grölenden Deutschen, keine Hymnendebatten oder Klatschtexte über Trainingszoff, was ist da los? Stattdessen geht es einfach um Fußball.
I rgendetwas stimmt nicht mit diesem Land. Das habe ich mir gedacht, als ich am EM-freien Sonntag durch die Stadt gegangen bin. Nichts, aber auch gar nichts ist mir da aufgefallen. Echt jetzt: Es ist EM und kein Mensch ist schlandianisch gewandet. Was ist da los? Niemand, wirklich niemand ist mir im Trikot begegnet.
Dabei müsste man sich nun wahrlich nicht schämen, wenn man dieser Tage das DFB-Leibchen mit den zwei Sternen trägt. Das soll also eine Fußball-EM sein? Es ist ein Desaster. Und was soll eigentlich aus unserer deutschen Weltmarktfirma Adidas werden, für die der große Uwe Seeler Klinken geputzt hat, wenn ein großes Turnier stattfindet und keiner zieht sich dementsprechend an?
Dieses Turnier ist ein Wohnzimmer-Event. So viele Leute wie noch nie zuvor haben sich EM-Spiele der Deutschen live angeschaut. Aber eben zu Hause. Fast schon heimlich. Schämen sie sich etwa dafür? Warum ziehen sie nicht besoffen und grölend durch die Straßen, wenn die Deutschen gewonnen haben? Selbst am Morgen nach dem Viertelfinale der Deutschen gegen Österreich musste ich auf dem Weg zum Bäcker kein einziges Mal einer Lache aus Erbrochenem ausweichen. Hat das noch etwas mit Fußball zu tun, was da stattfindet? Überhaupt, der Bäcker! Keine Fußballbrötchen, keine Europameisterbrötchen – Europameisterinnenbrötchen schon gar nicht!
Und wo sind überhaupt die großen Debatten, die der Fußball liefert? Warum wird keine Hymnendiskussion geführt? Muss eine wie Klara Bühl, die bei der Hymne nur ab und zu einen Ton trifft, nicht zwangsläufig vorbeischießen, wenn sie alleine vor dem Tor steht? Warum diskutiert niemand die wirklich wichtigen Fragen, die dem Fußball doch erst seine gesellschaftliche Relevanz verleihen? Warum wird nicht einmal in der taz gefordert, den Hymnentext für die EM anzupassen? Und so trällern die deutschen Nationalspielerinnen weiter vom Vaterland und dass man brüderlich nach irgendwas strebt, ohne dass das auf Twitter auch nur ein laues Lüftchen auslöst. Nein, das ist doch nicht der Fußball, den wir lieben.
Kein Trainingszoff, keine Spielerinnenmänner
Und wenn sich spielfreie Tage bei einer EM schon nicht vermeiden lassen, wieso erfahren wir dann so wenig darüber, was in den Teamquartieren passiert? Den großen Zoff im Training, die Spielerin, die im T-Shirt mit dem falschen Sponsorinnenlogo zum Frühstück kommt, den Spielerinnenmann beim Shopping in der Innenstadt. Ich weiß bis jetzt nicht, wie gut Merle Frohms Tischtennis spielt. Es gibt so viele uninteressante Dinge, die einen Sommer des Fußballs erst richtig interessant machen. Warum erfahre ich davon nichts?
Stattdessen unterhalte ich mich mit einem Kollegen darüber, warum das 4-3-3 der Französinnen dem deutschen Spielansatz entgegenkommen könnte. Als würde es darum gehen bei einer EM. Also wirklich!
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