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Wahlkampf im RückblickDemos, Tiktok und der große Tabubruch

Der Wahlkampf war kurz, kalt und hart. Auch hinter dem Wahl-Team der taz liegt eine intensive Zeit. Neun Momente, die uns besonders bewegt haben.

Entsetzen über den Tabubruch: Demonstration für eine Brandmauer in Berlin Foto: Foto: Stefan Boness

Killerviren und Freiheit

Es ist einer dieser fiesen Winterabende in Berlin. Vor dem Kulturhaus Karlshorst brüllen Antifas. Im Saal müssen sich die Direktkandidaten für den Bezirk Berlin-Lichtenberg den Fragen der Bürger stellen. Der Andrang ist groß. Rein kommt nur, wer nachweisen kann, dass er Lichtenberger ist und die sechs Direktkandidaten auf dem Podium auch wählen darf. Die Fragen reichen von der Begrünung der Innenhöfe über angeblich manipulierte Killerviren bis zur recht großen Frage: Was ist Freiheit für Sie? Und auf all das müssen die Kandidaten spontan antworten. Wie toll! Als die Veranstaltung vorbei ist, steht Bea­trix von Storch am Rande der Bühne. Sie ist der Grund, warum heute die Antifa kam. Sie will der „Mauermördernachfolgepartei“ „den Stecker ziehen“, der Linken das Direktmandat abnehmen. Bei der letzten Wahl trat von Storch noch in Berlin-Mitte an. Aber am Zionskirchplatz gebe es ja nur ein halbes Dutzend AfD-Wähler, erzählt sie, und zwei davon wären sie und ihr Mann. Es ist Montagabend, zwei Tage vor dem Tabubruch im Bundestag. Noch glaubt die CDU, dass die AfD nicht für ihren asyl- und europarechtsfeindlichen Antrag stimmt, weil sie sich im Antragstext von den Rechtsextremen distanziert. Bea­trix von Storch sagt: „Die können da drei Mal reinschreiben, die AfD ist doof. Das stört uns nicht.“ Kersten Augustin

Nichtwählerin in Uniform

Sonntagnachmittag, drei Wochen vor der Bundestagswahl. Den riesigen Bundeswehrrucksack geschultert, steht Lena am Bahnhof. Uniform und Schirmmütze hat sie auch an. Die 17-Jährige ist auf dem Weg zu ihrer neuen Einsatzstelle. Welche Partei sie wählen würde, wenn sie schon wählen könnte? (Straßenumfrage unter allen, die hier irgendwie jung aussehen) „Ich bin für Gerechtigkeit“, erklärt Lena. Und ihr gefielen die Videos von dieser Frau mit dem kurzen Pony. Heidi Reichinnek? „Ja genau!“ Soldatin darf man mit 17 also schon sein, wählen aber leider noch nicht. Aber bei der nächsten Bundestagswahl bekommt die Linke ihre Stimme. Franziska Schindler

Mehr Neubürger, bitte!

Vieles in diesem Wahlkampf war vor allem eins: frustrierend. Was eh schon nicht sehr progressiv angefangen hatte, wurde mit jeder Rechtsdrehung des Diskurses noch schlimmer. Und dann, kurz vor Schluss, eine Meldung des Mediendienstes Integration: Mehr als eine halbe Million Neueingebürgerte können in diesem Jahr erstmals an einer Bundestagswahl teilnehmen. Mehr als 12 Millionen Menschen leben hier ohne deutschen Pass. Mehr als 5 Millionen davon schon seit über zehn Jahren – wählen dürfen sie nicht. Dass es sie sehr direkt betrifft, das hat dieser Wahlkampf mit all seinen Aussagen zur Begrenzung von Migration und Flucht gezeigt. Umso besser, dass der Großteil der nun eingebürgerten Menschen sind, die aus Syrien geflüchtet sind. Mit dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht (danke, Ampel!) werden die Einbürgerungen hoffentlich weiter steigen. Denn seien wir ehrlich: Eine halbe Million in dreieinhalb Jahren ist ein Anfang – aber immer noch viel zu wenig. Dinah Riese

Bitcoins? LOL

Wer das Frankfurt-Büro der ehrwürdigen Financial Times leitet, muss nüchtern auftreten. Zumindest erwarte ich das, als ich Olaf Storbeck auf LinkedIn folge. Aber Storbeck – kurze bis gar keine Haare, Hemd, Jackett – trägt schon auf seinem Profilbild ein schelmisches Grinsen im Gesicht. Tatsächlich: Nichts hat mich in diesem Wahlkampf so amüsiert wie Storbecks unbeschwert-verzweifelte Kommentare auf LinkedIn. Mehr als 20 Jahre Erfahrung als Wirtschaftsjournalist, unter anderem beteiligt an der Aufdeckung des Wire­card-Skandals – und dann kommentiert er unter eine Auflistung der Erfolge der FDP prägnant: „LOL“. Christian Lindner fordert Bitcoins in Bundesbank und Europäischer Zentralbank: „LOL“. Ein Post über die politischen und persönlichen Implikationen von Alice Weidels weißen ON-Laufschuhen: „Ich trage als Zeichen passiven Widerstands SCHWARZE Laufschuhe von ON!!“ Kürzlich hat Storbeck per Brief gewählt. „Ich bin froh, dass ich das mental abhaken kann und diesen Wahlkampf-Schwachsinn von allen Seiten nicht mehr ernst zu nehmen brauche“, schreibt er. Lieber Herr Storbeck: ich auch. Jonas Waack

AfD liefert wie bestellt

Die AfD hatte in den letzten Wochen viele Wahlkampfhelfer: Den Digital-Oligarchen Elon Musk, den Springer-Verlag, Viktor Orbán, US-Vizepräsidenten J. D. Vance und am Ende sogar unverhofft den CDU-Chef Friedrich Merz, der nach dem Messerangriff von Aschaffenburg ankündigte, rassistische Migrationsanträge auch mit Stimmen der AfD durchbringen zu wollen – obwohl er zuvor das Gegenteil behauptet hatte. Die AfD lieferte wie bestellt und war damit erstmals im Bundestag Mehrheitsbeschaffer, was zu Jubelstürmen, Applaus und Hybris bei den Rechtsextremen führte. Merz entschuldigte sich kleinlaut am Rednerpult, während die Rechtsextremen johlten, im Plenum Selfies machten und sich über die schlotternden Knie von Merz lustig machten. Der parlamentarische Geschäftsführer der AfD, Bernd Baumann, verkündete danach sinngemäß das Tausendjährige Reich: „Das bedeutet das Ende der rot-grünen Dominanz in Deutschland – für immer! Jetzt und hier beginnt eine neue Epoche und das führen wir an. Sie können folgen, Herr Merz, wenn sie noch die Kraft dazu haben!“ Gareth Joswig

Jugend am Ball

Von einer D-Day-Ablaufpyramide der FDP über einen Herrn Merz, der bei „Ein Herz für Kinder“ 100 Euro pro gewonnenem CDU-Prozentpunkt spenden möchte und einer Frau Weidel, die Elon Musk erzählt, Hitler sei ein Kommunist gewesen. Dieser Wahlkampf hat so einige Momente generiert, die einem Fiebertraum glichen. Eines muss man den Prot­ago­nis­t*in­nen jedoch lassen: Sie haben die jungen Menschen am Ball gehalten. Nicht etwa mit jungen Themen – das wäre wohl zu viel verlangt gewesen. Nein: Mit einer skurrilen Aussage nach der anderen lieferten sie sich einen spektakulären Wettbewerb um das beste Meme-Material. Mein liebster Moment des Wahlkampfs war jeder, in dem ich Instagram geöffnet habe und nicht wusste, ob ich lachen oder weinen soll angesichts der neuesten kuriosen Entwicklung. Sarah Schubert

Mitbewohner Gregor

Wenn ich dieser Tage TikTok öffne, sehe ich in 9 von 10 Fällen ihn. Den Linken-Politiker, der zum TikTok-Phänomen geworden ist, zum Star einer jungen, linken Fangemeinde und zum gefeaturten Künstler diverser Technotracks. Nein, es ist nicht Heidi Reichinnek, es ist Dr. Gregor Gysi. Egal, ob er auf Wahlkampfveranstaltungen zum Track „Verfassungsschutz“ – eine Technohommage an seine Rede zur Rolle des Verfassungsschutzes in Bezug auf den Rechtsterrorismus – tanzt oder sich mit Sturmmaske und den Worten „Hey Süßis“ an seine Community wendet – Gregor Gysi lebt mietfrei in meinen Unterhaltungsmedien und mittlerweile auch in meinem Kopf. Die Eleganz bei dieser Selbstironie, die Gelassenheit bei diesem teilweise explosiven, teilweise ungenießbaren Wahlkampf ist mindestens bemerkenswert. Annika Reiß

Gedenken und Gedanken

Am Samstag bin ich mit meinem Opa und zwei Freunden in Buchenwald gewesen. Den halben Tag in der Gedenkstätte zu verbringen, war überwältigend – gerade so kurz vor dieser entscheidenden Bundestagswahl. Zurück in Weimars Stadtzentrum, waren wir überrascht mit Carsten Schneider (SPD), Katrin Göring-Eckardt (Grüne) und Bodo Ramelow (Linke) absolutes Spitzenpersonal auf so engem Raum anzutreffen. Gerade letzterer erfreut sich in Thüringen ja einer durchaus hohen Beliebtheit. Und in der Tat, es war ein sehr angenehmes Gespräch mit ihm. Statt Kugelschreibern (SPD) und Saatgut (Grüne) gab es bei den Linken Gummibärchen. Fridolin Haagen

Großes Tennis!

Ein Bild auf Whatsapp. „Wir sind 250.000“, schreibt ein alter Freund aus München zu einem Foto von der Demo für Demokratie auf der Theresienwiese. Kurz darauf korrigiert er die Zahl nach oben auf 320.000. Ein Lichtblick im finsteren Bayern. Er ist stolz auf seine Stadt und heilfroh, dass er nicht alleine ist mit seinem Ekel vor den Rechten. Auf Social Media läuft derweil der vielleicht schönste Wettbewerb des Jahres, bei dem sich keiner ärgert, wenn ein anderer eine höhere Zahl nennt. Großes Tennis! Man addiert einfach und weiß genau, wie viel die Zahl aus Chemnitz wert ist, auch wenn sie nicht so hoch ist wie an anderen Orten: 1.000 haben sich da einer rechten Demo in den Weg gestellt. Haufenweise Zahlen werden ins Netz geworfen – und Ortsnamen, 7.000 in Kassel, Bonn und Oldenburg. 20.000 in Regensburg, 12.000 in Augsburg und mehr als 40.000 in Stuttgart. Am Ende des Wahlkampfes müssen sich Pro-Demokratie-Demonstranten von CDU-Chef Friedrich Merz dann noch beleidigen lassen als Spinner und solche, die nicht alle Tassen im Schrank haben. Sie sollten es als Kompliment nehmen. Andreas Rüttenauer

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