Wahlkampf der Linkspartei: Auferstehung ganz ohne Religion
Nicht nur bei einem Auftritt der „Silberlocken“ in Friedrichshagen zu erleben: der wundersame Boom der schon geschlagen geglaubten Linkspartei.
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Drei Wochen zurück. Die Meinungsforscher von Forsa und andere Umfrageinstitute sehen die Linkspartei allen Anstrengungen zum Trotz weiter bloß bei drei Prozent. Zwei Prozentpunkte fehlen, um es bei der Bundestagswahl am 23. Februar wieder über die Fünfprozenthürde ins Parlament zu schaffen.
Zwei Punkte? Das klingt nach wenig, bedeutet aber nichts anderes als: Die Linke muss ihren Zuspruch beinahe verdoppeln. Wie soll das gehen? Es ist ja nicht so, dass die Partei in den vorangegangenen drei Monaten untätig gewesen wäre. Das neue Hinhören und die vielen Besuche bei Wählern, die im Oktober die neue Bundesvorsitzende Ines Schwerdtner ankündigte – „Wir werden an 100.000 Haustüren gehen“ -, das hat es ja alles gegeben, umso mehr nach dem Ampel-Aus am 8. November.
Wobei die Starteuphorie schnell in der parteiinternen Antisemitismusdebatte unterzugehen drohte. Bekannte Gesichter verließen die Partei, in Berlin traten gleich drei ehemalige Senatsmitglieder aus: Klaus Lederer, Elke Breitenbach und Sebastian Scheel, dazu noch der frühere Fraktionschef Carsten Schatz. Beim Landesparteitag hatte es zuvor eine Mehrheit der Delegierten abgelehnt, Judenfeindlichkeit auch in den eigenen Reihen klar zu benennen. Die Forderung, jüdisches Leben „konsequent und unter Einsatz rechtsstaatlicher Mittel zu schützen“, fand ebenfalls keine Mehrheit.
Nur drei, maximal vier Prozent in Wahlumfragen waren es noch bis in die vierte Woche des neuen Jahres hinein. Dann aber kam der 24. Januar. Es ist der Tag, an dem CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz als Reaktion auf die Morde in Aschaffenburg Anträge zu verschärfter Migrationspolitik ankündigt – und über diese sagt: „Wir werden sie einbringen, unabhängig davon, wer ihnen zustimmt.“ Das wird als Ende der Brandmauer zur AfD aufgefasst, weil Merz in Kauf nimmt, durch AfD-Stimmen zu einer Mehrheit im Bundestag zu kommen – wozu es am Ende dann auch kommt.
„Auf die Barrikaden!“
Protest regt sich allenthalben, Massendemonstrationen formen sich – und wenige Tage später wird eine 36-Jährige, bei der die Bild später vor allem den tätowierten linken Unterarm heraushebt, durch eine emotionale Bundestagsrede sprunghaft einer breiten Öffentlichkeit bekannt: „Auf die Barrikaden!“, fordert Heidi Reichinnek, Gruppenchefin der Linkspartei-Abgeordneten. In Reaktionen auf ihre Worte wird sie quasi zur deutschen Urenkelin der Fahnen schwenken Marianne aus der Französischen Revolution.
Tags darauf steigt die Linkspartei bei Forsa auf vier Prozent, vier Tage danach ist sie bei fünf. Und an jenem Abend, als sich in Friedrichshagen die Leute am und im örtlichen Rathaus drängen, das heute ein Kulturzentrum ist, sind es schon sechs Prozent – doppelt so viel wie drei Wochen vorher. Am nächsten Morgen werden es sogar sieben Prozent sein. In Neukölln lassen die Umfragen sogar auf das erste Direktmandat für die Linke im Westen der Stadt hoffen. Begleitet wird all das von einer noch nie erlebten Eintrittswelle. Die lässt den Berliner Landesverband seit Jahresbeginn von 8.300 auf über 11.100 Mitglieder wachsen.
Die Umfragezahlen nehmen durchaus etwas Druck von den beiden Männern, deretwegen so viele gekommen sind. Im Ratssaal vor über 200 Menschen sitzen nämlich zwei jener drei älteren Herren, die seit Mitte November als „Mission Silberlocke“ zur Parteirettung unterwegs sind: Gregor Gysi, 77, der hier im Wahlkreis Treptow-Köpenick seit 2005 immer klar gewonnen hat, und Bodo Ramelow, 68, der bis kurz vor Weihnachten zehn Jahre thüringischer Ministerpräsident war. Nicht dabei an diesem Abend: Dietmar Bartsch, 66, bis Ende 2023 vorerst letzter Chef der Linksfraktion im Bundestag – seither ist die Partei dort nur noch mit einer von Reichinnek geführten Gruppe vertreten.
Diese drei, zusammen 211 Jahre alt, wollten eigentlich mit ihrer Mission die Linke im Parlament halten: Bei drei gewonnenen Direktmandaten gilt nämlich die Fünfprozenthürde nicht. Auf diesem Weg blieb die Linkspartei schon 2021 im Bundestag, als sie nur auf 4,9 Prozent kam. Dass Ramelow seinen Wahlkreis Erfurt/Weimar gewinnen könnte, galt nicht als ganz abwegig. Aber Bartsch in Rostock, wo die Linkspartei bei der Europawahl im Juni nur auf Platz fünf landete? Da schien der PR-Aspekt einer Drei-ältere-Männer-Mission durchaus im Vordergrund zu stehen.
Gemeindeschwester Agnes?
Dass die Rettung der Partei nun nicht mehr allein an den beiden vorne im Ratssaal zu hängen scheint, hat das Interesse an ihrem Auftritt sichtlich nicht gemindert. Gysi und Ramelow streifen große Themen wie Umverteilung und die Krankenhausreform, streicheln die ostdeutsche Seele, wünschen sich Poliklinken zurück – und Gemeindeschwester Agnes. „Die Jüngeren werden gar nicht wissen, wovon ich rede“, sagt Ramelow über dieses in der DDR übliche Versorgungsmodell, zu dem es eine bekannte gleichnamige Fernsehserie gab, „Westdeutsche auch nicht“.
Fast zum Ende geht es im Saal bei dieser aus der Dreiprozentniederung auferstandenen und vermeintlich religionsfernen Partei plötzlich auch um das Christentum. „Jesus würde links wählen“, sagt der gläubige Protestant Ramelow. Gysi, nach eigenen Worten nicht religiös, behauptet das seit Jahren – und beide haben immerhin schon Jesu Stellvertreter auf Erden persönlich getroffen, den Papst Franziskus. Die Auferstehung ihrer Partei kommt ohnehin wie ein Wunder daher, wenn auch kein biblisches.
Hinweis: In einer früheren Version war der Müggelsee inkorrekterweise im Südwesten statt im Südosten Berlins eingeordnet
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