Wahlen in der Türkei: Resignation nach Erdoğan-Triumph
Viele Türken haben den Sieg des Herausforderers Muharrem İnce für möglich gehalten. Doch der hat nun das Wahlergebnis akzeptiert.
Auch die Menschen scheinen diese Wahl am liebsten zu verdrängen, jedenfalls die, die auf den Sieg der Opposition gehofft haben. Jetzt ist die Enttäuschung riesig. Im Café des Barış-Manço-Kulturzentrums sitzt ein junger Mann, dem anzusehen ist, dass es ihm nicht gut geht. „Ja“ sagt er, „ich hatte auf die Opposition gehofft.“ Meint er, dass die Opposition bei dem knappen Wahlsieg Erdoğans betrogen wurde, rechnet er mit Protesten? „Wissen Sie“, sagt er, „es wird keine Proteste mehr geben. Wir sind so oft vor die Wand gelaufen, jetzt haben wir keine Lust mehr“.
Es herrscht Katerstimmung unter den Anhängern des unterlegenen Kandidaten der Opposition, Muharrem İnce. Noch vor wenigen Tagen hatten Großveranstaltungen mit einem Millionenpublikum in Izmir und Istanbul die Erwartung geweckt, dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan dieses Mal nicht so einfach durchkommen würde, dass er wenigstens in eine Stichwahl muss. Als dann am Abend die ersten Ergebnisse mit einem geradezu unglaublichen Vorsprung von Erdoğan bekannt gegeben wurden, machten sich die Leute noch gegenseitig Mut mit dem Hinweis, das sei ja nur eine Manipulation der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu Ajansı. Die wirklichen Ergebnisse kommen erst noch, hieß es in den Wahllokalen in Kuzguncuk und Beylerbey, beides Hochburgen der CHP.
Doch als es immer später wurde und auch die „Wahlplattform für faire Wahlen“, die im Auftrag der Opposition die Auszählung in allen Wahllokalen landesweit nachprüfte, gegen Mitternacht bestätigte, dass Erdoğan wohl tatsächlich bereits im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der Stimmen geholt hat, warteten die Leute vergeblich darauf, dass ihr „Held“, der fulminante Wahlkämpfer Muharrem İnce zu ihnen spricht. Doch İnce und die übrige CHP-Führung waren sich offenbar unsicher, ob sie nun gegen das Ergebnis formal Protest einlegen sollten oder lieber noch abwarten, bis das offizielle Endergebnis am Montagvormittag vorliegen würde. İnce entschied sich für das Abwarten und stieß damit viele Anhänger vor den Kopf.
„Bindung zur Demokratie gekappt“
Am Montagmittag begründete er dann sein Verhalten mit der großen Stimmendifferenz zwischen ihm und Erdoğan. „Die Differenz ist so groß, dass wir den Wahlsieg von Herrn Erdoğan anerkennen“, sagte er auf einer Pressekonferenz im Hauptquartier der CHP in Ankara. „Haben sie Stimmen gestohlen“, fragte er rhetorisch. „Ja bestimmt, aber nicht zehn Millionen“, so groß ist die Differenz zwischen İnce und Erdoğan. Die Wahl, bekräftigte İnce noch einmal, war von Beginn ihrer Ankündigung an bis zu ihrer Durchführung eine unfaire Wahl. „Das Land geht nun in eine Herrschaft eines Mannes über. Die Türkei hat ihre Bindung zur Demokratie gekappt.“ Doch İnce will trotzdem nicht aufgeben und weiter für die Rückkehr zur Demokratie und Rechtsstaatlichkeit kämpfen.
Auch für die neu gegründete und mit vielen Hoffnungen gestartete İyi Parti (Gute Partei) und ihrer Kandidatin Meral Akşener war die Wahl eine große Enttäuschung. Statt wie erhofft 20 holte die Partei gerade einmal 10 Prozent und die Präsidentschaftskandidatin Akşener landete mit 7,3 Prozent auf dem vierten Platz noch hinter Selahattin Demirtaş von der prokurdischen HDP, die vor allem in den Kurdengebieten im Osten des Landes Stimmen holte.
Mustafa, Bäcker
Demirtaş und die HDP dürfen sich dagegen zumindest als kleine Sieger fühlen. Die Partei kam dank zahlreicher Leihstimmen aus der Umgebung der CHP auf 11,6 Prozent und Demirtaş persönlich aus dem Knast heraus auf 8,3 Prozent. Damit ist die HDP erneut mit über 60 Abgeordneten im Parlament vertreten, doch die damit verbundene Hoffnung, dass die AKP ihre absolute Mehrheit verlieren würde, hat sich nur teilweise erfüllt. Zwar hat die AKP nur noch gut 42 Prozent erreicht, doch die mit ihr verbündete rechtsnationalistische MHP holte 11,2 Prozent und sicherte somit dem Wahlbündnis von AKP und MHP erneut die absolute Mehrheit.
Für die meisten Menschen in Kadiköy wird es schwer, mit diesem endgültigen Durchmarsch von Erdoğan fertig zu werden. Nicht nur mental, sondern auch ganz praktisch. „Ich hatte so große Hoffnungen dieses Mal, doch dieses Volk hat wieder Erdoğan gewählt“, sagt Mustafa, der beste Bäcker im Bosporus-Vorort Kuzguncuk. „Ich glaube, ich kann mit diesen Menschen nicht mehr zusammenleben.“ „Wohin“, fragt er, „soll ich mein Kind jetzt zur Schule schicken. Es gibt ja bald nur noch diese religiösen İmam-Hatip-Schulen“.
Trotz dieser Enttäuschung muss Erdoğan erst einmal nicht mit großen Protesten rechnen. Die Oppositionsparteien sind demoralisiert, und auch in den sozialen Netzwerken erheben sich keine Stimmen, die zum Widerstand aufrufen. Auf dem Bullenplatz in Kadiköy, dem Ort, wo die Opposition sich zu Protestmärschen zu versammeln pflegt, steht nur ein einsamer Fahnenverkäufer. Die Parteiflaggen hat er bereits aussortiert, es gibt nur noch die Türkeifahne und die Flagge des Fußballvereins Fenerbahçe. „Egal wer regiert“, sagt er, „Türkei und Sport geht immer.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Umgang mit nervigen Bannern
Bundesrat billigt neue Regeln für Cookies