Wahlen in den Niederlanden: Der Steuermann-Effekt
Bereits ab Montag wählen die Menschen in den Niederlanden ein neues Parlament. Premier Rutte gilt wegen des Krisenmanagements als Favorit.
Bei der wichtigsten Frage jedoch bleibt voraussichtlich alles beim Alten: Seit Monaten bescheinigen sämtliche Umfragen der liberalen Partei des Ministerpräsident Mark Rutte Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) einen derart klaren Vorsprung, dass alles andere als ein Wahlsieg überraschend wäre. Sie verfügt derzeit über 32 Parlamentssitze und führt eine Vierparteienkoalition an, zu der die konservativen Parteien CDA und Christliche Union sowie die Mitte-links-Partei D66 gehören.
Laut dem Umfrageportal peilingwijzer.nl kann die seit 2010 regierende VVD mit 38 der 150 Sitze rechnen. Die rechtspopulistische Freiheitspartei (PVV) und die CDA liegen demnach bei 19 beziehungsweise 17 Sitzen, die Christliche Union bekäme 6, D66 15 Sitze. Generell tummeln sich die linken Parteien zwischen zehn und 15.
Ruft man sich die Bilder vom Jahresbeginn vor Augen, verwundern diese Zahlen. Mehrfach eskalierten Proteste gegen die Coronamaßnahmen der Regierung, insbesondere nachdem Ende Januar eine nächtliche Ausgangssperre in Kraft trat. Ein Krankenhaus wurde mit Steinen beworfen, eine Coronateststraße ging in Flammen auf. Von der amorphen Verbindung aus Identitären, Fans des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, Esoterikern und Verschwörungsgläubigen sprang der Funke der Gewalt auf Jugendliche über. Sogar noch am Sonntag kam es bei einer Protestaktion gegen die Corona-Maßnahmen in Den Haag zu Ausschreitungen. Demonstranten griffen die Polizei nach eigenen Angaben mit Feuerwerkskörpern an.
Rutte ist nicht beliebt – doch anerkannt als Krisenmanager
Arithmetisch ist der vermeintliche Gegensatz zu den Umfragen schnell erklärt: Der Vorsprung der VVD auf die anderen Parteien ist seit Mitte 2019 derart groß, dass selbst eine zunehmend rabiate Protestbewegung bislang wenig ins Gewicht fällt – zumal sie sich ohnehin nicht aus Kreisen speist, in denen die VVD hoch im Kurs steht. Sie ist als strikt marktliberale Partei der Unternehmer und Besserverdiener bekannt.
Zumal im Frühjahr 2020 die Zustimmungswerte in die Höhe schossen, als Rutte während des ersten Lockdowns seine regelmäßigen Ansprachen an die merklich verunsicherte und besorgte Bevölkerung begann. Inzwischen sind die Zustimmungswerte leicht gesunken, doch der Abstand zum Rest des Spektrums ist noch immer erheblich.
Hauptursache dafür ist zum einen Ruttes längst etablierte Rolle als Krisenmanager. Genau wie seine Partei ist auch der Premier an sich nicht sonderlich beliebt im Land, wohl aber anerkannt als Steuermann durch schwere See. In einem Wahlkampf, in dem die Pandemie alle anderen Themen in den Schatten stellt, zahlt sich diese Qualität doppelt aus. Eine Umfrage der Tageszeitung Volkskrant bestätigt diese Tendenz: „Die Wähler setzen auf Sicherheit, nicht auf Inhalt“, bilanziert sie. Einer der Forscher erläutert: „Die Coronakrise liegt wie eine Decke über allen anderen Themen.“
Der Mainstream ist „Mitte-rechts“
Daneben spiegeln die Umfragen durchaus die politische Kultur des Landes wider, in dem der Mainstream liberal-bürgerlich, marktfreundlich und „Mitte-rechts“ ist – wie die letzte Koalition, aus VVD, Christdemokraten, den liberalen Democraten66 (D66) und der calvinistischen ChristenUnie (CU). Der gemeinsame Anteil der drei linken Parteien – die sozialdemokratische Arbeitspartei (PvdA), GroenLinks und Socialistische Partij (SP) – ist dagegen in vier Parlamentswahlen seit 2006 von 65 auf 37 der 150 Sitze gesunken.
Bemerkenswert ist dabei, dass diese Konstellation offenbar auch bestehen bleibt, wenn sich Inhalte verschieben. So wollen die Christdemokraten die starke Marktorientierung im Gesundheitssektor begrenzen. Die künftigen Kosten der Coronakrise werden in diesem Wahlkampf noch nicht thematisiert, stattdessen stehen Investitionen im Vordergrund. Selbst die VVD, die gerne eine „Beteiligungsgesellschaft“ und Eigeninitiative propagiert, verspricht „einen starken Staat, der manchmal in die Wirtschaft eingreift“.
Diese Kräfteverhältnisse bedeuten im Umkehrschluss freilich nicht, dass die Zeit der Proteste vorbei ist. Wer sich die Abfolge der letzten Wahlen und ihrer Wahlkämpfe anschaut, gelangt zur Feststellung: auf eine Zeit der Konsolidierung folgt mit Sicherheit eine der aufgeheizten Konflikte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung